Mit Einführung der outputorientierten Bildungssteuerung in den 90er Jahren fand eine Verkürzung der Bildungspolitik auf kontrollierbare, funktionelle Ergebnisse von Lernprozessen statt. Kontexte und Inhalte verloren damit ihre Bedeutung. Dem gegenüber werden insbesondere in jüngster Zeit zunehmend kritische Stimmen laut. Das prominenteste Beispiel bildet der aktuelle offene Brief[1] des Interdisziplinären Zentrums für Bildungsforschung der Humbold-Universität-Berlin gegen eine Verengung des Bildungsdiskurses und ein monomethodisches Bildungsmonitoring: „Messen macht noch keine Bildung“ als Kritik an der Empfehlung der ständigen wissenschaftlichen Kommission (Izbf).
Mit dieser Kritik gewinnt die Befreiungspädagogik Freires mehr denn je an Aktualität.
Freire entwickelte seine Befreiungspädagogik als ein Erziehungsprinzip der Bewusstmachung, um ›verstummte Menschen‹ in die Sprache zu bringen und somit von Fremdherrschaft zu befreien. Diese Erziehung zur Selbstbefreiung fordert traditionelle Bildungssysteme heraus. Freire entdeckte zunächst eine ›Kultur des Schweigens‹ in Brasilien und zeigte damit aber weltweite Phänomene und Kausalzusammenhänge auf, die mit dem ›Verstummen‹ unterdrückter Menschen einhergehen.
Seine mit der Befreiungspädagogik einhergehende Alphabetisierungsmethode wurde anfänglich für die durch Großgrundbesitzer unterdrückten Landarbeiter in Brasilien durchgeführt. Dass Freire zunächst kein Interesse an der westlichen Kultur hatte, wird dadurch deutlich, dass er diese „als verliebt in den Tod, ins Verdinglichen, Besetzen und Besitzen“ ansah (Lange in Freire 1981[1970], S. 9ff.). Aber durch seine Intention, Problemen unterpriviligierter gesellschaftlicher Gruppen mit dem Ziel zu begegnen, ›conscientização‹, d.h. Bewusstwerdungsprozesse im Hinblick auf autonomes Handeln zu ermöglichen, sollte er gerade heute nicht nur für Lateinamerika, sondern auch für die westliche Kultur und darüberhinausgehend, weltweit von Interesse sein.
1921 wurde Freire in einer kleinbürgerlichen Familie in Recife geboren. Schon früh erlebte er durch die Weltwirtschaftskrise 1929 was Hunger ist und widmete seine Zukunft schon als Kind dem Kampf gegen den Hunger. Als späterer Jurist erkannte er aber dann, dass er auf diese Weise seinem Ziel nicht treu bleiben konnte, weil das Recht auf Seiten der Unterdrücker lag. Somit brach er seine juristische Laufbahn ab und wurde Lehrer, wobei er zwischen 1946 und 1954 die Abteilung für Erziehung und Kultur der SESI (Sozialdienst von Pernambuco) leitete. Dabei entdeckte er durch seinen Kontakt zum Volk die ›Kultur des Schweigens‹, die für ihn mit einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Unterdrückung zusammenhing. Um die Verarmten zu befreien, entwickelte er eine ganz eigene Methode der Alphabetisierung. Denn bei 15 Millionen Analphabeten fehlten 70-75% der brasilianischen Bevölkerung das Wahlrecht. Freire wollte somit durch die Kopplung von Befreiungspädagogik mit Alphabetisierungskampagnen die Herrschaftsstrukturen seiner Gesellschaft verändern und benachteiligten Menschen zu mehr politischer Macht und einem besseren Leben verhelfen. Seine Alphabetisierung sollte Menschen also nicht nur das Wahlrecht ermöglichen, sondern als Werkzeug dienen, ihre Situation besser zu durchschauen. Freire war davon überzeugt, dass die erzieherische Praxis mit dem Erkenntnisprozess des Menschen gekoppelt sein muss und wendete den Ausdruck ›conscientização‹ – Bewusstseinsbildungsprozesse – somit auf die Erziehung der Analphabeten an. Dadurch entstand Aufbruch, Veränderung und somit Befreiung von Fremdbestimmung.
