Winfried Kronig
Universität Freiburg – Schweiz
Unaufhörlich stellt die Schule Prädikate über die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler aus. Diesen Prozess betreibt die Institution mit grosser Ernsthaftigkeit und unter Einsatz beträchtlicher Ressourcen. Beispielsweise werden allein in den deutschsprachigen Grundschulen der verhältnismässig kleinen Schweiz zwischen Herbst und Weihnachten rund 6.5 Millionen Noten vergeben. Und das ist eine sehr konservative Schätzung.
Aufgrund dieser dauerhaften und akribischen Beobachtung müsste man annehmen, dass schulische Leistungen sehr präzise abgebildet werden. Stärkere wie auch schwächere Schüler sollen von der Institution zuverlässig erkannt werden. Das ist aber nicht der Fall. Dieselben Leistungen können an verschiedenen Schulorten als herausragend oder aber als ungenügend eingestuft werden. Trotz ihrer unnachgiebigen Anstrengungen weicht die Schule fast schon notorisch vom Leistungsprinzip ab[1]. Obschon sie das Leistungsprinzip, und zwar ausschliesslich das Leistungsprinzip, als alleiniger Verteilungsschlüssel für ihre Prädikate anerkennt.
Auffällige Abweichungen
Einer der wichtigen Gründe für diese gravierenden Widersprüche und Fehler liegt in der regional unterschiedlichen Organisation der Bildungsstruktur. Bereits in den 1960er-Jahren machten Roderich von Carnap und Friedrich Edding erstmals auf das Phänomen aufmerksam. Sie stiessen damals eher zufällig auf dramatische Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern in Bezug auf die Bildungsabschlüsse. Die Befunde sorgten für empörtes Aufsehen in der Bevölkerung. In der damaligen Interpretation der Autoren entzogen ihre Analysen dem naiven Begabungsglauben jegliche empirische Basis[2]. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern hätten sonst damit erklärt werden müssen, dass die Jugendlichen in einigen Bundesländern systematisch weniger begabt sein müssten als in anderen. Die Autoren äusserten sogar Zweifel daran, dass der gute und der schwache Schüler überhaupt pädagogische Kategorien darstellen. Viel eher scheinen sich diese Begriffe als bildungspolitische Grössen zu entpuppen. Der Bildungserfolg eines Individuums ist nicht nur von seinen Fähigkeiten und Anstrengungen abhängig. Er ist auch das Ergebnis lokaler bildungspolitischer Entscheidungen.
Diese regionalen Unterschiede sind nicht verschwunden. Noch heute lassen sie sich mit einfachen bildungsstatistischen Vergleichen auf nahezu allen Ebenen der Bildungssysteme nachweisen. So schwanken sowohl die Schulbesuchsquoten anspruchsvollerer Schultypen auf der Sekundarstufe wie auch die Gymnasialquoten teilweise um ein Vielfaches zwischen den Regionen. Auch das schulische Scheitern verteilt sich regional ungleich. Beispielsweise variiert das Risiko für Kinder aus Zuwandererfamilien, als lernbehindert diagnostiziert zu werden, zwischen den Schweizer Kantonen um mehr als das Zehnfache und zwischen den Deutschen Bundesländern um das Siebenfache. Das örtliche Bildungsangebot lenkt die Bildungskarrieren. Nur wenige Kilometer Distanz können aus einem als leistungsschwach geltenden Schüler einen als leistungsfähig wahrgenommenen Schüler machen. Letzten Endes könnte bereits ein Wohnortwechsel der Bildungskarriere eines Schülers eine entscheidende Richtung geben.
Der übersehene Faktor
Es versteht sich von selbst, dass sich die gefundenen Muster auch infolge der gewählten Analyseeinheiten, Kantone bzw. Bundesländer, ergeben. Gegenüberstellungen und Einzelanalysen von Wohnkantonen weisen darauf hin, dass es ebenso messbare Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten gibt.
Die bildungsstrukturellen Unterschiede zwischen Stadt und Land waren in den 1960er-Jahren eines der grossen Themen[3]. Neben den Unterschieden aufgrund sozialer Herkunft, nationalstaatlicher Herkunft und dem Geschlecht bestimmten sie die Agenda der Bildungspolitik. Es ist wohl eine der Überraschungen der Entwicklung staatlicher Bildungsstrukturen, dass die regionalen Unterschiede und vor allem die Unterschiede zwischen Stadt und Land in den letzten Jahrzehnten weitgehend aus dem Blick von Bildungsforschung und Bildungspolitik geraten sind.
Dabei sind sie immer noch beobachtbar und interagieren mit anderen Ungleichheitsfaktoren. Eine Illustration dafür mag die Beobachtung sein, dass bezüglich der erreichten Bildungsabschlüsse für Kinder aus Zuwandererfamilien der Wohnkanton eine grössere Rolle spielt als ihr Herkunftsland. Beide Faktoren haben nichts mit der tatsächlichen Leistungsfähigkeit der betroffenen Schüler zu tun. Beide Faktoren sind dementsprechend durch die Schüler nicht beeinflussbar. Aber unter den leistungsfremden Einflüssen scheint die Wahl des Schulorts eine grössere Rolle zu spielen als die Staatszugehörigkeit.
Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien besetzen überzufällig häufig die unteren Plätze der Bildungspyramide. Eine der unmittelbaren Folgen ist, dass Kinder und Jugendliche aus der heimischen Bevölkerung ohne eigene Anstrengungen Aufstiegserfahrungen machen. Was für die Mütter und Väter gilt, ist offensichtlich auf das Bildungssystem übertragbar. Die ansässigen Kinder ziehen einen unmittelbaren Nutzen aus der Zuwanderung. In Anlehnung die Beschreibungen von Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny für den Arbeitsmarkt[4] kann man das Phänomen als Unterschichtung bezeichnen. Ein Effekt, der grundlegen auf den Erfolg oder Misserfolg in der Schule einwirkt.
Für sich genommen bedeutet der Unterschichtungseffekt bereits eine kaum zu rechtfertigende Abweichung vom Leistungsprinzip, weil die schulische Selektion offenbar sensitiv auf die nationalstaatliche Herkunft reagiert. Aber erst in Verbindung mit der Regionalität kann die Beschaffenheit des Effekts weiter aufgedeckt werden. Der Effekt tritt in den verschiedenen Regionen ungleich stark auf. Das ist ein Hinweis, dass er nicht zwingend bzw. unveränderbar ist, sondern vom variierenden örtlichen Bildungsstruktur entweder verstärkt oder aber abgeschwächt wird. Wenn man etwas gegen den störenden Effekt unternehmen wollte, wäre es vermutlich erfolgsversprechender an die Bildungsangebote zu korrigieren als bei den Leistungsfähigkeiten der einzelnen Schülerinnen und Schüler anzusetzen. Denn wie erwähnt, funktioniert das Phänomen unabhängig von den tatsächlichen Leistungsspektren der Schülerinnen und Schüler.
Vorgezeichnete Bildungskarrieren
mit ungewissem Ausgang für die Demokratie
Die staatliche Schule gilt als eine vielfältige Vorbereitung auf die spätere Integration in eine moderne Gesellschaft. Umgekehrt sind aber Schulen auch gesellschaftliche Institutionen, die deren Prinzipien, Dominanzen von Werten und Regeln übernimmt. Beispielhaft findet die Aneignung von Wissen in Schulen nicht in einem völlig freien Raum statt, sondern ist nach den Regeln des Wettbewerbs geordnet. In diesem Bildungswettbewerb gibt es Phänomene, die durchaus an monetäre Zusammenhänge erinnern. Beispielsweise misst sich der Wert eines Bildungsabschlusses daran, welche Bildungsabschlüsse die anderen haben. Aus dem Scheitern von anderen lassen sich dauerhafte Profite ziehen. Erworbene Bildungsabschlüsse können inflationieren und dadurch an Wert verlieren, wenn sie zu sorglos vergeben werden.
Auf dem Bildungsmarkt gibt es Gewinner und Verlierer, was nicht in jenem Fall auf individuelle Verdienste zurückzuführen ist. Das langfristige gesellschaftliche Problem besteht darin, dass sich die Verlierer entlang von sozialrelevanten Mustern anordnen. Es sind Kinder und Jugendliche aus unterprivilegierten Familien, aus Zuwandererfamilien und gegen Ende der Bildungslaufbahn aus den ländlichen Räumen eines Nationalstaats. Es ist anzunehmen, dass sich diese Faktoren im Laufe einer Bildungskarriere kumulieren oder wenigstens anhäufen können. Jede Selektionsstufe eines Bildungssystems wird zum potenziellen Risiko, Anschlüsse zu verpassen und unwiderruflich auf nachteiligen gesellschaftlichen Positionen zu verbleiben. Möglicherweise werden auch auf diesem Weg Bildungsstrukturen in künftige Gesellschaftsstrukturen überführt. Als ‘leiser’ Faktor beeinflusst die regionale Bildungsstruktur, von der Öffentlichkeit und den Medien weitgehend unbeachtet, im Hintergrund fortwährend die Bildungskarrieren von Kindern und Jugendlichen.
Zumindest ein Teil der so genannten Abgehängten werden strukturell erzeugt. Je weniger über diese nur analytisch zugänglichen Mechanismen bekannt ist, desto eher gelingt, es den Bildungserfolg zuverlässig zu individualisieren. Strukturelle Probleme werden in individuelle Schicksale umgedeutet.
[1] Kronig, W. (2007): Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Bern: Haupt.
[2] von Carnap, R. & Edding, F. (1966): Der relative Schulbesuch in den Ländern der Bundesrepublik von 1952-1960. 4. Aufl. Hrsg. Von der Hochschule f. internat. Pädagogische Forschung. Weinheim: Beltz.
[3] Dahrendorf, R. (1965): Bildung ist Bürgerrecht. Hamburg: Nannen.
[4] Hoffmann-Nowotny, H. J. (1973): Soziologie des Fremdarbeiterproblems. Eine theoretische und empirische Analyse am Beispiel der Schweiz. Stuttgart: Enke.