Sie sind wieder in aller Munde: die Kompetenzen der Schüler*innen. Mit der IQB-Studie im Herbst 2022 und nun mit der Fortschreibung der Hattie-Studie im März 2023 ist der sogenannte Kompetenzabfall einmal mehr das zentrale bildungspolitische Thema. Die IQB-Studie zeigt, dass knapp jede*r fünfte Schüler*in in der vierten Klasse die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht erreicht. Im bundesweiten Vergleich zeigen sich wohl zudem deutliche Unterschiede – so liege der Leistungsunterschied zwischen Bayern und Bremen bei bis zu einem Schuljahr. Die Pandemie und die mit ihr einhergehenden Maßnahmen hätten, so die Autor*innen des IQB, wesentlichen Einfluss auf den Kompetenzabfall gehabt.
Hat sich die Output-Steuerung überholt?
Ähnlich, aber doch anders gelagert erklärt die Hattie-Studie den Kompetenzabfall: zwar hätte die Pandemie einen Einfluss auf den Rückgang der Lernleistungen gehabt (das lässt sich sinnvollerweise kaum bestreiten), jedoch sei der Rückgang in Deutschland nicht einzig auf die Pandemie zurückzuführen. Angesichts dessen, dass auch in den IQB-Studien seit 2011 die Leistungen kontinuierlich abnehmen, muss das Problem mit der Kompetenzentwicklung anders gelagert sein.
Der PISA-Studie im Jahr 2000 folgten unzählige weitere Schulleistungsstudien, nun zuletzt die genannten beiden. Das heißt aber auch: über 20 Jahre lang hat sich die bildungspolitische Steuerung an diesen Studien orientiert. Aber mit welchem Effekt? Welchen bildungspolitischen Erfolg erzielen die Studien, wenn sich über Jahrzehnte nichts ändert?
Nach nun über 20 Jahren der bildungspolitischen Output-Steuerung dürfte es – jenseits derer, die seit Anbeginn der Kompetenzmessung diese als zur kurz gedacht kritisieren – deutlich geworden sein, dass Bildung weder in Kompetenzen zu messen ist, noch dass diese Beiträge einen Effekt auf bildungspolitische Steuerung mit dem Ziel des Abbaus sozialer Ungleichheit haben. Seit jeher wurde an der empirischen Herangehensweise kritisiert, dass die eigentliche Aufgabe der Bildung, nämlich Mündigkeit und kritisches Bewusstsein zu schaffen, sich nicht in Kompetenzen abbilden oder gar messen ließen.
„Vom Wiegen wird die Sau nicht fett“ beschreibt trefflich und durchaus verständlich die Verfehlung der gesamten Debatte um Leistungsstudien. Wenn die bildungspolitische Steuerung über diese Studien nun augenscheinlich nicht funktioniert hat und nur regelmäßig zur Empörung über ein nicht leistungsfähiges Schulsystem führt, könnte sich nun endlich dem grundlegenden Problem des deutschen Bildungswesens gewidmet werden.
Das System braucht nicht Leistungsstudie nach Leistungsstudie, denn das grundlegende Problem des Bildungswesens ist nicht der Kompetenzverlust, sondern der Glaube, dass die Kompetenzmessung einen ernsthaften Beitrag zum Abbau sozialer Ungleichheit leisten könnte. Und um diese nachhaltig anzugehen, braucht es politischen Veränderungswillen.
Ein altbekanntes Problem
Die IQB-Studie zeigt, wenn man ihr denn etwas positives abgewinnen will, (einmal mehr), dass der Sozialstatus der Kinder und ihrer Familien Einfluss auf die erbrachte Leistung hat. Spätestens seit PISA 2000 ist dieses Problem empirisch hinreichend belegt und für niemanden mehr eine Überraschung. Bildungserfolg und soziale Herkunft – hier aber insbesondere der finanzielle Hintergrund – hängen systematisch zusammen. Aus diesem Grund ist ein Satz der ersten PISA-Studie besonders erschütternd: „Kulturelles Engagement und kulturelle Entfaltung, Wertorientierungen und politische Partizipation kovariieren über die gesamte Lebensspanne systematisch mit dem erreichten Bildungsniveau.“ (Deutsches PISA-Konsortium 2001)
Wenn die soziale Herkunft der bestimmende Faktor für Bildungserfolg ist und dieser wiederum mit der politischen Partizipation kovariiert, dann hat die soziale Herkunft nicht nur Einfluss auf den Bildungserfolg, sondern auch auf das ganze Leben. „Herkunft gleich Zukunft“ – mit dieser griffigen Formel bringt es Sünker auf den Punkt. Es ist längst keine neue Erkenntnis, dass unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft soziale Ungleichheiten, also Klassenverhältnisse, im Bildungswesen reproduziert werden.
