Havva Engin
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Der Krieg in der Ukraine, der Ende Februar seinen Lauf nahm und noch andauert, hat zur Folge, dass erneut Hunderttausende Menschen, darunter sehr viele Kinder und Jugendliche ihre Heimat verlassen und in anderen Ländern um Schutz suchen müssen. Zwischenzeitlich befindet sich auch in Deutschland eine große Zahl an ukrainischen Schüler*innen, die in verschiedenen Bundesländern beschult werden. Das Schicksal der ukrainischen Kinder und Jugendlichen rückte die Bildungssituation der geflüchteten Schüler*innen von 2015 erneut in den Fokus und damit einhergehend die Frage, wie deren Bildungsintegration in den vergangenen Jahren vonstatten ging, d.h. ob es den hiesigen Bildungsinstitutionen gelang, sie erfolgreich an Bildung teilhaben zu lassen.
Es liegen zwar immer noch nicht umfangreiche Studienergebnisse vor, doch sind in den letzten zwei-drei Jahren einige wenige Untersuchungen erschienen, die erlauben, Rückschlüsse zu ziehen bzw. erste Trends zu beschreiben.
Zu Beginn der Ausführungen ist festzuhalten, dass die Fluchtzuwanderung 2015 zu einer signifikanten Beschleunigung von Veränderungsprozessen in der hiesigen Gesellschaft führte, was Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Schülerschaft hatte. So kann zwischenzeitlich gesagt werden, dass aktuell rund 40 Prozent der Schüler*innen einen so genannten Migrationshintergrund aufweisen und mindestens so wichtig, 5 Prozent aller Kinder unter 18 Jahren einen Fluchthintergrund besitzen, da in „den letzten fünf Jahren (…) fast 40% aller Asylbewerbungen von Kindern unter 18 Jahren gestellt [wurden]“ (Rude 2020:46), von denen der Großteil sich vorstellen kann, in Deutschland zu bleiben.
Wenn man sich die Lebenslagen von Familien mit Fluchterfahrung anschaut, so erscheint der Wunsch dieser Kinder und Jugendlichen durchaus realistisch. Nach den Ergebnissen der SOEP-Befragung leben drei Viertel der geflüchteten Familien im eigenen Wohnraum; lediglich ein Viertel befindet sich in Gemeinschaftsunterkünften (vgl. Paiva Lareiro 2019:2).
Aus den vorliegenden Befragungen der Eltern wird des Weiteren deutlich, dass ein bedeutender Teil von ihnen bildungsinteressiert ist und großen Wert auf die Entwicklung der eigenen Kinder legt. Die umfangreichsten Daten zu diesem Sachverhalt liefert die ReGES-Studie (Refugees in the German Educational System), welche in mehreren Bundesländern die gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten untersucht (vgl. https://www.lifbi.de/reges). Die Frage nach den Gründen für die Befürwortung des Kindergartenbesuchs ihrer Kinder beantwortete der überwiegende Teil der Eltern mit der Notwendigkeit des schnellen Erlernens der deutschen Sprache sowie dem Wunsch nach Kontakt mit der deutschen Kultur. Was sie dagegen monieren, ist, dass ihre Kinder viel zu lange auf einen Betreuungsplatz warten müssen (Maurice/Will 2021:8).
Schulische „Situation“ von Schüler*innen mit Fluchterfahrung
Hinsichtlich der schulischen Bildungsteilhabe von Schüler*innen mit Fluchterfahrung sind die Studienergebnisse des SOEP (Sozioökonomisches Panel), der ReGES-Studie (Refugees in the German Educational System) sowie des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlingen) aufschlussreich. Gemäß diesen Studien wurde in den vergangenen Jahrzehnten über ein Drittel der geflüchteten schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen in Regelklassen aufgenommen; 44 Prozent wurden ausschließlich in besonderen Klassen, den Vorbereitungsklassen, beschult und lediglich 22 Prozent hatten die Möglichkeit, zunächst eine Vorbereitungsklasse zu besuchen, um anschließend in eine Regelklasse zu wechseln (Gambaro u.a. 2020:583).