Seine Trainingskurse für Alphabetisierungskoordinatoren wurden bis zum Militärputsch 1964 von der brasilianischen Regierung unterstützt. Schon zu diesem Zeitpunkt stand für Freire fest, dass Erziehung niemals neutral sein kann und entweder ein Instrument zur Befreiung des Menschen oder ein Instrument seiner Domestizierung ist. Das verdeutlicht Freires politische Relevanz. Somit verwundert es nicht, dass mit dem Putsch auch die Arbeit Freires beendet wurde. Nach seiner Inhaftierung wurde er verhört, als Verräter angeklagt, zu 70 Tagen Haft verurteilt und nach Chile ins Exil geschickt. Etwas sarkastisch schildert Freire, worin sein Verbrechen bestand, nämlich, dass er Bildung nicht als ein mechanisches Problem behandelte, sondern mit der gefährlichen ›conscientização‹ verband und somit statt diese als weiteres Instrument zur Unterdrückung einzusetzen, zur Befreiung nutzte (vgl. Freire 1977, S. 62). Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, bat Freire die bolivianische Botschaft um Asyl und emigrierte nach Chile. Als Bildungsexperte arbeitete er dann von 1964 bis 1969 mit der UNESCO sowie dem Büro ›Planung für Erwachsenenbildung‹ zusammen. Seine Methode wurde hier schnell angenommen. Von der UNESCO wurde Chile dadurch sogar als eines der fünf Länder bezeichnet, die das Analphabetentum am besten überwunden hatten. 1969/70 wurde Freire Gastprofessor an der Harvard-Universität in den USA und außerdem Berater der Abteilung für Bildungsfragen des Weltkirchenrates in Genf.
Freire lebte sowohl in Chile als auch in den Vereinigten Staaten sowie der Schweiz. Alphabetisierungsprojekte koordinierte er in Tansania, Guinea-Bissao, Angola, Mosambik, Sao Tomé und Principe. Seine theoretischen Ausführungen wurden durch die Erfahrungen der ersten Aufklärungskampagnen initiiert und im Auftrag des Weltkirchenrates in Genf in eine Vielzahl von weiterführenden Programmen in Lateinamerika und Afrika übersetzt. Als er 1980 wieder nach Brasilien zurückkehrte, arbeitete er dort nicht nur an Universitäten, sondern auch in Sao Paulo als Erziehungsminister. Elza Maria Costa da Oliveira, seine erste Frau und enge Mitarbeiterin, starb 1986. Der letzte seiner 23 Ehrendoktortitel sollte im Juli 1997 an der Universität Oldenburgs verliehen werden, musste allerdings von seiner zweiten Frau Ana Maria Araújo entgegengenommen werden, denn Freire starb ganz plötzlich im Mai 1997 im Alter von 75 Jahren.
Der antidialogischen Kultur des Schweigens stellt Freire in seiner Befreiungspädagogik den problemorientierten Dialog entgegen und zeigt damit Wege zur Mündigkeit des von Geburt an durch seine Unbestimmtheit unvollendeten Menschen auf. Sich in vorhandenen Kontexten reflexiv und aktiv aus Strukturen der Unterdrückung zu befreien, wird durch das Vorfinden dialogischer Sprachräume möglich. Über die Sprache entsteht Bewusstseinsbildung – nicht als isolierter Begriff, sondern als ein ›Sichvollziehen‹ in der Welt. Solange Erfahrung sprachlos bleibt, ist Sprache sinnlos und Erfahrung folgenlos. Mit Hilfe des Dialogs als substantielles Element für Bildungsprozesse werden Anschauungen, Haltungen und Erfahrungen sprachlich erarbeitet.
Wenn die Erkenntnis entsteht, in der Entwicklung behindert worden zu sein, muss nach Freire ein Kampf zur Humanisierung beginnen. Die Beseitigung möglicher Unterdrückung durch äußere ökonomisch-soziale Ausbeutungsverhältnisse und der ›Kultur des Schweigens‹ sieht Freire zunächst in der Beseitigung von inneren Dispositionen, durch die Unterdrücktwerden überhaupt erst ermöglicht wird. Er analysiert, dass das Bewusstsein des Menschen, der eine Vorschrift erhält, mit dem Bewusstsein des Vorschreibenden konform geht (vgl. Freire 1981 [1970], S. 9). Sich dieser internalisierten Bilder bewusst zu werden, um sie vertreiben zu können und durch Autonomie und Eigenverantwortung zu ersetzen, bedeutet Freiheit. Durch Bewusstseinsbildungsprozesse kann erkannt werden, dass Unterdrückte selbst ›Behauser‹ des Unterdrückers wurden. Doch zu beobachten ist, dass genau davor Menschen häufig Angst haben und in einen Konflikt geraten, entweder sie selbst zu sein oder sich abzuspalten, Vorschriften zu folgen oder frei zu handeln, den Unterdrücker aus sich selbst zu vertreiben oder nicht. Freiheit wird somit nicht geschenkt, sondern nur im Kampf errungen. Den Enthumanisierungsprozess zu beenden, bedeutet einen schmerzvollen Geburtsvorgang, der Hebammendienst im Dialog mit anderen benötigt (vgl. ebd. S. 34ff.). Freire zeigt auf, wie im Dialog mit anderen durch die Reflexion von Menschen auf die Welt und die Aktion an der Welt Domestizierung überwunden und die Welt verändert werden kann.
