Eine Frau, mit der ich ab und zu per Mail politische Infos und Statements austausche, hat vor längerem verzweifelt geklagt, sie habe immer die Grünen gewählt, aber nie das gewollt, was die nun in der Ampel-Koalition anstellten. Unter anderem erschreckte sie die Kriegstreiberei im Ukraine-Konflikt. Weit mehr grüne Wähler dürften aber schwer enttäuscht gewesen sein, dass ihre Partei innerhalb der Koalition nicht einmal das Tempo-Limit durchsetzen konnte, eine Maßnahme, die rasch umsetzbar wäre, kaum etwas kosten würde und einiges an THG-Emissionen einsparen würde. Genau so viele waren geschockt, als die Grünen in der Ampel-Koalition die verschärfte Flüchtungsabwehr mittrugen (SZ v. 26.09.23). Und mit welchem Mandat konnten die Regierungsparteien das Rüstungspaket von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr verabschieden? Man weiß nicht, was die fast 1,5 Millionen Stimmberechtigten im Oktober 23 bei der Landtagswahl in Hessen bewogen hat, auf die Stimmabgabe zu verzichten und warum etwa 50.000 ihren Stimmzettel ungültig machten (jW v. 10.10.23). Aber wen wundert solcher Wählerschwund? Wahlenthaltung wird verständlich, wenn man einen Blick auf die „postdemokratischen Verhältnisse“ (Crouch 2008) wirft.
Als politischer Akt zählt Wahlboykott für mich nur, wenn er von einer Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern öffentlich gemacht und begründet wird, um damit ein Signal an die Adresse des politischen Establishments zu senden. Alles Andere ist nur Eskapismus, Verzicht auf politisches Handeln. Gesunkene Wahlbeteiligung signalisiert zwar den Parteien auch, dass sich viele Bürger und Bürgerinnen von dieser Art politischer Partizipation nichts mehr versprechen. Da aber die Motive unklar bleiben, geht man nach kurzer Irritation zur Tagesordnung über. Ein erklärter Wahlboykott lässt sich rechtfertigen, wenn keine der Parteien, die sich zur Wahl stellen, mehr Alternativen zum Status quo anbietet, und zwar Alternativen, die eine Beschränkung wirtschaftlicher Macht durch mehr staatliche Regulierung zugunsten der Gemeinwohls und wieder gestärkter Bürgerrechte versprechen. Eine solche Situation ist gegenwärtig in der Bundesrepublik und, soweit ich sehe, in ganz Europa gegeben. Allein schon die unzureichende demokratische Kontrolle der EU-Kommission lässt auf ein europaweites Demokratiedefizit schließen.
In Deutschland ist die Situation heute dadurch gekennzeichnet, dass Parteiprogramme zur Makulatur werden, sobald Parteien „Regierungsverantwortung“ übernehmen, oft auch schon, sobald sie Regierungsbeteiligung anstreben. Schon immer waren Parteien in der Bundesrepublik zur Koalition mit anderen Parteien genötigt, um eine Regierung zustande zu bringen. Aber in der Vergangenheit war die Koalitionsbildung mit Rücksicht auf die eigene Programmatik eingeschränkt, so dass das unvermeidliche Zugeständnis von Kompromissen in der Regel zumindest zentrale politische Ziele nicht beeinträchtigte. Die bürgerlichen Parteien CDU und FDP standen sich ohnehin nahe. Bei der Koalition zwischen SPD und FDP unter dem Kanzler Willy Brandt musste die Sozialdemokratie keine Abstriche bei ihrer Sozial- und Bildungspolitik machen. Außenpolitisch war man sich über die Entspannungspolitik einig. Große Differenzen beeinträchtigten auch die Arbeit der rot-grünen Koalition unter Kanzler Gerhard Schröder nicht. Aber sie enttäuschte viele ihrer Wähler, weil die vorherige Opposition gegen die Kohl-Regierungen falsche Erwartungen geweckt hatte. Viele hatten eine Abkehr von den neoliberalen Politikansätzen der CDU-FDP-Kabinette unter Kohl erwartet. Statt dessen schlug die rot-grüne Regierung entschieden einen solchen Kurs ein. Die Agenda 2010 muss für viele Sozialdemokraten eine böse Überraschung gewesen sein. Die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) war eine Reaktion darauf. Im Übrigen ließ sich die Regierung Schröder-Fischer in puncto transatlantischer Bindung an die USA nicht überbieten.