Große Unterschiede zeigen sich bei der Verteilung auf die verschiedenen Schulformen. Bemerkenswert ist der Umstand, dass insbesondere Schüler*innen aus Syrien sich an höherqualifizierenden Schulformen befinden: 19 Prozent besuchen ein Gymnasium und weitere 22 Prozent eine Gesamtschule. Demgegenüber liegt der Anteil von Schüler*innen aus Afghanistan, die ein Gymnasium besuchen, bei 10 Prozent, von Schüler*innen aus dem Irak, einer weiteren großen Gruppe mit Fluchterfahrung, bei 13 Prozent (Paiva Lareiro 2019:8). Der Bildungserfolg der Schüler*innen korreliert – erwartungsgemäß – mit dem Bildungsniveau der Elterngeneration; auch hier weisen die Eltern aus Syrien die höchsten Bildungsabschlüsse auf (Paiva Lareiro 2019:10).
Befragt nach ihren Deutschkenntnissen, schätzen über zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen diese überwiegend als sehr gut oder gut ein (Maurice/Will 2021:13), obwohl 65 Prozent angeben, an keinen regelmäßigen Sprachförderangeboten teilgenommen zu haben (Maurice/Will 2021:14), was für eine hohe Bildungsaspiration der Befragten spricht.
Ungeachtet dieser positiven Selbsteinschätzung machen die Studien deutlich, dass im Zusammenhang mit der schulischen Aufnahme dieser Schüler*innengruppe sich eine massive „Überalterungsthematik“ offenbart. Während 94 Prozent der hiesigen 15-Jährigen ohne Zuwanderungserfahrung und 86 Prozent mit Migrationshintergrund die neunte oder zehnte Klasse besuchen, beträgt der Anteil bei den 15-Jährigen mit Fluchterfahrung 61 Prozent. 31 Prozent der geflüchteten 15-Jährigen befinden sich in der 8. Klassenstufe, weitere 8 Prozent besuchen die siebte Klasse (Maurice/Will 2021:11). Es stellt sich in diesem Kontext die berechtigte Frage, ob und wenn ja, wie die betreffenden Schüler*innen diesen Nachteil in ihrer Bildungsbiografie je werden kompensieren können.
Teilnahme an (Außer)-Schulischen Angeboten
Gefragt nach der Teilnahme an schulischen und außerschulischen Angeboten, die als Hinweis auf eine gesellschaftliche Teilhabe integriert werden können, zeigen die Antworten, dass Schüler*innen mit Fluchterfahrung – wider Erwarten – weniger an schulischen Angeboten wie Musik-, Theater- oder Sport-Arbeitsgruppen partizipieren, sondern stärker in Sportvereinen und Jugendgruppen der Kirchen und Verbände eingebunden sind (Gambaro u.a. 2020:586), was dafür spricht, dass bei diesen Institutionen von einer aktiven Mitgliederanwerbung und hohem Engagement auszugehen ist, die zu einem bedeutenden Teil von Ehrenamtlichen verantwortet wird.
Die Situation von Schüler*innen während der Corona-Pandemie
Britta Rude spricht in ihrer Untersuchung über die Situation von Schüler*innen in der Pandemie zurecht davon, dass „Corona als Brennglas vorhandener Problematiken“ (Rude 2020:46) gewirkt habe. Die erhobenen Daten zeigen auf, dass in den meisten Bundesländern in den Erstaufnahmezentren und Gemeinschaftsunterkünften kaum ein stabiler Internetzugang vorlag und demzufolge Schüler*innen nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen am Distanzlernen bzw. Fernunterricht teilnehmen konnten (Rude 2020:48). Auch die SOEP-Studie belegt die eklatant schwierigen Lebensumstände von geflüchteten Schüler*innen in Gemeinschaftsunterkünften, wonach zwei Drittel dieser kein eigenes Zimmer und keinen Schreibtisch zum Lernen besitzen und 14 Prozent angeben, über einen eigenen PC bzw. 4 Prozent über ein eigenes Tablet zu verfügen (Rude 2020:48). Verschärft wird die Lernsituation dieser Schüler*innen durch die elterliche Bildungsarmut bzw. deren fehlenden Kenntnisse über schulisch-institutionelle Abläufe (Rude 2020:50).
