Aus einer antimilitaristischen Position, aus der heraus der folgende Beitrag geschrieben ist, sind Kriege wie der Krieg in der Ukraine generell abzulehnen, so wie auch die zahllosen Kriege der USA und/oder der NATO und ihrer jeweiligen Verbündeten, erinnert sei an Panama (1989), Irak (1991), Somalia (1992), Jugoslawien (1999), Afghanistan (2001), Irak (2003), Libyen (2011), um nur einige wenige zu nennen. Es geht in der antimilitaristischen Perspektive niemals um die Rechtfertigung von Kriegen, sondern darum, die Bedingungen und Motive zu begreifen, die zu ihrer Entfesselung führten. Wer diesen Versuch nicht unternimmt, hat keine Chance, kriegerische Auseinandersetzungen in Verhandlungen zu beenden, geschweige denn sie in Zukunft durch vorausschauendes Handeln zu verhindern.
Die ‚Unschuld‘ des ‚Westens‘
1993 erschien eine vom ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr, Dieter Wellershoff, herausgegebene Veröffentlichung, die Ergebnisse des Seminars der Bundesakademie für Sicherheitspolitik zu geopolitischen Fragen dokumentiert. Dort ist u. a. Folgendes zu lesen:
„Ein vorrangiges Problem ist, daß sich die Staatswerdung der Ukraine zwangsläufig aufgrund der historischen Entwicklung in einer strikten Abgrenzung zu Rußland vollziehen muß. Die nationale Emanzipation verlangt die Zerstörung der alten Bindungen zu Rußland und die Beseitigung des in allen gesellschaftlichen Bereichen noch wirksamen russisch-sowjetischen Einflusses. Diese Destruktion müßte Hand in Hand gehen mit einem konstruktiven gesellschaftlichen Aufbau, um die Systemtransformation zu erreichen.“ (Wellershoff 1993, S. 23; Hervorhebungen, A. B.)
Der Krieg in der Ukraine hat beileibe nicht am 24. 2. 2022 mit der militärischen Intervention Russlands begonnen, simplifizierend als „Putins War“ etikettiert. Wie jeder Krieg, so ist auch dieser nicht plötzlich ‚ausgebrochen‘, auch dieser geht aus strukturell angelegten, friedlosen Bedingungen hervor, die über einen langen Zeitraum wirksam sind, bevor es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt. Organisierte Friedlosigkeit nennt der Friedensforscher Senghaas diesen Zustand, der zwischen Krieg und Frieden liegt und irgendwann in eine gewaltsame militärische Konfrontation übergehen kann (Senghaas 1981). Ausgehend von den konkreten Bedingungen organisierter Friedlosigkeit muss dieser Krieg analysiert werden. Nur wer ihn von seiner Vorgeschichte und seinen Vorbedingungen abschneidet, wie es die Politik momentan tut, kann das Kunststück vollbringen, Russland wieder zum Reich des Bösen (Evil empire; Reagan im März 1983) zu erklären.
Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang noch einmal daran, dass die deutsche Wiedervereinigung 1990 an das Versprechen gegenüber der UdSSR geknüpft war, die NATO nicht über die Grenzen Ostdeutschlands hinaus auszuweiten.1 Schon vergessen, dass bereits Jelzin und Primakow in den 1990er Jahren die NATO-Osterweiterung als reale Gefahr für ihr Land ausgemacht hatten? Schon vergessen, dass Wladimir Putin Anfang der 2000er Jahre eine europäische Friedensordnung ins Gespräch gebracht hatte, um Kriege in Europa zu verhindern? Schon vergessen, dass der russische Präsident auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 die ausbleibenden Sicherheitsgarantien für sein Land scharf kritisiert hat? Schon vergessen, dass die USA es sich 5 Milliarden Dollar haben kosten lassen2, in der Ukraine einen Regime-Change gegen den damaligen, demokratisch gewählten Präsidenten3 durchzuführen, der dann 2014 vor allem von rechtsextremistischen Gruppierungen (Svoboda; rechter Sektor) tatsächlich durchgeführt wurde? Der seit Beginn der 1990er Jahre immer wieder von Russland vorgetragene Wunsch nach Berücksichtigung seiner Sicherheitsinteressen, nach zwei Weltkriegen und der US-Politik des Containments gegenüber der Sowjetunion mehr als verständlich, wurde in den Wind geschlagen. Jetzt tut der ‚Westen‘ so, als habe er mit diesem schrecklichen Krieg nichts zu tun, keine Mitverantwortung für das Desaster, dessen Bedingungen er selbst mitgeschaffen hat.