Dies verdeutlicht eine erste Beschränkung deutscher Außenpolitik seit Bestehen der Bundesrepublik: die Bindung an die USA. Nicht nur unterstützte jede Bundesregierung vorbehaltlos die Interventionspolitik der USA im Nahen Osten, in Südostasien, Afrika und Lateinamerika. Auch bei der Politik gegenüber der Sowjetunion und später gegenüber der Russischen Föderation, wo eine Kooperation interessante wirtschaftliche Perspektiven bot, legte man sich Zurückhaltung auf. Denn diese Beziehung wurde „von drüben“ seit je her mit Misstrauen verfolgt. Der US-Geostratege George Friedman bestätigte dies 2015 in einem Vortrag. Es sei „die Urangst“ der Vereinigten Staaten, dass sich „deutsche Technologie, deutsches Kapital“ mit „russischen Rohstoffen, russischer Arbeitskraft“ verbinde (Kronauer 2018, 116). Schon bald nach 1945, gründete man in den USA, um dem Werben der sowjetischen Führung um eine geeintes Nachkriegsdeutschland den Boden zu entziehen, zwei Nichtregierungsorganisationen, mit denen die Bindung der westdeutschen Eliten an die USA gestärkt werden sollte. Das waren die Atlantik-Brücke e.V. und das American Council on Germany, beide 1952 gegründet. 1991 konnte man in den USA kein Interesse daran haben, dass Gorbatschows Vision von einem „gemeinsamen europäischen Haus“ Wirklichkeit würde. Denn das hätte eine Schwächung der transatlantischen Beziehungen zur Folge gehabt. Zur Zeit übertrifft die Ampel-Koalition alle Vorgängerregierungen an Vasallentreue gegenüber der US-Administration.
Die Agenda 2010 verdeutlicht eine zweite Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten nicht nur bundesdeutscher Regierungen, bedingt durch die wirtschaftliche Globalisierung unter neoliberalem Vorzeichen. Schon im Wahlprogramm ihrer Partei von 1998 hätten sozialdemokratische Wähler lesen können, was zu erwarten ist. Da stand: „In einer Welt des Wandels kann nicht alles bleiben, wie es ist. Veränderungen sind notwendig – in der Arbeitswelt, bei der Gestaltung der sozialen Sicherung, beim Verhältnis von Staat und Gesellschaft“ (Wahlprogramm, S.6). An späterer Stelle wurden die Verfasser unter der Überschrift „Arbeit statt Sozialhilfe“ deutlicher (S.21). Die Parteiführung hatte die Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung und der Deregulierung der Märkte vor Augen, wo Multis die Standortvorteile verschiedener Länder nutzen können. Möglicherweise dachte sie auch an die in den 1990er Jahren in Aussicht genommene EU-Erweiterung um die osteuropäischen Staaten, die die Optionen des Kapitals noch erweitern sollte. Der neoliberale Glaube an den Segen des Marktes tat sein Übriges. „Wir setzen auf die Kräfte des Marktes“, verkündete die SPD damals (S.6). Die Agenda 2010 hat das Wachstum des Niedriglohnsektors gefördert, indirekt die schon durch Off-shoring und Abwanderung von Unternehmen gebeutelten Gewerkschaften zusätzlich geschwächt und damit einen Teufelskreis in Gang gesetzt. – Schwache Gewerkschaften – noch mehr Macht des Kapitals.
