Dr.in Yesim Kasap Cetingök – Die Pädagogische Hochschule Oberösterreich
Die sozialen Beziehungen zwischen Menschen werden mit oder gegen ihren Willen durch eine institutionelle Ordnung geformt. Die sozialen Partner können dabei gleichberechtigte und gleichwertige Rollen übernehmen. Beziehungen können aber auch von oben nach unten strukturiert sein, das heißt in Über-Ordnung oder Unter-Ordnung aufgeteilt sein. Solche Ordnungen bilden die Machtverhältnisse ab. Diese Art von Beziehungen wird durch Begriffe wie Autorität, Gehorsam oder Disziplin beschrieben. Disziplin kann als jener Zustand bezeichnet werden, in dem die Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung dadurch sichergestellt ist, dass Subjekte gemäß dieser Ordnung handeln und Verhaltensreize und Impulse, die dieser Ordnung entgegenlaufen, unterdrücken. In der schulischen Praxis ermöglicht Disziplin einerseits überhaupt Lehr- und Lernprozesse, andererseits ist sie auch selbst den Gegenstand der Vermittlung. Die Machtverhältnisse der schulischen Disziplinierung können strukturell oder unmittelbar in der Kommunikation wirksam werden.
Strukturell wirkende Macht in der Schule ist auf die Umstellung der Herrschaftsweise in den modernen Gesellschaften zurückzuführen. Diese neue Herrschaftsform vollzog sich infolge des Übergangsprozesses von der traditionellen, ständischen zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft in den fast allen Lebensbereichen unserer heutigen Welt. Willkür, Gewalt und äußerer Zwang weichen in diesem Prozess zunehmend einer Regierungstechnik, die indirekt das Handeln der Menschen zu strukturieren sucht. Wenn die Strategien der Machtausübung über Menschen in einer historischen Ordnung betrachtet werden, ist die Tendenz einer allmählichen Verminderung unmittelbarer Gewaltanwendung hin zu einer Verfeinerung und Optimierung der Disziplinartechniken zu erkennen. Dabei wird öfters mit Selbstzwang und Selbstdisziplin, aber auch Selbsttätigkeit und Selbstwerdung gearbeitet.
Diese neue gesellschaftliche Form des Zusammenlebens kann auch in den schulischen Verhältnissen beobachtet werden. Mit der fortschreitenden Institutionalisierung der Schule und ihrer Organisation konnte zunehmend auf strukturell wirkende Macht als einem weiteren Instrument der Disziplinierung in der Erziehung ausgewichen werden. Die Regierungs- bzw. Disziplinartechniken reichen von direktem, körperlichem Zwang über den instrumentellen Gebrauch von Autorität zu indirekter, institutioneller Steuerung. Durch Selektion kann die schulische Praxis der Disziplinierung gesteuert werden. Leistungsdruck, schlechte Noten ersetzen die Strafen und fungieren somit als Disziplinartechniken: Das in der Erziehung immer mitlaufende Instrument der Beurteilung und Bewertung von Wissen und Können wird dann auch zur Sanktionierung von unerwünschtem, undiszipliniertem Verhalten in der Klasse genutzt, und es wird mit folgenreicher Aussonderung gedroht. Diese Drohungen oder Sanktionen erfolgen zwar aus der Erwartung einer disziplinierten Normbefolgung (etwa über die Vorstellung eines ungestörten Lernprozesses) heraus, es gibt jedoch keine objektiven Kriterien für den Einsatz von Disziplinierungsmaßnahmen in den Schulen. Der Zeitpunkt, zu dem ein Lehrer glaubt, der Lernprozess sei gestört, ist von Lehrer zu Lehrer verschieden: er hängt von subjektiven Faktoren wie Temperament, Persönlichkeit, Stimmung usw. wie auch von situativen, d. h. konkreten Faktoren wie Klassengröße, der Anzahl der bereits gegebenen Stunden an diesem Vormittag usw. ab. Der Einsatz einer Disziplinarmaßnahme muss aber auf jeden Fall pädagogisch gerechtfertigt werden.
