Dass es Kinderarmut im reichen Deutschland gibt, wird eigentlich nur noch von den üblichen Spitzenverdienern bestritten, die den Armen erklären, wie man auch mit wenig Geld heizen, essen, lernen und sich waschen kann.
Es war einmal, vor fast einem Viertel-Jahrhundert, da konnte sich eine Familienministerin noch hinstellen und behaupten, dass es die im 10. Kinder- und Jugendbericht behandelte Kinderarmut in Deutschland gar nicht gebe. Der Erfolg von Frau Nolte hielt sich in Grenzen und Ministerin war sie dann nach den Wahlen 1998 auch nicht mehr. Einige Armuts- und Reichtumsberichte verschiedener Bundesregierungen später sprach eine Familienministerin „Dr.“ Giffey im Bundestag von vier Millionen armen Kindern in Deutschland, die sie durch ihr Starke-Familien-Gesetz von 2019 aus der Armut zu holen versprach. Dem Mitarbeiter-Stab der Ministerin schien dieses Versprechen doch etwas zu vollmundig zu sein, sodass sie kurzerhand im Bundestagsprotokoll aus vier Millionen nur noch zwei Millionen arme Kinder machten. In Politik, Medien und Wissenschaft, wo man sonst herzhaft über die statistische Frage, ob es nun 2,6, 2,8 oder doch gar 2,85 Millionen Kinder in Armut gebe, herrschte Schweigen. Fast niemand empörte sich, niemand lachte über diese beachtliche Armutshalbierung innerhalb weniger Tage. Aus der Bundesfamilienministerin „Dr.“ Giffey wurde Berlins regierende Bürgermeisterin Giffey und aus ihren Anti-Armutsversprechen wurde die Verfestigung der Kinderarmut.
Die heutige Bundesfamilienministerin Paus erweckt den Eindruck, uns diese Peinlichkeiten ersparen zu wollen. Es scheint ihr Ernst zu sein und sie ist mit ihrem Ansinnen, Kinderarmut zu bekämpfen (oder wenigstens bis 2025 eine armutsfeste Kindergrundsicherung umzusetzen) gegen den Porschefahrer aus dem Finanzministerium und seine Schuldenbremse nur zu unterstützen. Letzterer möchte den Armen, Arbeitslosen, und benachteiligten Familien so wenig wie möglich geben, schimpft über die „Gratismentalität“ seiner Mitbürger, hat aber selbst kirchlich geheiratet, ohne Kirchensteuer zu entrichten und sich nach seinem ministerialen Grußwort für eine Bank bei selbiger mit einem besonders günstigen Kredit versorgt.
Derweil scheint das Interesse daran, wie z.B. die US-Umwelt nach gefracktem Erdgas aussieht, ziemlich gering zu sein. Kaum jemand fragt sich, wie es eigentlich den Menschen in den Ländern geht, deren Flüssiggas nun Deutschland an den Weltenergiemärkten preislich in die Höhe getrieben und schließlich weggekauft hat. Da die Bundesregierung beschlossen hat, dass es nach dem zweiten Weltkrieg 1945 praktisch bis zur „Zeitenwende“ am 24. Februar 2022 keine völkerrechtswidrigen Angriffskriege gegeben haben soll und wir seitdem „in einer neuen Welt aufgewacht“ sind, greifen sich viele Menschen im sog. globalen Süden an den Kopf. Sie wollen einfach nicht verstehen, dass deutsche Bücklinge in Katar oder in Saudi-Arabien oder EU-Avancen gegenüber Aserbaidschan Höhepunkte „wertebasierter“, ja „feministischer Außenpolitik“ darstellen.