Die kapitalistische Globalisierung setzt die Regierungen unter Druck und macht die Politik im jeweiligen nationalen Rahmen beinahe alternativlos. Denn die Unternehmen können zur Kosteneinsparung aus einem weltweiten Angebot wählen – möglichst niedrige Löhne, niedrige Sozialstandards und Steuern, sofern das benötigte Qualifikationsniveau vorhanden und die Infrastruktur ausreichend ist. Die moderne Kommunikationstechnologie und der internationale Finanzmarkt haben das Off-Shoring, die Auslagerung von Betrieben ins Ausland, erleichtert. Und die Welthandelsorganisation gibt dem Kapital die gewünschte Sicherheit. Das bedingt in den Ländern des Zentrums einen Wettbewerb um niedrige Lohnkosten, Umweltstandards und Steuern, auch einen „Unterbietungswettbewerb“ im Arbeitsrecht und bei öffentlichen Leistungen. Je mehr Wahlmöglichkeiten die Unternehmen haben, desto weniger hat sie der Staat bei seiner Sozial- und Arbeitsmarktpolitik (Auernheimer 2019).
Die Europäische Union, die dem Unterbietungswettbewerb hätte Grenzen setzen können, weil die relativ hoch qualifizierte gesellschaftliche Gesamtarbeitskraft und eine ausgebaute Infrastruktur attraktiv genug waren, hat stattdessen den Wettbewerb ins Innere der Union verlagert. Sie hat den „freien Wettbewerb“ zum konstitutiven Merkmal der Union erhoben und damit die Macht der Konzerne gegenüber den nationalen Regierungen gestärkt und die Gegenmacht der Gewerkschaften geschwächt. Dazu dienten zum Beispiel die EU-Dienstleistungsrichtlinie, die Dezentralisierung von Tarifverhandlungen und die Liberalisierung des Kündigungsschutzes (dazu Rüb/Müller 2013). Parteien können dem Wähler vor der Wahl alles Mögliche versichern. Aber sie können es oft nicht einlösen, weil EU-Richtlinien dem entgegenstehen. Das EU-Parlament bietet ihnen nur beschränkte Einflussmöglichkeiten, da es entgegen demokratischen Verfassungsprinzipien als Legislative kein Initiativrecht hat. Die demokratische Kontrolle der Politik der EU-Kommission, die dem Normalbürger weitgehend entgeht, ist unzureichend. Wer weiß schon von der „Kapitalmarktunion“, die seit 2015 die Deregulierung des Finanzmarkts vorantreibt und damit die Spekulation begünstigt (Lemaire/Plihon 20216)? Dass die EU entgegen der Gründungsakte mit der „Europäischen Globalstrategie“ auch zur Militärmacht werden will, kann dem Wähler angesichts der Vorgaben der NATO schon egal sein. Auf beides hat er keinen Einfluss.
Die Verlagerung von politischen Entscheidungen auf die supranationale Ebene begünstigt nach Markus Wissen (2011) machtvolle Interessen. 80 Prozent der Entscheidungen des Deutschen Bundestags beruhten schon um 2008 auf Entscheidungen der EU-Kommission oder wurden davon beeinflusst (Klein 2008, 203). Dabei ist die Politik auf EU-Ebene unter anderem wegen der Intransparenz der Entscheidungsprozesse mehr als auf nationaler Ebene anfällig für Lobbyismus. „Die EU ist aufgrund der politischen Relevanz und ihrer hoheitlichen Rechte zu einer Hochburg für Lobbyisten geworden“ (Frantz/Martens 2006, 109).1 Zum Einfluss der Lobbygruppen, zum Beispiel der Chemie- und Agrarkonzerne, kommt das Netzwerk von unternehmensnahen Thinktanks und Organisationen wie der Trilateralen Kommission.2 Es kann zum Beispiel nicht verwundern, dass das EU-Parlament jüngst wieder grünes Licht für Glyphosat und Gentechnik gegeben hat, obwohl dies offenbar nicht nur dem Urteil vieler Agrarexperten, sondern auch dem Mehrheitswillen widerspricht.