Alfred Schäfer (1981) weist hierzu jedoch darauf hin, dass die einzelne disziplinarische Maßnahme kaum angesehen wird, ob sie einsichtig begründet ist oder nicht (vgl. ebd., S. 37). Wie sollte es sichergestellt werden – so Schäfer –, ob die möglicherweise gut begründete Handlung eines Lehrers von seinem Schüler nicht als ein Akt der reinen Willkür erlebt werde (vgl. ebd.). Zudem müsse auch das vermeintlich einsichtige Sich-Fügen eines Schülers kaum den überzeugenden Argumenten seines Lehrers zugeschrieben werden, sondern könne genauso gut „der Angst vor dem Sitzenbleiben bis hin zu Einflüssen der peer-group“ (ebd.) geschuldet sein. Die Kategorie der Einsicht kann in diesem Kontext als kein klares Kriterium gelten, mit dem die pädagogisch legitimen von den illegitimen disziplinarischen Maßnahmen unterschieden werden könnte. Aus der kommunikationstheoretischen Sicht lässt es in diesem Kontext von der „Intransparenz“ (ebd., S. 25) des Individuums (psychischer Systeme) (vgl. Luhmann 1990, S. 25) sprechen. Kein Individuum kann einem anderen Individuum in den Kopf schauen und deshalb bleiben Vermutungen über innerpsychische Absichten und Wirkungen von disziplinarischen Maßnahmen auch das, was sie sind: Vermutungen. Mit dieser Umstellung von Handlung auf Kommunikation kommen die Intentionen der Handelnden allenfalls als kommunikative Zuschreibungen in den Blick. Stellt man also von einer handlungstheoretischen auf eine kommunikationstheoretische Perspektive um, dann werden nicht mehr die Absichten der Handelnden für das Zustandekommen und die Ausgestaltung sozialer Situationen verantwortlich gemacht. So kann davon ausgegangen werden, dass der soziale Kontext, in dem schulischen Geschehen stattfindet, darüber entscheidet, inwieweit die Intentionen von Lehrpersonen überhaupt zur Sprache kommen. So ist nicht mehr moralisch-praktische Legitimierung einer Disziplinarmaßnahme im Vordergrund, sondern die kommunikative Verhandlung von schulischen Regeln.
Wenn die Lehrpersonen erwarten, die Schüler und SchülerInnen gemäß den schulischen Regeln handeln und dass sie ihre eigenen Verhaltensreize und Impulse, die eben dieser Ordnung entgegenlaufen, unterdrücken sollten, können sie in der Kommunikation Sanktionen ansprechen. So kann Macht empirisch erfassbar, „wenn mit negativen Sanktionen […] gedroht wird, um ein damit nicht zusammenhängendes Verhalten zu motivieren“ (Luhmann 2002, S. 69). Die angesprochene Drohung mit einer Sanktion konstituiert eine „wenn-dann-Konstellation“ nach der Art: ‚Wenn du dieser Anordnung nicht Folge leistest, dann droht dir Sanktion xy‘. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Abgrenzung der Drohung vom Einsatz faktischen Zwangs. Wenn die Drohung wahr gemacht wird, indem der Machthaber Zwang oder gar Gewalt einsetzt, wird das Kommunikationsmedium Macht verlassen. In den Aussagen einer Lehrperson, „wenn das jetzt nicht gut geht, dann könnt ihr in den Trainingsraum gehen und dort mit jemandem einen Vertrag aushandeln. So, ist jetzt Ruhe?“ gilt der Trainingsraumbesuch beispielsweise als eine Sanktion. Es handelt sich nicht um den Entzug moralischer Achtung, sondern mit der Androhung dieser Sanktion ist die Kommunikation in das Medium der Macht übergewechselt. Wenn die Lehrperson den Schüler auffordern würde, aufzustehen und zum Trainingsraum zu gehen, würde es bedeuten, dass die Lehrperson Zwang einsetzt. Diese Unterscheidung von Macht und Zwang ist von Bedeutung. Die Kommunikation im Medium der Macht versucht nämlich festzulegen, dass der Machtunterworfene (Schüler und Schülerinnen) von ‚selbst‘ tut, was er aus Sicht des Machthabers (Lehrperson) tun soll. Wird hingegen faktischer Zwang eingesetzt, dann handelt der Machtunterworfene nicht mehr ‚selbst‘, sondern er ‚wird‘ gleichsam gehandelt. Aus diesem Grund versuchen Drohungen immer auch auf das ‚Selbst‘ des Machtadressaten Einfluss zu nehmen. Diese Einwirkungsversuche beziehen sich dann nicht auf die ‚freiwillige‘ Einsicht des Machtunterworfenen – wie das in der moralischen Kommunikation versucht wird –, sondern auf die Einsicht in eine drohende Sanktion.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die institutionell verankerte Machtposition der Lehrkraft für sie auch potentiell auch persönlich verfügbar ist. Sie ist nicht aufhebbar, ist jedoch in der Kommunikation erfassbar. Die Bemühung um eine Einigung über ihren individuellen Umgang mit diesem Machtpotential ist seitens der Lehrperson jedenfalls notwendig. Diese Einigung ist permanent gefährdet, da institutionell verankerte Machtposition als potentielle Möglichkeit immer im Hintergrund steht. Die Schüler verfügen dagegen kaum über das nötige Sanktionspotential, um einen „Rückfall in sture Machtpraktiken” ausschließen zu können. So sind die Machtverhältnisse im schulischen Kontext als konstitutiv zu verstehen.
Literatur:
Luhmann, N. (1990). Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luhmann, N. (2003). Macht. Stuttgart: Lucius & Lucius. Luhmann, N. (2012). Die Moral der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp.
Richter, S. (2018): Theoretische Annäherungen an das Phänomen Strafe. Weinheim
Schäfer, A. (1981): Disziplin als pädagogisches Problem. Teil I. Disziplin: Selbstüberwindung und Disziplinierung. Essen.