Erschreckend, wie unterkomplex das Personal der ‚westlichen‘ europäischen Regierungen in diesem Konflikt (re)agiert: Außer beispielsloser Aufrüstung, Waffenlieferungen an die Ukraine, Dämonisierungsstrategien und eskalierenden Wirtschaftssanktionen gegen Russland sowie dem Einfrieren deutsch-russischer Kontakte fällt der Politik offensichtlich nichts mehr ein, die laut Verfassung doch den Auftrag hat, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Schaden von der Bevölkerung abwenden! So steht es im Grundgesetz der Bundesrepublik, eine Verpflichtung, auf die die Regierungsmitglieder ihren Amtseid abgelegt haben. Wären dazu aber gerade jetzt nicht ganz andere Wege einzuschlagen: vertrauensbildende Maßnahmen, vermittelnde diplomatische Initiativen, friedensstiftende Schritte, vor allem auch: verbale Abrüstung?
Erschwerend kommt hinzu, dass die Debatte um diesen Krieg erheblich eingeschränkt wird. Putin-Versteher werden diejenigen genannt, die auch nur die Frage nach der Mitverantwortung des ‚Westens‘ stellen, Verschwörungstheorien werden unterstellt, wo die USA als Mitakteurin in diesem Krieg genannt wird (so der grüne Schwerwaffenbegeisterte Hofreiter). Gar vom „Lumpen-Pazifismus“ ist die Rede, um Menschen zu diffamieren, die Waffenlieferungen an die Ukraine kritisieren (Sascha Lobo in Spiegel-Netzwelt vom 20. 4. 2022) – eine für die Demokratie äußerst gefährliche Einschränkung der Debatten- und Diskurskultur. Von der veröffentlichten Meinung abweichende, alternative Sichtweisen werden von Recherchezentren eiligst korrigiert. Faktenchecker erklären uns, wie der Ukraine-Krieg ‚richtig‘ eingeordnet werden muss.
Pragmatische Gegenaufklärung
Was ist angesichts einer Politik zu tun, die sich gegenüber multifaktoriellen Erklärungen strikt abschottet und vor allem keine Idee von einer dringend erforderlichen Strategie der Entspannung zu haben scheint? Was ist zu tun, wenn sich die Politik geradezu autistisch gegenüber der geschichtlichen Erfahrung verhält? Im Rahmen der gegenwärtigen Machtverhältnisse unter den Bedingungen einer rosa-grün-gelben Regierungskoalition, in denen die einstige Ökopax-Partei durch ihre auffällig friedlose Aggressivität eine Sonderstellung einnimmt, bleibt antimilitaristisches Handeln vorerst auf die bescheidene Arbeit einer pragmatischen Gegenaufklärung beschränkt. Ob diese Aussicht auf öffentliche Wirkung hat, hängt davon ab, inwieweit es ihr gelingt, aus dem politisch verhängten Nischendasein neue Kanäle der Kommunikation in die Öffentlichkeit zu erschließen.