Freire wählt für seine Befreiungspädagogik das ihm jeweils passend Erscheinende verschiedener Denksysteme aus und gewinnt durch die Vielfalt und inspirierende Widersprüchlichkeit reflexiv neue Handlungsoptionen. Somit kann Freire als Eklektiker bezeichnet werden, der die Reduktion von Wirklichkeit auf eine bloß abstrakte Idee ablehnt und scheinbar Widersprüchliches wie gleichzeitig Christ und Marxist zu sein, miteinander vereinbart. Che Guevara und Martin Luther King sind Freires Vorbilder, seine christliche Erziehung, theologische Bildung, eigene Erfahrungen mit Menschen sowie Marx, die existentialistische Philosophie Sartres, die existentialistisch-christliche Philosophie Marcels sowie Einflüsse von Buber, Fromm, Marcuse und Rogers, Ortega y Gasset, Unamuno, Husserl, Jaspers, der Einfluss Hegels, ein Rückgriff auf den Historischen Materialismus wie auch auf Mao Tse-tung werden in seinen Texten erkennbar. Glaube, Liebe und Hoffnung sind für Freires Denken und Handeln entscheidende Bausteine, welche die tätige Absage an Unterdrückung untermauern und auf eine neue Lebensweise in Solidarität und Nächstenliebe hinweisen.
Die Entscheidungsfähigkeit und der Aufgabencharakter des Menschen bilden die Essenz von Freires Befreiungspädagogik. Sie wird bestimmt und begründet durch eine Anthropologie, die den Menschen in seiner Situation verwurzelt sieht. ›In und mit der Welt‹ zu sein, bedeutet für Freire aber keineswegs, Identifikation mit der gegebenen Situation. Er betont im Gegenteil, dass der Mensch mittels seines Bewusstseins, aus dem Gegebenen heraustreten und es durch intentionale Zuwendung transzendieren kann. Die dabei ins Spiel kommenden dialektisch untrennbar aufeinander bezogenen Elemente ›Reflexion‹ als Distanzierung vom Objekt und ›Aktion‹ als Hinwendung zum Objekt sind nötig, um eine sinnvolle Praxis und gelingende Integration des Menschen zu gewährleisten. In der Fähigkeit, die vorgefundene Welt schöpferisch zu verändern und immer wieder neu zu konstruieren, sieht Freire die Bedingung für die Bildsamkeit von Menschen als Wesen im Prozess des Werdens, welches als unvollendetes Wesen in einer unfertigen Wirklichkeit lebt und Kultur schöpferisch gestaltet (vgl. Freire (1981 [1970], 68). Darin liegt für Freire die Freiheit des Menschen. Jede Form von Sektierertum und Extremismus lehnt Freire ab, weil es die Übereignung des eigenen denkenden Ich‘s an politische, religiöse oder andere Gruppenzusammenhänge bedeutet. Eine Basis für persönliche, berufliche und politische Entscheidungen, kann nur die kritische Durchsicht eigener und fremder Wahrheiten schaffen und Entfremdungsprozesse von sich selbst verhindern. Wenn Menschen lernen, wieder Subjekt ihrer Handlungen zu sein, können sie zur Freiheit von inneren und äußeren Zwängen gelangen. Dass Freire die Subjekthaftigkeit betont, bedeutet aber nicht, dass er die Existenz absolut in sich selbst von anderen isoliert sieht, im Gegenteil sieht er die Bedeutung der Existenz durch ihre Intersubjektivität bedingt. ›Menschwerdungsprozesse‹ entstehen somit nur im Dialog mit anderen. Dabei entwickelt sich der Mensch in einem Suchprozess aus seiner Unvollendetheit heraus und überwindet, sich bewusst werdend, äußere und verinnerlichte Grenzen sowie eine ›Kultur des Schweigens‹.
