Das Vorhaben
Den Eingang der Alten Oper Frankfurt von 1881 ziert der Spruch ‚Dem Wahren, Schönen, Guten‘. Während ich über einen Text für POLITEKNIK – Menschenrecht auf Bildung – nachdenke, fällt mir diese Widmung ein.
Geht es bei ‚Bildung‘ darum? Vor allem, wenn diese Forderung global erhoben wird und deshalb kulturunabhängig begründet werden muss. Kann diese Trias aus der Antike, die das klassische bürgerliche Ideal umfasst, also ureuropäisch ist, hier hilfreich sein, ohne in einen Eurozentrismus zu verfallen.
Ja ist dieses Ideal nicht schon in Europa, universell verstanden, falsch, spiegelte es doch schon in seiner Hochzeit nur die Möglichkeiten des Bürgertums wider und weniger die Realität der Kinderarbeiter und der Sterblichkeit der Arbeiter und Arbeiterinnen in den Kohleminen und an den Webstühlen (Staublunge), denen ihre Realität (Wahrheit) gesetzt war und sicher weder als ‚schön‘ noch als ‚gut‘ empfunden wurde, wenn überhaupt die Zeit für solche Selbstschau geblieben wäre.
Diese Frage gilt ebenfalls, wenn heute westlich orientierte Medien die Ästhetik für das (all)gemeine Volk mit ‚Realityshows‘ … um die, im wesentlichen individualistisch körperzentrischen Sehnsüchte ihrer Klientel industriell produzieren – mit dem Nebeneffekt der Hebung der Konsumlaune – während die ‚Elite‘, weit jenseits ehemaliger Ideale, mit ganz ähnlicher Ausrichtung Ihre Ästhetik im Wesentlichen an dem Kaufpreis ausrichtet.
Fordern wir uns deshalb einen wirklich radikalen Gedankengang ab, der kultur- und geschichtsunabhängig von den Wurzeln des Problems her, d.h. hier dem Menschsein und seiner Spezifik insgesamt ausgeht. Natürlich ist auch dieser säkular aufgeklärte Anspruch im europäisches Denken verwurzelt! Ich kann dem nicht entgehen, ich bin Europäer und insbesondere durch meine Sozialisation im Nachkriegsdeutschland aufgeklärt und säkular sozialisiert. Ein Grund hierfür ist dabei sicher auch, dass die Nazis die Gefühle und den Glauben der Menschen in einer Weise für sich instrumentalisiert haben, dass, wie Heller das in dem Film über Hitler von Syberberg (1977, 26. min.) zu einer Hitler Puppe sagt, nach den Nazis Gefühle und Glaube Ihre Unschuld verloren haben, eigentlich menschlich nicht mehr verantwortbar sind.
Auch wenn diese Forderung sicher bei vielen Lesern und Leserinnen mit Recht ein Unwohlsein über einen zu großen Verlust und auch das Gefühl einer Entmenschlichung einer so rein rationalen Welt erzeugt, wird der Fortgang unserer Überlegungen zeigen, dass diese Forderung eben nur für das Fundament, den global kulturübergreifenden Ausgangspunkt unseres Vorhabens gilt und in der Folge Glaube und Gefühle, wie auch die einleitende Trias neu verstanden – damit dann auch verantwortbar – jenseits aller globalen Kulturunterschiede geradezu als kulturelle Grundlage der Menschenwelt erkennbar werden.
Das Menschliche
Bei dem Versuch das zu fassen, was das spezifisch Menschliche also die Eigenart der Gattung ‚Mensch‘ ist, kommt man nicht umhin, über den Unterschied zu Tieren nachzudenken. Noch in meiner Jugend wurde hier auf das größere Gehirn und die höhere Intelligenz der Menschen hingewiesen. Dies ist heute so nicht mehr haltbar. So gibt es zum einen viele Menschen, deren kognitive Leistungen, aus welchen Gründen auch immer, die von intelligenten Tieren – und das sind nicht nur Schimpansen oder Delphine, sondern auch Raben und Kraken – deutlich unterschreiten. Wollen wir diesen Menschen hier nicht ihr Mensch-Sein absprechen müssen wir nach anderen spezifischen Eigenschaften Ausschau halten.
