Havva Engin, Pädagogische Hochschule Heidelberg
Deutschland hat sich in den zurückliegenden Dekaden durch verschiedene Zuwanderungsbewegungen zu einer diversitätsgeprägten Gesellschaft ausdifferenziert. Der Anteil von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte innerhalb der Gesamtgesellschaft liegt gegenwärtig bei einem Drittel, bei Kindern und Jugendlichen deutlich darüber (vgl. SVR 2023). In vielen deutschen Großstädten hat bereits die Hälfte der Nachwachsenden einen Migrationshintergrund; damit stellt Migrationsdiversität eine der wichtigsten Vielfaltsdimensionen im Bildungsbereich dar.
Hierzu völlig unterschiedlich verhält sich der Anteil von Lehrkräften mit Zuwanderungshintergrund innerhalb der Gesamt-Lehrerschaft. Er liegt bundesweit bei 8 bis 11 Prozent – in einigen Bundesländern darunter. Bei den Lehramtsstudierenden ist der Anteil mit schätzungsweise 10 bis 12 Prozent (vgl. Terhart 2022:43); eine positive Ausnahme bildet Nordrhein-Westfalen (vgl. GEW NRW 2019). Obwohl der Anteil von Studierenden mit Zuwanderungshintergrund in den letzten Jahren kontinuierlich anstieg, bleibt er in den Lehramtsstudiengängen unterdurchschnittlich. Am stärksten vertreten sind Studierende mit Zuwanderungserfahrung in den Ingenieurswissenschaften, Jura und Medizin, am geringsten im Lehramt (vgl. Mentges/Spangenberg 2021:70ff). Die unterschiedliche Studienpräferenz wird u.a. mit der hohen Bildungsaspiration innerhalb der Zuwanderungsfamilien erklärt, für die der Lehramtsberuf keine prestigeträchtige Tätigkeit darstelle.
Gründe für die Unterrepräsentanz von Menschen mit (familiärer) Zuwanderungserfahrung im Lehrberuf
Die Gründe für die Unterrepräsentanz von Zugewanderten im Lehrberuf sind vielfältig.
An erster Stelle ist die fehlende Ansprache von potenziell Interessierten bereits in der Schulphase anzuführen. Es existieren kaum Angebote – bis auf wenige Ausnahmen wie den „Schülercampus“ (ZEIT-Stiftung) oder das „Studium+M“-Programm (Stiftung Mercator) – die gezielt diese Zielgruppe adressieren.
Als weiterer Grund sind die hohen Abbruchsquoten während der ersten und zweiten Ausbildungs-/Studienphase zu nennen. Beispielhaft sei dies am Bundesland Nordrhein-Westfalen aufgezeigt: Während hier im Studienjahr 2016 21 Prozent der Lehramtsstudierenden einen Migrationshintergrund hatte (vgl. GEW NRW 2019), lag der Anteil von Lehrkräften mit Migrationshintergrund im Schuldienst, nach Angaben von Ahmet Atasoy, Landeskoordinator des Netzwerkes Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte NRW, bei rund zehn Prozent.[1] Demnach geht nahezu die Hälfte der Lehramtsstudierenden in der ersten bzw. zweiten Studienphase „verloren“ und kommt nicht in der Schulpraxis an.
In einer von der Stiftung Mercator durchgeführten Studie zum Studienabbruch bei Studierenden mit Migrationshintergrund wird festgehalten, dass „die Studienabbruchquote im Bachelorstudium bei Bildungsinländern, als eine Teilgruppe der Studierenden mit Migrationshintergrund, mit 43% deutlich höher aus[fällt] als bei deutschen Studierenden, die im Bachelorstudium eine Abbruchquote von 29% aufweisen“ (Heublein u.a. 2016, zit. n. Ebert/Heublein 2017:1). Bei Lehramtsstudierenden mit Zuwanderungshintergrund wurde die Studienabbruchsquote im Jahr 2010 mit 45% beziffert (vgl. Griesbeck 2010:20), für Lehramtsstudierende ohne Zuwanderungshintergrund betrug die Quote 20 Prozent im Bachelor- und 16 Prozent im Masterstudium (vgl. Heublein u.a. 2022:10).