1 Friedensarbeit und Friedenspolitik haben die Verpflichtung, die Genese eines Konflikts von seinen geschichtlichen Ausgangsbedingungen her differenziert zu rekonstruieren, die Motive sämtlicher beteiligter Parteien herauszuarbeiten. Es geht darum, die ökonomischen und geopolitischen Hintergründe zu beleuchten, die zur Eskalation des Konflikts beigetragen haben (vgl. ausführlich: Wahl 2022). Völlig kurzschlüssig und zugleich irreführend ist es, die Ursache für diesen Krieg im „territorialen Hunger“ der Russischen Föderation zu lokalisieren (Steinmeier im Jahr 2014) oder gar, pathologisierend, auf die „Einkreisungsobsession Putins“ zurückzuführen, wie es der Politikwissenschaftler Münkler am 15. 2. 2022 in einer Radiosendung formulierte. Der Blick in die Geschichte ebenso wie der Blick auf die Landkarte müssten eigentlich bereits genügen, um die der Russischen Föderation unterstellte Expansionslust zu relativieren. In die Analyse der Genese des Konflikts sind daher die geopolitischen und ökonomischen Interessen, insbesondere auch die der USA, einzubeziehen, die lange vor der Entfesselung dieses Konflikts in den militärischen Planungen ‚westlicher‘ Sicherheitspolitik fest verankert waren. Die seit Beginn der 1990er Jahre in mehreren Phasen erfolgende Osterweiterung der NATO bis an die Grenzen Russlands ist im Hinblick auf die Genese des gewaltsamen Konflikts als Faktor angemessen zu gewichten.
2 Eine friedenspolitische Bildungsarbeit hat die Aufgabe, die extrem eingeschränkte Debattenkultur durch Einbeziehung von vielfältigen Quellen aufzubrechen, um eine angemessene Grundlage für eine differenzierte Beurteilung des Systems internationaler Beziehungen und der ihm innewohnenden Konfliktpotenziale zu schaffen. Der veröffentlichten Meinung ist ein breites Meinungsspektrum entgegenzusetzen, das sich aus unterschiedlichsten Positionen speist. Eine Berichterstattung, die das Freundbild Ukraine unter Auslassung ihres gewaltigen Faschismusproblems kultiviert und gleichzeitig das Feindbild Russland ins Dämonische steigert, ist in ihrem antiaufklärerischen Charakter mit einer demokratischen Diskurskultur völlig unvereinbar. Der Unfähigkeit, differenzierte Analysen zur Genese des Ukraine-Kriegs zur Grundlage politischer Entscheidungen und Handlungen zu machen, ist die wissenschaftliche Wahrheitssuche entgegenzusetzen.
3 Eine friedenspolitische Bildungsarbeit hat der Feindbildkonstruktion entgegenzuwirken, die seit Jahrzehnten das Bild der Bevölkerung von Russland maßgeblich zu formieren versucht. Feindbilder organisieren die „Kollektivpsyche“ der Menschen (so Dieter Senghaas), sie filtern die Sichtweise auf die Realität dergestalt, dass wir sie eindimensional im Sinne herrschaftlicher Interessen wahrnehmen sollen. Feindbilder verschleiern die tatsächlichen Interessen, die der so genannten Sicherheitspolitik zugrunde liegen. Darüber hinaus werden Attribuierungen übermittelt, die die Feindschaft vertiefen. Die rassistische Aufladung des Feindbildes Russland weckt Erinnerungen an die dunkelsten Phasen der deutschen Geschichte. Dringend erforderlich ist, was der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann 1969 eingefordert hat: Wir müssen die „Gewohnheit“ entwickeln, die Situation immer auch aus der Sicht des so genannten „Gegners“ wahrzunehmen, um zu einer angemessenen, differenzierten Beurteilung zu gelangen.
4 Gerade in Krisen- und Kriegszeiten ist es elementar, die kulturellen und wissenschaftlichen Kooperationen und Kontakte zu allen Konfliktparteien nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern zu intensivieren – eine der wichtigsten Einsichten der Friedensforschung. Von Seiten einer kritischen Friedensarbeit ist daher der hochproblematischen Entscheidung vieler Kultureinrichtungen und der Hochschulen für ein Einfrieren sämtlicher Beziehungen zu Russland entschiedener Widerstand entgegenzusetzen. Diese Institutionen haben in Krisen- und Kriegszeiten erst recht den Auftrag, das Gespräch, den Dialog und die Kooperation fortzuführen, wenn die Politik ausschließlich auf Konfrontation ausgerichtet ist. Hätten wir denselben Maßstab an die unzähligen Kriege der USA in vielen Teilen der Erde angelegt, dürften wir auf Jahrzehnte hinaus keine Kontakte mehr zu diesem Land pflegen, was ebenso kontraproduktiv gewesen wäre wie die gegenwärtige Blockierung der kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zu Russland.