Diese finden wir in der im Verhältnis zu Tieren extrem reduzierten Instinktsteuerung. Da der Instinkt bei Tieren aber eine zentrale Rolle nicht erst bei der Handlungsplanung, sondern als immer notwendige innere Referenz schon für die Wahrnehmung spielt, ist die Wahrnehmung der Welt durch die mangelnde instinktive Orientierung zum Zeitpunkt der Geburt bei dem Tier Mensch extrem bedroht, da die Bezüge und Kriterien fehlen, aus der Menge der ca. 1 Mrd. Einzelreize/sec. ein kohärentes und für das Handeln relevantes Bild von der Welt zu generieren. Als Ersatz hierfür orientieren sich Menschen von Geburt an und fortan lebenslang gegenseitig indem sie ihre je individuell gewordenen Perspektiven auf die Welt austauschen und so einen vielfältigen, mehrdeutigen Bedeutungsraum schaffen, der es ihnen ermöglicht, sich aus diesem Angebot ihren je individuellen Eigen-Sinn zu generieren. Tiere sind über den gemeinsamen Instinkt neurotypisch. Menschen sind durch den fehlenden Instinkt zur Selbsterzeugung des Eigen-Sinns als Instinktersatz gezwungen. Deshalb sind alle Menschen neurodivers!
Die Klarheit der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier unter Bezug auf den weitest gehenden Instinktmangel ergibt sich aus der Menschenwelt. Kognitive Lösungen bis hin zu Werkzeugen und gegenständlicher Selbsterkenntnis sind in der Tierwelt vorhanden, z.T. in einer Komplexität, wie sie nicht von allen Menschen erreicht wird. Sinnsuche – Glaube, Religion, Kunst –, Verantwortung und Moral dagegen kommen im Tierreich nicht vor und auch die radikalsten TierrechtsvertreterInnen kommen auch bei den intelligentesten Tieren nicht auf den Gedanken diese ob ihres Verhaltens zu verurteilen. Sie können halt aus ihrer Haut nicht heraus! In Ermangelung einer solchen ‚Haut‘ haben sich die Menschen mit der Kultur eine Sphäre konstruktiver Weltdeutung geschaffen, die ihnen historisch- und kulturspezifisch ein Set von Deutungen zur Verfügung stellt um sich diese Haut jeweils individuell zu schaffen.1
Daraus ergibt sich, dass die Entwicklung ALLER Menschen an die Teilhabe an dem gemeinsamen vielfältigen menschlichen Bedeutungsraum gebunden ist, in dem die verschiedenen Perspektiven der Individuen kommunikativ und kooperativ sozial gelebt, letztlich implizit eine gemeinsame Sinnsuche, d.h. Kultur realisieren, aus dem sie sich gleichzeitig ihre Orientierung, ihren Eigen-Sinn generieren und fortentwickeln. Mit Séve: „Das Individuum ist einmalig im wesentlich Gesellschaftlichen seiner Persönlichkeit und gesellschaftlich im wesentlich Einmaligen seiner Persönlichkeit; das ist die Schwierigkeit, die zu bewältigen ist.“ (Sève 1973, S. 117)
Wird diese Teilhabe durch was auch immer – Beeinträchtigungen, Lebensbedingungen … – verhindert oder massiv beeinträchtigt, sind Menschen durch eine Überflutung von unstrukturierten Reizen in ihrer Lebensgrundlage bedroht und damit gezwungen, ihre Wahrnehmung a-sozial2 selbst zu regeln. Dies äußert sich dann in Stereotypien bis hin zu Selbstverletzungen. Wir sehen dieser Blick auf die menschliche Eigenart öffnet uns einen überraschen klaren Blick auf das Verhalten tiefgreifend entwicklungsbeeinträchtigter (‚schwerstbehinderter‘) Menschen ebenso, wie es aber auch insgesamt die Spezifik der eigenartigen NOTdurft der menschlichen Gattung nach kulturellem Austausch erklärt.
Zeichenhaft
Dieses Menschbild zeigt dabei, dass jedes Menschen- und Weltbild das religiöse wie auch das säkulare (!), eine ‚superfaktische‘ Deutung der Realität darstellt. Die Welt der Fakten und Regeln der Realität (Naturwissenschaften) mag völlig erklärbar sein3, bleibt aber letztlich ohne eine gegebene Perspektive, die den Tieren durch ihren Instinkt gegeben ist, unbedeutend, unverbindlich. Entsprechend sind eben, auch wenn uns das der Empirismus und Kognitivismus bis zu den ‚Bildungs‘-Wissenschaften heute weiß machen will, aus – auch statistischen – Daten keine normativen Schlüsse zu ziehen.4
Die Menschenwelt besteht offensichtlich aus zwei Ebenen untrennbaren und dennoch nicht auseinander ableitbaren Ebenen.5 Deren Charakter wird besonders deutlich, wenn wir uns diesen spezifischen von Menschengebildeten Kultur- und Bedeutungsraum als ein Kommunikatives System oder als Sprachraum vorstellen. In dieser Perspektive sind die Austauschprozesse in diesem Raum an Zeichen gebunden. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie zum einen über den Signifikanten eindeutige Verständigung ermöglichen, zum anderen durch die je individuell verschiedene Vorstellung, die mit dem Signifikanten verbunden wird – dem Signifikat – den individuellen Eigen-Sinn und die mehrdeutige Vielfalt der Sprache ermöglichen.