Eine neuere Studie aus Nordrhein-Westfalen, die sich dezidiert den Lebenslagen und Studiensituation der dortigen Lehramtsstudierenden widmet (vgl. GEW NRW 2019), zeigt auf, dass der Studienabbruch keine spontane Reaktion darstellt, sondern sich bereits in einer relativ frühen Studienphase bemerkbar macht. So hält die Studie fest, dass „Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund ihre Studiensituation seltener positiv ein[ordneten] (47,7%) als diejenigen ohne Migrationshintergrund (58,6%)“ (vgl. GEW NRW 2019:19). Nach den Gründen eines Studienabbruchs befragt, nannten Lehramtsstudierende – mit und ohne (familiäre) Zuwanderungserfahrung – „Unzufriedenheit mit Studieninhalten sowie mit der Organisation“, „Überlastung durch Leistungsdruck im Studium“, „Überforderung mit dem Lehrstoff“ und „Probleme mit dem fachwissenschaftlichen Studium“ (vgl. Pasternack u.a. 2017:335). Auch spielt, insbesondere für Studierende aus sozioökonomisch schwachen Familien, eine ungünstige finanzielle Situation während des Studiums eine gewichtige Rolle bei der Beendigung des Lehramtsstudiums (vgl. GEW NRW 2019:23). Es liegen bisher wenig aussagefähigen Studien vor, die das Verhalten von Referendar:innen mit Zuwanderungshintergrund in der zweiten Phase untersuchen. Ausgehend von den Abbruchsquoten im Lehramtsstudium ist jedoch anzunehmen, dass auch im Referendariat ein relevanter Anteil die Ausbildungsphase nicht beendet.
Handlungsnotwendigkeiten und Empfehlungen
Um den Anteil von Lehrkräften mit (familiärer) Zuwanderungsgeschichte innerhalb des Lehrberufs signifikant zu erhöhen, bedarf es vielfältiger und auf verschiedenen Ebenen einsetzender adressatenspezifischer Maßnahmen. So muss die Ansprache und Gewinnung von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen mit Zuwanderungsgeschichte in der Schule – vor dem letzten Schuljahr – erfolgen. Diese sollte idealerweise durch junge (geschulte) Mentor:innen mit Zuwanderungsgeschichte durchgeführt werden.
Da die meisten Lehramtsstudierende mit (familiärer) Zuwanderungserfahrung Erstakademiker:innen sind und nicht auf die Unterstützung ihrer Familie bzw. ihrem sozialen Netzwerk zählen können (vgl. GEW NRW 2019: 22), muss diese Studierendengruppe von Anbeginn mithilfe unterschiedlicher Beratungs- und Unterstützungsangebote begleitet werden. Konkret sollte die Unterstützung in Form von Schreibtrainings zum Verfassen von Seminararbeiten, Kommunikations- und Präsentationstrainings, Colloquien zur Prüfungsvorbereitung sowie für das Abfassen von akademischen Abschlussarbeiten (Bachelor-/Master) stattfinden.
Studien weisen auf, dass Lehramtsstudierende mit (familiärer) Zuwanderungsgeschichte im Studium einem Framing und der Reduzierung auf den „Migrationshintergrund“ ausgesetzt sind, das von den Betroffenen als belastend und diskriminierend empfunden wird (vgl. Mantel 2017; Juang/ Chitewere 2020). Daher bedarf es für die Betroffenen flächendeckender Angebote, um sich gegen ausgrenzende Mechanismen zu wehren. Auch in der Schule treffen Referendar:innen mit (familiärer) Zuwanderungsgeschichte häufig auf größere Vorbehalte und punktuell sogar auf offene Ablehnung (vgl. Georgi/Ackermann/Karas 2011; Akbaba 2017). Hiervon sind insbesondere Personen mit muslimischem und/oder türkischem sowie arabischem Zuwanderungshintergrund betroffen (vgl. Dogmus 2017; Akbaba 2017). Es sind institutionalisierte Strukturen notwendig, die dagegen (juristisch) vorgehen und darüber hinaus Schulleitungen und Kollegien gegen Diskriminierung und Rassismus sensibilisieren.