Um ›conscientização‹ zu ermöglichen, treffen sich Menschen als Dialogpartner im herrschaftsfreien Raum und sprechen problemorientiert über generative Themen. Widersprüche zwischen sich und Welt zu erkennen und Maßnahmen gegen unterdrückerische Verhältnisse der Wirklichkeit zu ergreifen, gelingt, wenn der Mensch vom ›naiv- transitiven Bewusstsein‹, zum ›semi-transitiven Bewusstsein‹ bis hin zur ›kritisch-transitiven Bewusstseinsstufe‹ gelangt. Diese höchst Bewusstseinsstufe soll aber durch die – bis heute? – vorherrschende Bildungsmethode verhindert werden. Das vorhandene Schulsystem mit seiner Allokationsfunktion bildet eine Substruktur der gesellschaftlichen Gesamtstruktur. Das Dieses von Freire benannte ›Bankierskonzept‹ als Methode der Unterdrücker dient der Aufrechterhaltung des Status quo. Der antidialogische ›Bankiers-Erzieher‹ fragt nicht nach dem Inhalt, sondern nur nach dem Programm, mit dem er eigenes Fragen ausschließt und an anpassbare und beeinflussbare Schüler weitergibt (vgl. Freire 1989, S. 77f.). Nur der Lehrer meint hierbei, über Wissen zu verfügen, welches er beim Schüler quasi wie in einem Bankdepot anhäuft, um es bei Prüfungen erfolgreich wieder abzurufen. Dabei wird der Schüler als leerer, nach Belieben befüllbarer Behälter angesehen. Seine Lebenswelt, Gedanken, Auffassungen und Bedürfnisse bleiben dabei unberücksichtigt und der Schüler wird lediglich als Objekt angesehen.
Akte der Befreiung als Gegenpol zu dieser vorherrschenden Methode können nur durch eine dialogische Erziehung eingeleitet werden. Die von Freire entwickelte ›problemformulierende Bildung‹ ermöglicht Lehrern und Schülern gemeinsam Erforscher von Wissen und Welt zu werden. Dabei ist Lernen nicht das ›Fressen‹ fremden Wissens, sondern die Wahrnehmung und Lösung der eigenen Lebenssituation als Problem. Entsprechend steht hier Lehren für Problematisieren statt Programmieren, für das Aufwerfen von Fragen statt des Abkündigens von Antworten, für die Provokation des Zöglings zur Selbstbestimmung statt der Einnistung des Erziehers im Zögling (vgl. Lange in Freire (1981 [1970] S. 14). Die ›problemformulierende Bildung‹ sieht die Hauptaufgabe des Lehrers darin, den Schüler zum kritischen Denken anzuregen und ihn zu befähigen, die Wirklichkeit reflektierend, Probleme zu bearbeiten. Dieser Weg verhindert schon in der Schule die ›Kultur des Schweigens‹, der Kritikunfähigkeit und Anpassungswilligkeit und führt dazu, auch später soziale, politische und wirtschaftliche Widersprüche zu begreifen und Maßnahmen gegen die unterdrückerischen Verhältnisse der Wirklichkeit zu ergreifen. Auch Menschen, die seither nicht fähig waren, ihr Wort zu sagen, können durch diese Bewusstseinsbildungsarbeit und dem Wiedergewinnen von Sprache zukünftig aktiv ihr Leben gestalten.
Zur Befreiung von vorgefundenen Fesseln der Inhumanisierung ist es nötig, quasi wie in einem Geburtsprozess mit Hilfe der Hebammenkunst dialogischer Gesprächspartner, Freiheit zu bejahen, die eigene Lebensaktualität zu bestimmen, zu formen und die Wirklichkeit zu transformieren. Im Bewusstsein, ein Mensch der sich wandelnden Geschichte zu sein, in welcher wir als Werdende in einer unfertigen Wirklichkeit eingebunden sind, können wir Zusammenhänge und Widersprüche in denen und mit denen wir leben, bewusst im Dialog mit anderen erkennen und die vorgefundene Realität durch Reflexion und Aktion verändern.
Quellen
Freire, P. (1970/1981). Pädagogik der Unterdrückten. Hamburg: Rowohlt
Freire, P. (1977). Erziehung als Praxis der Freiheit. Beispiele zur Pädagogik der Unterdrückten. Hamburg: Rowohlt
Freire, P. (1970/2007). Unterdrückung und Befreiung (hg. v. P. Schreiner, N. Mette, D., Oesselmann, D. Kinkelbuhr). Münster: Waxmann
Hernández, J. (1977). Pädagogik des Seins. Paulo Freires praktische Theorie einer emanzipatorischen Erwachsenenbildung. Lollar: Achenbach
Lütjen, J. (2018). Aufklärung im Licht der Pädagogik. Möglichkeitsräume durch genuine Perspektiven. Zur Kritik des Reduktionismus in Bildung und Erziehung. Gießen: Psychosozial-Verlag
[1](https://www.zentrum-bildungsforschung.hu-berlin.de/de/berliner-erklarung_messen-macht-noch-keine-bildung.pdf/@@download/file/Berliner%20Erkl%C3%A4rung%20Offener%20Brief%20Messen%20macht%20noch%20keine%20Bildung.pdf) abgerufen: 21.04.23
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