Ein Problem innerhalb des Systems
Was allerdings in den oftmals oberflächlich geführten Debatten nicht thematisiert wird: Das deutsche Bildungssystem ist von Grund auf auf Segregation ausgerichtet. Der bürgerliche Bildungsbegriff ist historisch betrachtet eine spezifische deutsche Antwort auf die Revolutionen in England und Frankreich (vgl. Bollenbeck 1994); er sollte die Revolution in Deutschland verhindern. Bürgerliche Bildung wird eingesetzt, um soziale Identitäten zu befestigen, gleichzeitig das revolutionäre Potential zu neutralisieren, aber dennoch Distinktion nach unten zu legitimieren. Dieser deutsche Sonderweg schreibt sich bis heute fort. Das Bildungssystem ist der zentrale Ort, an dem soziale Unterschiede verstetigt und legitimiert werden. Deshalb ist es scheinheilig, wenn zwar die Reproduktion sozialer Ungleichheit angemahnt, aber nicht grundsätzlich das System hinterfragt wird. Das eine wird nicht ohne das andere gehen, das zeigt ein Blick auf kritische Studien aus der vor-empirischen Zeit der Erziehungswissenschaft. Es ist wichtig diese Ansätze stärker in den Fokus linker und progressiver Bildungspolitik zu stellen. Woran sich eine linke Bildungspolitik orientieren sollte, ist nicht der Kompetenzabfall, sondern die Konstitution kritischer Subjektivität.
Deshalb sind die ideologischen und hegemonialen Spielarten des Bildungssystems zu reflektieren und aufzudecken: das beginnt bei dem Glauben an Meritokratie, geht über das Narrativ der Begabungsunterschiede und vollzieht sich im Anspruch eines leistungsfähigen Bildungssystems, das dem Arbeitsmarkt brauchbare Arbeitnehmer*innen liefert.
Das heißt für alldiejenigen Akteur*innen, die sich einer progressiven Bildungspolitik verpflichtet fühlen, dass Schluss sein muss, mit dem Glauben, dass das Messen von Kompetenzen in irgendeiner Weise etwas über die Bildung der Schüler*innen aussagt – der manifeste Glaube an das Gute der Kompetenzmessung sagt vielmehr über den Bewusstseinszustand derer aus, die ihn unhinterfragt stützen.
Die notwendige Neubewertung und eine hegemoniale Falle
Das deutsche Bildungssystem beruht auf einem „konservativen Bildungsstaat“ (Graßl 2008), in dem klassenspezifische Unterschiede beibehalten werden (sollen) – in dem selbst die nicht besonders radikalen Versprechen der Chancengleichheit und des sozialen Aufstiegs durch Bildung nur Illusion sind. Über Mündigkeit durch Bildung möchte bildungspolitisch niemand reden, das Gerede über Kompetenzen ist nicht nur gefälliger, sondern auch auf ökonomische Bedürfnisse abgestimmt. Aus der Sicht kritischer Pädagogik ist die aktuelle Bildungspolitik Erfüllungsgehilfin einer Hegemonie, die soziale Ungleichheit legitimiert, strukturelle Machtunterschiede gutheißt und nicht an der Mündigwerdung der Subjekte interessiert ist. Eine progressive Bildungspolitik, egal ob aus parteipolitischer, gewerkschaftlicher oder anderer zivilgesellschaftlicher Perspektive, kann es nur dann geben, wenn die Abschaffung der hegemonialen Wirkung des gegenwärtigen Systems das Ziel ist.
Eine Verbesserung der Bildung im bestehenden System bleibt Augenwischerei, die die undemokratischen Mechanismen der sozialen Segregation ausblendet. Es ist der zentrale Skandal des deutschen Bildungswesens, dass soziale Ungleichheit durch Bildung nicht nur nicht überwunden wird, sondern im besten Fall verwaltet, aber im Regelfall reproduziert und zementiert wird. Insofern ist auch der Glaube an ein leistungsfähiges Bildungssystem problematisch: denn damit ist die ökonomische Leistungsfähigkeit gemeint, die Fähigkeit möglichst viele Menschen auf die Bedarfe des Arbeitsmarktes zuzuschneiden. Ein leistungsfähigeres System wird die soziale Ungleichheit gewiss nicht abschaffen, sondern weiter verschärfen, ganz ökonomischen Direktiven folgend: wer nicht mithält, wird fallen gelassen. Deshalb ist es erschreckend, wenn vermeintlich linke Bildungspolitik glaubt, dass einfach ein Mehr des Immergleichen, etwa durch eine bessere Finanzierung, der Weisheit letzter Schluss sei. Die hegemoniale Falle ist die Imagination, dass eine Stärkung des gegenwärtigen Systems, die vorhandenen Probleme lösen würden. Stattdessen führt sie zu einer Verschärfung der beklagten Probleme. Auf diese Falle nicht reinzufallen, erscheint aktuell die intellektuelle Herausforderung an progressive Bildungspolitik; wer in diese Falle tappt, stützt die Hegemonie der Ungleichheit.