Selbst die deutsche Bevölkerung neigt immer noch mehrheitlich dazu, die saudi-arabische Sonderoperation im Jemen mit um die 400.000 Toten (davon ca. 80.000 Kinder) als einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu betrachten. Dadurch glauben manche gar, dass Waffenlieferungen an die Mörder der jemenitischen Zivilbevölkerung als Beihilfe und Komplizenschaft gewertet werden könnten. Dagegen werden sie von der Regierung belehrt, dass im „Zeitenwende“-Zeitalter deutsch-europäische Rüstungsprojekte für Saudi-Arabien gar keine direkten Waffenlieferungen implizieren und, dass alte Verträge nunmal eingehalten werden müssten. Außerdem schützten genau diese Maßnahmen vor Sozialabbau und Kinderarmut.
Wie das gehen soll, beweist ausgerechnet eine Partei, die bis zum 26. September 2021 strikt gegen Rüstungsexporte einzutreten versprach. Auf ihren Wahlplakaten stand z. B.: »Wir setzen uns für ein Exportverbot von Waffen und Rüstungsgütern an Diktaturen, menschenrechtsverachtende Regime und in Kriegsgebiete ein«.
Die deutsche Außenministerin hat auf dem grünen Bundesparteitag im Oktober 2022 die Rüstungs-Kooperationen zugunsten Saudi-Arabiens damit gerechtfertigt, dass man ja nicht direkt liefere (nur mit europäischen Partnern zusammen) und dass man nur ältere Verträge noch umsetzen müsse; würde man das nicht tun, müsse das 100 Milliarden Euro-Aufrüstungspaket der Bundesregierung vom »Zeitenwende«-Februar 2022 nochmals erweitert werden zuungunsten der Ärmsten der Armen. Herz- und Hirn-erweichend appelliert sie an die kinderfreundlichen Instinkte ihrer Parteitagsdelegierten: »Und ich will nicht, dass wir noch mehr im sozialen Bereich sparen und Lisa dann keine Mittel mehr hat für die Kinder, die sie dringend brauchen.« Mit »Lisa« ist die Bundesfamilienministerin Lisa Paus und ihr Projekt einer Kindergrundsicherung gegen Kinderarmut gemeint. Ja, wer will das schon? Die armen Kinder! Da müssen wir einfach mit den europäischen Partnern Saudi-Arabien mit Waffen beliefern. »Rüstungsexporte für den Sozialstaat«, lautete daher auch eine Zwischenüberschrift in einem kritischen Artikel der taz vom 15.10.2022. »Wir« können schließlich nichts dafür, dass Saudi-Arabien seit mehreren Jahren einen buchstäblichen Vernichtungskrieg gegen den Jemen führt, mit hunderttausenden Toten. Da müssen „wir“ einfach drüber hinwegsehen. Weil »wir« Friedens- und Menschenrechtspartei sind, liefern »wir« ja auch seit Monaten Waffen in die Ukraine. Dass damit echte Menschen umgebracht werden, leugnen »wir« ja ebenfalls täglich und entgegnen, dass »unsere Waffen Menschenleben retten«.
Die toten Jemeniten sind in dieser zynischen Argumentation nicht umsonst gestorben (worden). Denn der Ertrag aus den Waffengeschäften mit ihren Mördern ist notwendig, damit das deutsche Aufrüstungsprogramm von 100 Mrd. Euro nicht noch größer ausfallen “muss” und dadurch “natürlich” beim Sozialetat gekürzt werden “müsste”. Sterben somit Jemens Kinder, damit Deutschlands Kinder gegen Armut geschützt werden können? Vor über hundert Jahren nannte man sowas noch “Sozial-Imperialismus” – und manche schämten sich sogar dafür. Bis vor kurzem hätte man in der Gegenüberstellung von “jemenitischem Lebensrecht“ und „deutscher Kindergrundsicherung” auch noch den darin enthaltenen zynischen Rassismus kritisiert. Aber heute heißt das “wertebasierte, feministische Außenpolitik” – und statt fliegender Tomaten gibt‘s Standing Ovations.