Die Entmachtung der Bürgerinnen und Bürger, die mit der Verlagerung von Entscheidungen auf die supranationale Ebene vor sich gegangen ist, wird im nationalen Rahmen verstärkt durch die Privatisierung von Infrastruktur und öffentlichen Diensten (Auernheimer 2021), die übrigens auch ein Ergebnis der EU-Politik ist (Crouch 2015, 116). Mit der Privatisierung hat der Staat „öffentliche Güter wie Gesundheit, Wohnen, Sicherheit, Bildung und Kultur in Handelsgüter verwandelt und deren Nutzer in Kunden“, empörte sich Pierre Bourdieu schon 1999 (27). Er sah darin damals ein „amerikanisches Modell“. Inzwischen ist dieser Prozess viel weiter fortgeschritten. Private Dienste bestimmen unseren Alltag. Das Problem dabei ist: Als Bürger konnte ich Einfluss nehmen auf die gesundheitliche Versorgung, die Energieversorgung oder die Müllentsorgung in der Region. Als Kunde kann ich das nur teilweise. Colin Crouch meint sogar: „Zwischen den Menschen und dem Dienstleister gibt es keinerlei Verbindung – weder durch den Markt noch durch ihren Status als Staatsbürger“ (2015, 129). Für privatisierte Dienstleister mit Monopolmacht wie Post und Bahn gilt das jedenfalls.
Die Privatisierung kommunaler Krankenhäuser, Altersheime, Wohnbaugesellschaften und Verkehrsmittel hat auch den Spielraum kommunaler Politik eingeengt. Aber vor allem aufgrund der Armut der öffentlichen Hand sind manche Kommunen inzwischen fast handlungsunfähig. Die durch die so genannte Schuldenbremse verschärfte Haushaltskrise hat vermutlich alle Kommunen in Schockstarre versetzt.
Weiter entwertet wird die Stimmabgabe durch die Transformation der Parteien. Demokratie ist heute nach dem Marktmodell gestaltet. Der Bürger kann aus einer Palette von mehr oder weniger klaren Angeboten und politischen Versprechen auswählen, findet aber am Schluss meist nichts mehr von dem vor, was ihm angekündigt worden war. Parteien haben in der bürgerlichen Demokratie einen mehrmaligen Wandel durchgemacht. Am Anfang standen Wahlvereine von Honoratioren, die sich über ihre Presseorgane und in Clubs über ihre Interessen verständigten. In der Regel standen die Vertreter von Industrie und Handel den Agrariern gegenüber. In Preußen nutzten die Katholiken die neue Organisationsform zur Verteidigung ihrer Institutionen.
Die anfangs revolutionäre, kämpferische Arbeiterbewegung brachte eine neue Parteiform hervor; denn der Kampf erforderte eine straffe Organisation und Disziplin. Neu war auch das dazu gehörige Umfeld von Arbeitersport- und Arbeiterkulturvereinen, die Arbeiterwohlfahrt nicht zu vergessen. Diese proletarische Kultur bildete die Basis und sicherte die Kontrolle der Parteiführung. Nachdem die Spaltung der Arbeiterbewegung nach dem ersten Weltkrieg schon eine gewisse Entfremdung zwischen Führung und Basis mit sich gebracht hatte, wurde die SPD in der Bundesrepublik zur staatstragenden Partei, für die die Westbindung der BRD oberstes Gebot war, was die Handlungsmöglichkeiten einschränkte. Die Regierung Brandt ging relativ kreativ damit um. Aber zur selben Zeit schwand mit der Deindustrialisierung bzw. dem Abbau der Altindustrie das proletarische Milieu. Auch die CDU verlor langsam ihr tragendes Milieu, etwas rascher als die CSU. Der Soziologe Ulrich Beck (1986) registrierte das „Wegschmelzen sozial-moralischer Milieus“ in den 1980er Jahren. Einige Zeit hatten die Wählerinnen und Wähler nun die Wahl zwischen zwei „Volksparteien“, die sich immerhin in ihrer Sozialpolitik und zeitweise in der Ostpolitik noch unterschieden.