Zusammenfassung und Ausblick
Die Zusammentragung aktueller Untersuchungsergebnisse zur Bildungsintegration von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung in Deutschland zeigt auf, dass bei einem Großteil der im Rahmen von Flucht zugwanderten Eltern hohes Bildungsbewusstsein vorliegt und sie um Bedeutung vor-schulischer Bildungsangebote wissen und eng mit pädagogischen Fachkräften kooperieren möchten (Maurice/Will 2021:8).
Hinsichtlich der schulischen Bildungsteilhabe ist festzuhalten, dass die Kinder und Jugendliche gerne zur Schule gehen, sich angenommen fühlen und ihnen gelungen ist, stabile Freundschaften zu Gleichaltrigen aufzubauen (Gambaro u.a. 2020:588). Sie schätzen ihre Deutschkenntnisse als hoch ein (Maurice/Will 2021:13) und nehmen rege außerschulische Sport-Angebote wahr, was als Zeichen einer voranschreitenden gesellschaftlichen Integration interpretiert werden kann (Gambaro u.a. 2020:586).
Handlungs- bzw. Verbesserungsbedarfe zeigen sich insbesondere im Hinblick auf den Ausbau der Kooperation mit dieser Elterngruppe, besonders in der Frage der Vermittlung hiesiger Erziehungswerte und den Erwartungen von Bildungsinstitutionen an Familien.
Um die „Überalterungsproblematik“ gering zu halten, bedarf es einer schnelleren Beschulung und besseren Beratung von zugewandernden Schüler*innen, wozu aussagefähigere Diagnose- und Einstufungsinstrumente benötigt werden. Auch sollte – nach aktueller Datenlage – die Organisation und die Anzahl von Deutschförderangeboten verbessert werden. Es bedarf dringend Studien, die empirisch der Frage nachgehen, welche Integrationsangebote wirken und welche nicht, um künftig zielgerichtete Angebote zu entwickeln.
Des Weiteren hat die Pandemie aufgezeigt, dass die Rahmenbedingen in den Gemeinschaftsunterkünften dringend verbessert werden müssen, dahingehend, dass zum einen ein Internetanschluss sichergestellt werden muss, zum anderen auch Endgeräte vorgehalten werden müssen, damit die Schüler*innen am Fernunterricht und an digitalen Unterstützungsangeboten teilnehmen können.
Literaturquellen:
• Gambaro, Ludovica et. al. (2020): Erfolge, aber auch weiteres Potential bei der schulischen und außerschulischen Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher. DIW Wochenbericht 34/2020. URL: https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.797223.de/20-34.pdf
• Gambaro, Ludovica et. al. (2019): Kita-Besuch von Kindern aus nach Deutschland geflüchteten Familien verbessert Integration ihrer Mütter. DIW Wochenbericht 44/2019. URL: https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.694632.de/19-44-1.pdf
• Paiva Lareiro, P. d. (2019). Ankommen im deutschen Bildungssystem
Bildungsbeteiligung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen. (BAMF-Kurzanalyse, 2-2019). URL: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Kurzanalysen/kurzanalyse2-2019-ankommen-im-deutschen-bildungssystem.html?nn=404000
• Paiva Lareiro, P. d. (2019). Kinder und Jugendliche nach der Flucht: Lebenswelten von geflüchteten Familien in Deutschland. (BAMF-Kurzanalyse, 5-2019). URL: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/67582
• Rude, Britta (2020): Geflüchtete Kinder und Covid-19: Corona als Brennglas vorhandener Problematiken. In: ifo Schnelldienst, 12/2020, 73. Jahrgang. URL: https://www.ifo.de/DocDL/sd-2020-12-rude-gefluechtete-kinder-covid-19.pdf
• von Maurice, J.; Will, G. (2021): Geflüchtete Kinder und Jugendliche im deutschen Bildungssystem. Zentrale Befunde der Studie ReGES. URL: https://www.lifbi.de/reges