Es ist offensichtlich, dass in dieser selbst im Kleinen durch Vorlieben und Gewohnheiten normativ gewirkten Menschenwelt die Möglichkeit von Miss- und Fehlverständnissen sehr groß ist. Umso wichtiger ist es eine zentrale Bildungsaufgabe, sich nicht auf die Neutralität kognitiven Lernens zu beschränken, sondern dem Austausch um die jeweiligen Perspektiven der Beteiligten auf die jeweiligen Lerngegenstände Raum zu geben. Dies ermöglicht zum einen, das Gelernte mit dem Eigen-Sinn der Lernenden zu verbinden und so nachhaltig eben als Teil dieses Eigensinns zu verankern, während unverbunden aufgehäuftes Wissen schnell wieder verschwindet. Und zum anderen, gerade heute in der globalisiert zunehmend multikulturellen Welt noch wichtiger, die Lernenden an die immer zwischen Menschen bestehenden Differenzen zu gewöhnen, diese nicht als Belastung zu erleben, sondern sie im Gegenteil als Anlass eigener Entwicklung und lebendiger Flexibilität Wert zu schätzen.
Gerade dieser zweite Aspekt, der Angesichts der Hegemonie von ‚Fach-Lernen‘ und ‚Methodiken‘ gegenüber didaktischen Fragestellungen – Klafki, doppelte Erschließung des Unterrichtsgegenstandes (1962, S. 12) …– derzeit völlig unterbewertet ist, müsste angesichts der zu bewältigenden komplexen und nur multinational und multikulturell zu lösenden Probleme in den Mittelpunkt eines Unterrichts im 21. Jahrhundert gerückt werden.
Dem Wahren, Schönen, Guten
Kommen wir auf den Anfang zurück. Obwohl wir hier, wie oben betont, einen europäisch aufgeklärten und zudem deutlich bürgerlich elitären Fokus in dieser Trias festgestellt haben, die dem eben beschriebenen Auftrag von Bildung über alle Grenzen hinweg zu widersprechen scheint, kann diese Trias aber auch aus der Perspektive des hier vorgestellten Menschenbildes als sehr viel grundlegender als menschentypisch und weniger kulturtypisch angesehen werden. Bedenken wir die erarbeiteten Ebenen des menschlichen Sprachraums so haben wir:
- Zum einen die Ebene der Empirie, der durch bedeutungslosen Fakten und Regeln bestimmten Welt. Diese kann – zumindest im von Newtons Physik bestimmten Fenster – ‚wahr‘ abgebildet werden.6
- Ästhetik, ‚Schönheit‘ bestimmt dem gegenüber ein höchst subjektives eigen-Sinniges Urteil. – Über Geschmack lässt sich nicht streiten! – Wir finden hier das Individuum in seiner Einzigartigkeit adressiert.
- Was das ‚Gute‘ zu einer Zeit in einer (Multi-)Kultur sein soll, ist dagegen nicht Geschmacksache, sondern das Ergebnis von Diskursen und Vereinbarungen7!
Es ergibt sich so eine in dieser Trias ausgedrückte hoch aktuelle dreigliedrige Welt, gebildet aus den überdauernden faktischen Regeln der Realität, die evtl. als fehlerhaft beschrieben erkannt und entsprechend revidiert beschrieben werden können, nicht aber nach Belieben verändert werden können, den Individuen mit ihren eigensinnigen Vorstellungen und der Kultur der jeweiligen Gesellschaftsgruppierungen. Dabei bilden die letzten beiden Aspekte – Subjekt und soziale Kommunikationsgemeinschaft – den menschentypischen Sprachraum.
Hier ist die Nähe zu der von verschiedenen Autoren (Frege, Popper, Peirce …) beschriebene ‚Drei-Welten-Lehre‘ sehr deutlich. Während diese, wie auch bei Humes Gesetz (FN 4), sehr an das einzelne denkende und handelnde Individuum gebunden, quasi psychologisch entworfen sind, haben wir hier eine Sprachstruktur, in der neben ‚der Welt‘ das Individuum und seine kulturhistorisch be-deutende gesellschaftliche Gruppe in ihrem dialektisch spannungsvollen Gegenüber (s. Séve oben) koagieren.