Da tauchten die Grünen als Umweltpartei auf, die, aus der Umwelt- und Friedensbewegung hervorgegangen, zwar auch primär ein bestimmtes Milieu ansprechen, nämlich die urbane Mittelschicht jüngeren Alters mit höherer Schulbildung, die aber auch quer zur sozialen Klassenlage Mitglieder und Wähler gewinnen konnten. Basisdemokratie war anfangs groß geschrieben, das hinderte aber die an der Spitze nie daran, überraschende Entscheidungen zu treffen. Eigenmächtigkeiten wurden durch die lockere Organisationsform begünstigt, auch übereilte Reaktionen auf Empfindlichkeiten einer der sozialen Bewegungen. Anfangs gab es eine Art Osmose zwischen der Partei und den sozialen Bewegungen. Inszenierungen, zum Beispiel provokanter Dresscode im Bundestag, wurden mit den Grünen zu einem Instrument politischen Marketings.
Der neue Parteityp bleibt nicht ohne Einfluss auf die anderen Parteien. Alle „räumen von nun an der zentralen Organisation und ihrem öffentlichen Arm stärker Vorrang ein und schneiden sie ganz auf die Bedürfnisse der Wähleransprache zu“ (Decker 2022). Die Parteienforscher*innen versuchen mit verschiedenen Begriffen die neue politische Realität einzufangen (ebd.). „Professionelle Wählerpartei“, noch deutlicher „Partei der Berufspolitiker“, verweist darauf, dass für viele im Parteiapparat Politik zum Beruf geworden ist. Manche haben gar keinen anderen Beruf. Bis zum Wechsel in die Wirtschaft kennen sie nichts Anderes mehr. „Medienkommunikationspartei“ hebt auf die existentielle Bedeutung der Medien, auch der Sozialen Medien für politischen Erfolg ab. Außenministerin Baerbock hat 2022 gut 136.550 Euro für Pudern, Schminken und Stylen ausgegeben und ebenfalls auf Staatskosten eine Stylistin fest beschäftigt. Außerdem war im Haushalt des Auswärtigen Amts ein Betrag von rund 178.765 Euro für Fotografen ausgewiesen.
Das politische Profil der Parteien ist unscharf geworden. Schon vor zwanzig Jahren meinte der Brite Colin Crouch: Parallel zur Manipulation der öffentlichen Meinung „werden die Parteiprogramme (wird die Rivalität zwischen den Parteien selbst) inhaltlich immer farbloser und oberflächlicher (2016, 32). Parteiprogramme sind inzwischen von sekundärer Bedeutung, nach der Wahl meist Makulatur. Wahlplakate verdeutlichen die politische Profillosigkeit. Beispiele: „Heute lernen, was morgen zählt. Deutschland gemeinsam machen“ (CDU-Wahlplakat 2021). „Gemeinsam für ein modernes Deutschland“ (mit Porträt von Armin Laschet, CDU 2021). „Kompetenz für Deutschland – Olaf Scholz“ (SPD 2021), „Alt raus, grün rein!“ (Bündnis 90/Die Grünen). Nicht viel besser die Linke in Hessen: „Sozial gerecht. Ohne Wenn und Aber. Janine Wissler“. Die Profillosigkeit geht mit dem Mitgliederschwund einher oder umgekehrt. Die SPD hatte 1990 rund 945.000 Mitglieder. 2023 waren nur noch etwas mehr als ein Drittel übrig. Die CDU schrumpfte ebenfalls, hatte aber 2023 noch 372.000 Mitglieder.