Zusammenfassung und Ausblick
Studien zur Unterrepräsentanz von Lehrkräften mit (familiärer) Zuwanderungserfahrung in hiesigen Bildungsinstitutionen belegen, dass die Ursachen vielfältig sind, d.h. sowohl individuell-biografische Faktoren als auch institutionelle Strukturen eine Rolle spielen. Dementsprechend sind Maßnahmen nötig, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten methodisch vielfältig ansetzen. Für eine zukunftsgewandte Gesellschaft wie Deutschland, in der Bildung die zentrale Rolle für gesellschaftliche Prosperität spielt, kommt es daher in entscheidendem Maße auch auf gut qualifizierte Lehrkräfte mit Zuwanderungserfahrung an, einer bisher ungenutzten Ressource.
Quellenverzeichnis:
- Akbaba, Y.: Lehrer*innen und der Migrationshintergrund. Widerstand im Dispositiv. Wiesbaden: Springer VS Verlag, Wiesbaden 2017.
- Doğmuş, A.: Migrationsverhältnisse und pädagogische Professionalisierung. Konjunktive Erfahrungsräume im Referendariat angehender Lehrkräfte als Zugang kritischer Migrationsforschung. In: Geier, T.; Zaborowski, K. (Hrsg.): Migration: Auflösungen und
Perspektiven einer erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung: Springer VS Verlag Wiesbaden, 2016, S. 191–207
- Georgi, V.; Ackermann, B.; Karakas, N.: Vielfalt im Lehrerzimmer. Selbstverständnis und schulische Integration von Lehrenden mit Migrationshintergrund in Deutschland, Münster 2011.
- GEW-NRW.DE: Studiensituation und soziale Lage von Lehramtsstudierenden in NRW. Sonderauswertung der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks. 2019.
- Griesbeck, Michael: Grußwort zum Bundeskongress der Lehrkräfte mit Migrationshintergrund. In: Bundeskongress Lehrkräfte mit Migrationshintergrund. Potenziale gewinnen. Ausbildung begleiten. Personalentwicklung gestalten. 08.03.2010 bis 09.03.2010. Kongressdokumentation.
- L.; Chitewere, T.: Teachers of Migrant Background and Inclusive Education.In: A. Wojciechowicz, D. Niesta Kayser, & M. Vock (Eds.), Lehrer/iInnenbildung im Kontext aktueller Fluchtmigration. Perspektiven, Impulse und Erkundigungen (Teacher education in the context of current refugee migration. Perspectives, ideas, and inquiries). Weinheim: Beltz Juventa Verlag 2020
- Heublein, U.; Hutzsch, C.; Schmelzer, R.: Die Entwicklung der Studienabbruchsquoten in Deutschland. DZHW Brief 05/2022.
- Mantel, C.: Lehrer_in, Migration und Differenz. Fragen der Zugehörigkeit bei Grundschullehrer_innen der zweiten Einwanderungsgeneration in der Schweiz. transcript Verlag, Bielefeld 2016.
- Mentges, H.; Spangenberg, H.: Migrationsspezifische Unterschiede bei der
In Jungbauer-Gans, M.; Gottburgsen, A. (Hrsg.): Migration, Mobilität und soziale Ungleichheit in der Hochschulbildung. Springer VS Verlag, Wiesbaden 2021.
- Pasternack, P; Baumgarth, B.; Burkhardt, A.; Paschke, S.; Thielemann, N.: Drei Phasen. Die Debatte zur Qualitätsentwicklung in der Lehrer_innenbildung. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG. Postfach 10 06 33, 33506 Bielefeld 2017.
- Stiller, E.; Zeoli, A.: Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte – für einen ressourcenorientierten Perspektivwechsel in der Personalentwicklung. In: DDS – Die Deutsche Schule
Jahrgang 2010, Heft 4, S. 338-346
- Sachverständigenrat für Migration und Integration (SVR): Ungleiche Bildungschancen. Fakten zur Benachteiligung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem
Februar 2023, aktualisierte Fassung.
- Terhart, E.: Bilder zum Lehrerberuf – Beobachtungen und Reflexionen. Eine Einstimmung. In: Matthes, D.; Pallesen, H. (Hrsg.) Bilder von Lehrer*innenberuf und Schule (Mediale) Entwürfe zwischen Produktion, Rezeption und Aneignung. Springer VS Verlag, Wiesbaden 2022.
[1] Wie werden deutsche Lehrerzimmer diverser? 1. URL: https://zeitfuerx.de/bildung/wie-werden-deutsche-lehrerzimmer-diverser/
- August 2022 ↩