Dabei können sich Subjekte, entsprechende Kompetenzen und Ressourcen vorausgesetzt, am freiesten verändern, ja ihre Vorstellungen und Ideen evtl. sehr weit über die im Sprachraum vorhandenen Vorstellungen hinaus entwickeln. Auch der gesellschaftliche Diskurs ist in seinen Deutungen prinzipiell nicht festgelegt, frei. Die gegenseitige Bestätigung von Vorstellungsgewohnheiten in gesellschaftlichen Gruppen wie auch in der Regel auch vorhandene Machtpositionen verhindern hier aber ein recht schnelles Fluktuieren und es zeigt sich eher eine behäbige Entwicklungsdynamik (vgl. beispielhaft: Kuhn 1983).
Umso mehr gilt es gerade wegen der anstehenden notwendigen großen Änderungen – Klima, Flucht und Wanderungsbewegungen aus verschiedensten Gründen, Ressourcenausgleich – , die auch die Integration bzw. zumindest die friedfertige Kooperation mit den verschiedensten Kulturen und Gesellschaftsentwürfen erfordern, eine Bildung im hier beschriebenen Sinne, d.h. nicht funktionalistisch oder kognitivistisch im Sinne der Nutzbarkeit verkürzt, sondern unter Bezug zum jeweiligen Eigen-Sinn bzw. der jeweiligen Kultur, d.h. kulturübergreifend, als Menschenrecht festzuschreiben. Dabei beschreibt dieses Recht nicht nur ein Individualrecht, sondern auch ein Recht der Weltgesellschaft und all ihrer Kulturen auf Bildung ihrer Mitglieder in diesem Sinne, da nur dann das Gesamtsystem eine Chance hat genügend lebendige Dynamik aufbringen zu können, um ein erträgliches Leben doch noch zu sichern.
“Es geht nicht an, das als utopistisch zu bezeichnen, woran wir unsere Kraft noch nicht erprobt haben.” (Buber 1950, S. 18)
Literaturverzeichnis
Buber, Martin (1950): Pfade in Utopia. 1. Aufl. Heidelberg: Lambert Schneider GmbH.
Habermas, Jürgen (1989): Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen
Handelns. Frankfurt (Main), proedler@uni-koblenz.de.
Klafki, Wolfgang (1962): Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung. In: Heinrich
Roth und Alfred Blumenthal (Hg.): Auswahl grundlegender Aufsätze aus der Zeitschrift die
Deutsche Schule. Didaktische Analyse. 3. Aufl. Hannover: Schrödel (1), S. 5–34.
Kuhn, Thomas S. (1983): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2., rev. u. um d.
Postskriptum von 1969 erg. Aufl., 7. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch
Wissenschaft, 25).
Sève, Lucien (1973): Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. 2. Aufl. Frankfurt (Main):
Verlag Marxistische Blätter (Marxistische Paperbacks, 34).
Syberberg, Hans-Jürgen (1977): Hitler, ein Film in Deutschland. Teil 4. Film. Online verfügbar
unter https://www.youtube.com/watch?v=vMRX1-neps8, zuletzt geprüft am 20.09.22.
Peter Rödler – proedler@uni-koblenz.de.
- Sie werden in dieser Eigenart für andere spezifisch erkennbar, machen sich so selbst einen Namen. Ihre Autonomie wird in ihren Urteilen, nicht in ihren kognitiven Lösungen, erkennbar! ↩
- Jenseits des sozialen, nicht antisozial! ↩
- Was allerdings nur im uns üblichen Anschauungsbereich gilt und sich im sehr Kleinen und sehr Großen durchaus komplex und damit nicht mehr vorhersagbar darstellt. ↩
- Dies entspricht dem immer wieder erwähnten Gesetz Humes, dass aus dem Sein kein Sollen abzuleiten ist. Allerdings fundierte Hume dies noch in einer Unterscheidung von Percept und Empfindung, wobei er den zweiten Bereich innerhalb der menschlichen Organisation als unabhängig aktiv ansah. ↩
- Evtl. wäre hier das Bild von zwei Dimensionen der selben Welt sogar besser, damit würden aber meine folgenden Erläuterungen verkompliziert. ↩
- Auch ein kompetent erhobenes statistisches Ergebnis ist in Bezug auf die angegebenen Bedingungen nachvollziehbar und damit ‚wahr‘. Ebenso wie Fakes nachprüfbar falsch sind. ↩
- Dr. ↩