Aufschlussreich ist, dass der Soziologe Steffen Mau, der zusammen mit zwei Kollegen eine Studie über die Zunahme von „Affektpolitik“ veröffentlicht hat, jenen beunruhigenden Trend damit erklärt, dass „es eine entideologisierte, also nicht mehr parteipolitisch verlässlich gebundene Mitte gibt. Die Leute wechseln heute bedenkenlos… hin und her.“3 Mau verzeichnet eine Unsicherheit der Parteien, „wie sie sich programmatisch aufstellen sollen.“
Das Nomadentum des Wahlvolks hat die Parteien zu Marketingstrategien und zur Anbiederung an aktuelle Trends verleitet. Manche Politiker würden, so Mau, ein Thema zuspitzen, indem sie ein „Unbehagen“ in der Gesellschaft aufgreifen, was dann für Polarisierung sorgt. Die Parteien imitieren Methoden des Marketing und des Showbusiness (Crouch 2015, 32). Wichtig geworden ist nach Crouch „die perfekte Präsentation“ (130). Die Politikerinnen und Politiker sind gezwungen, „sich permanent zu ‚verkaufen‘ und sie setzen dabei immer stärker auf die Instrumente der Marketingpolitik (des branding) und der marktgerechten Aufbereitung (des packaging)“ (ebd.). Das Packaging lässt das Produkt glänzen und spricht Sehnsüchte an, in der Politik zum Beispiel die nach Freiheit und Gerechtigkeit. Für Crouch ist die Parteipolitik noch nicht ganz von der Warenästhetik (Haug 1979) beherrscht. Er spricht im Potentialis: „In einer Welt die vollkommen von der Inszenierung und vom Marketing dominiert würde“, wären Gesundheit und Bildung nur noch ein leeres Versprechen (131).
Der Niedergang der einstigen „Volksparteien“, die identitätspolitisch bedeutungslos geworden sind, wird begleitet von einer geradezu inflationären Angebotsvielfalt, die dem Wähler die Auswahl nicht leichter macht. Neue Parteien wie dieBasis, Die Partei oder Volt schaffen die Fünf-Prozent-Hürde höchstens bei Kommunalwahlen. Ihre einzige Funktion könnte darin bestehen, dass sie Protestwählern eine Alternative zur AfD bieten. Parteien wie die Tierschutzpartei oder die V-Partei sprechen als Ein-Punkt-Partei spezielle kleine Interessengruppen, letztere Vegetarier und Veganer, an. Bei der Bayerischen Landtagswahl im Oktober 2023 sollten sich die Wählerinnen und Wähler zwischen 15 Parteien entscheiden, darunter auch der AfD, den Freien Wählern und der Bayernpartei, die alle drei auf je unterschiedliche Weise auch ehemalige Wähler der CSU angesprochen haben dürften.
Dass die Wahlwerbung nur noch schwer von der Werbung für Autos, Kosmetika oder Waschmittel zu unterscheiden ist, liegt vermutlich daran, dass sie wie vieles vom politischen Geschäft in der Regel ausgelagert, d. h. einer Werbefirma überantwortet wird. Verständlich, dass die Parteien, soweit sie finanzkräftig genug sind, Werbeagenturen die Wahlwerbung übertragen. Aber dabei scheinen sie kaum noch auf die Inhalte Einfluss zu nehmen. Die Praxis des Outsourcing haben Parteien und Regierungen von der Wirtschaft übernommen. Eine Folge ist das Beraterunwesen. Das politische Problem besteht, abgesehen von der Verschwendung von Steuergeldern, zunächst einmal darin, dass erstens Lobbygruppen damit ein Schlupfloch geöffnet wird. Generell ist aber die Frage, ob die Expertinnen und Experten jeweils den programmatischen Rahmen berücksichtigen, der ursprünglich gesetzt war. Häufig wird angebliche wirtschaftliche Rationalität zum entscheidenden Kriterium.