Diejenigen, welche fordern „für die Freiheit zu frieren“, „Russland zu ruinieren“ und dem Kreml-Chef „den Gas-Hahn abzudrehen“, ernten indessen, was sie gesät haben. Nachdem sie mit ihren Aufrüstungsprogrammen, ihren Sanktionen, ihrem Wirtschafts- und Stellvertreterkrieg erfolgreich die Energieversorgung und den Lebensstandard der Bevölkerung Deutschlands (und vieler anderer Länder) ohne die geringste Verbesserung der Lage der ukrainischen Zivilbevölkerung verteuert und verunsichert haben, behaupten sie die (wachsende) Kinderarmut sei eine „wirtschaftliche Folge des Krieges in der Ukraine“, was nicht einmal die halbe Wahrheit beinhaltet. Gerne werden in Politik, Medien und Wissenschaft auch sonst Ursachen und Anlässe von (Kinder-)Armut verwechselt. So werden z. B. oft Risiken für Kinderarmut, wie Scheidung, Alleinerziehenden-Status, Migrationshintergrund oder Arbeitslosigkeit mit den zugrundeliegenden Ursachen im vorhandenen Wirtschafts- und Sozialsystem verwechselt. Dadurch gerät in den Hintergrund, dass sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik und gute Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik auch für Kinder von arbeitslosen, alleinerziehenden oder migrantischen Eltern ein armutsfreies Leben ermöglichen können. Eine dabei notwendig erscheinende Perspektive müsste sich jedoch theoretisch-praktisch mit Interessen, mit Macht und mit Herrschaft auseinandersetzen, also auch mit den Profiteuren der vorhandenen Ordnung, wobei Anti-Kapitalismus als buchstäblich alternativlos für einen auch nur halbwegs demokratischen und sozialen Rechtsstaat erscheint, wie ihn das Grundgesetz vorschreibt.
Wer somit Kinderrechte stärken und (Kinder-)Armut bekämpfen will, muss auch über den exorbitant gestiegenen Reichtum in unserer Gesellschaft sprechen. Wer die sozialräumliche Segregation in unseren Städten bemängelt, darf nicht vergessen, dass die armen Stadtteile oft so aussehen, wie sie aussehen, weil die reichen Stadtteile so aussehen, wie sie aussehen. Wer den Sozialstaat stärken will, muss die Privatisierung von Sozialversicherungen, von städtischen Wohnungen, Energieversorgern, Krankenhäusern und Pflegeheimen zurücknehmen und dem Profitprinzip entziehen sowie bessere Bedingungen in Schulen, Kitas und Jugendhilfe bzw. Jugendclubs schaffen. Dass dafür genug Geld da ist, zeigt auch ein Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahre 2021, wonach sich das Nettovermögen der privaten Haushalte in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren auf 13,8 Billionen Euro mehr als verdoppelt hat (über zwei Drittel davon nur in den Händen der obersten 10% der Gesellschaft). Davon könnten jedes Jahr bis zu 400 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt werden, was die absolute Ungleichheit weiter erhöhen wird (vgl. DIW 2/2021, S. 64ff.).
Wenn jedoch laut Angaben der Bundesregierung ab 2023 die „schwarze Null“ und die Schuldenbremse wieder eingehalten werden sollen, stellt sich nicht nur zur Umsetzung von Menschen- und Kinderrechten (auf Bildung) und zur Bekämpfung von (Kinder-)Armut die Frage, wie notwendige Investitionen in Brücken, Bildung und Bürgergeld adäquat und nachhaltig finanziert werden sollen. Die nächsten Spar- bzw. Kürzungsrunden scheinen dagegen dann bereits vor der Tür zu stehen. Sofern keine Vermögensteuer eingeführt wird, keine Bürgerversicherung die Zwei-Klassenversorgung im Gesundheits- und Pflegesystem beendet, wenn mit der gesetzlichen Rente an der Börse spekuliert werden und der Rüstungsetat wie geplant um über 100 Mrd. Euro steigen soll, stehen der gewagte Fortschritt der Bundesregierung und die Nachhaltigkeitsziele „UN-SDG 2030“ auf ziemlich wackeligen Beinen – und der Kampf für Kinderrechte sowie die Bekämpfung von Kinderarmut wären ebenfalls zumindest geschwächt.