Boulevard-Zeitungen und vor allem Talk-Shows setzen die Themen und haben das Gefühlsmanagement im öffentlichen Raum übernommen. Sie bestimmen vielfach den politischen Diskurs. Politiker und Parteigremien passen sich ihm an. Impulse von der Parteibasis, soweit es sie noch gibt, haben keinen Einfluss auf die Agenda.
Die Doppelrolle, die viele Parlamentarier als Aufsichtsratsmitglied oder in ähnlichen Positionen einnehmen, lässt das Vertrauen in die Demokratie noch mehr schwinden. Ein aktuelles Beispiel liefert die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann,Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag mit Sitz bei den wichtigsten Lobbyverbänden der Rüstungsindustrie,4 die permanent Aufrüstung und Waffenlieferungen an die Ukraine fordert. Mancher mag sogar solch unverblümten Lobbyismus weniger problematisch finden als die versteckte Lobbytätigkeit anderer Parlamentarier. Als normal gilt, das diejenigen unter ihnen, die sich um eine Branche, die Chemieindustrie zum Beispiel, besonders verdient gemacht haben, dort in den Aufsichtsrat wechseln oder einen anderes lukratives Amt übernehmen. Dieser „Drehtüreffekt“ korrumpiert die Volksvertretung.
Wozu also noch wählen? Die Wahl als politischer Akt hat ihren Sinn verloren. Die im Turnus stattfindenden Wahlen sind zu einem Ritual geworden, das lediglich der Legitimationsbeschaffung für das dient, was Demokratie genannt wird. Das sollte am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland gezeigt werden. Vermutlich gilt es auch für andere Länder. Wahlenthaltung allein macht aber auch wenig Sinn.
Literatur:
Auernheimer, Georg (2019): Globalisierung. Köln: PapyRossa.
Auernheimer, Georg (2021): Wie gesellschaftliche Güter zu privatem Reichtum werden. Über Privatisierung und andere Formen der Enteignung. Köln: PapyRossa.
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Surhkamp.
Bourdieu, Pierre (1999): Die Durchsetzung des amerikanischen Modells und seine Effekte. In: Sozialismus, H.12.
Crouch, Colin (2015): Postdemokratie. 11. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Decker, Frank (2022): Politische Parteien: Begriff und Typologien. Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/42045/politische-parteien-begriff-und-typologien/
EU-Dienstleistungrichtlinie https://www.tagesschau.de/wirtschaft/meldung-ts-3968.html
Frantz, Christiane/Martens, Kerstin (2006): Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwiss.
Haug, Wolfgang F. (1979): Ideologie, Warenästhetik, Massenkultur. Argument-Studienhefte SH 33. Berlin-W: Argument Verlag.
Klein, Dieter (2008): Krisenkapitalismus. Wohin es geht, wenn es so weitergeht. Berlin: Karl Dietz Verlag.
Kronauer, Jörg (2018): Meinst du, die Russen wollen Krieg? Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg. Köln: Papyrossa.
Lemaire, Frédéric/Pilhon, Dominique (2016): Eine finanzpolitische Zeitbombe. Die geplante Kapitalmarktunion setzt auf mehr Deregulierung in der EU. In: Le Monde diplomatique 01/16, S.9
Mau, Steffen/Lux, Thomas/Westheuser, Linus (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp.
Rüb, Stefan/Müller, Torsten (Hg.) (2013): Arbeitsbeziehungen im Prozess der Globalisierung und Europäischen Integration. Baden-Baden: Nomos.
Wahlprogramm der SPD 1998. https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Bundesparteitag/wahlprogramm_bundesparteitag_leipzig_1998.pdf
Wissen, Markus (2011): Gesellschaftliche Naturverhältnisse in der Internationalisierung des Staates. Münster: Westfälisches Dampfboot.