5 In den letzten Jahrzehnten war es möglich, die Beziehungen der Bundesrepublik zu einem Land nachhaltig zu ramponieren, dem Deutschland im 20. Jahrhundert so viel Schaden und menschliches Leid zugefügt hat, und dem es gleichsam in geschichtlicher Hinsicht sehr viel verdankt. Diese Verwerfung ist (nur) ein Indiz der gründlich gescheiterten „Aufarbeitung der Vergangenheit“ (Adorno). Wäre sie gelungen, hätten die feindlichen Attribuierungen gegenüber ‚den‘ Russen keine Chance der Reaktivierung gehabt. Das Versagen des deutschen Antifaschismus zeigt sich u. a. in der fast mühelosen Auffrischung feindseliger Haltungen gegenüber den Menschen russischer Herkunft, die in den kollektivpsychischen Katakomben des deutschen Sozialcharakters schlummerten und lediglich reaktiviert werden mussten. Nur wer Konsequenzen aus diesem Scheitern zieht, die Fehler aufarbeitet, hat eine Chance, künftiger Barbarei den Boden zu entziehen.
Der Fokus der Friedensarbeit ist auf die rückwärtsgewandte, riskante Außenpolitik der gegenwärtigen Regierungskoalition zu richten, deren verheerende Folgen für die Bevölkerung jetzt schon absehbar sind. Eine Außenpolitik verdient das Etikett „rückwärtsgewandt“, wenn
– für sie Entspannung ein Fremdwort ist,
– sie expressis verbis darauf gerichtet ist, die Wirtschaft der Russischen Föderation zu „ruinieren“ (Baerbock),
– sie weiter die Kultur der militärischen Zurückhaltung Deutschlands auflöst, die eine wichtige Konsequenz aus der faschistischen Erfahrung gewesen ist,
– sie schwere Waffen in Kriegs- und Krisengebiete liefert,
– sie die wirtschaftliche Konfrontation auf dem Rücken der Bevölkerung betreibt und damit Lebenslagen und ein politisches Klima schafft, in dem reaktionäre Gesinnungen wunderbar gedeihen können.
Diesen rückwärtsgewandten Charakter der gegenwärtigen Außenpolitik muss Friedensarbeit ins Zentrum ihrer Kritik rücken, den Rückfall hinter eine Politik der vertrauensbildenden Maßnahmen und der Entspannung. Drohgebärden und Kriegsgeschrei, Wirtschaftssanktionen und Waffenlieferungen – sie bieten keinen Ausweg aus diesem Konflikt. Vernunft und Besonnenheit sowie diplomatische Initiativen sind dringend erforderlich, um Friedensstrategien durchzusetzen – gegen eine inakzeptable Außenpolitik, die sich zu Unrecht als alternativlos präsentiert.
Literatur:
Heinemann, G.: Einen neuen Anfang setzen. In: ders.: Präsidiale Reden, Frankfurt/Main 1977, S. 89-91
Senghaas, D.: Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. Frankfurt/Main 1981
Wahl, P.: Der Ukraine-Krieg und seine geopolitischen Hintergründe. In: Das Argument. Nr. 338. Online Supplement 2022, S. 27-42
Wellershoff, Dieter (Hrsg.): Herausforderungen und Risiken. Deutschlands Sicherheit in der veränderten Welt, Berlin/Bonn/Herford 1993
Armin Bernhard beschäftigt sich seit mehreren Jahrzehnten mit Fragen der erziehungswissenschaftlichen Friedensforschung. Er ist Mitglied der Deutsch-Russischen Friedenstage e.V., einem Verein, der sich um den kulturellen Austausch zwischen Russland und Deutschland kümmert.
* Es handelt sich bei diesem Beitrag um eine stark gekürzte persönliche Stellungnahme.
- Das Versprechen ist protokolliert und durch Aussagen hochrangiger Politikerinnen und Politikern des ‚Westens‘ hinreichend belegt. ↩
- Die US-Europabeauftragte Victoria Nuland hat am 13. 12.2013 diese Summe genannt, die die USA in vorangegangenen Jahren in die Ukraine investiert hätten, um dort – in ihren Worten – ‚Demokratie, Sicherheit und Wohlstand‘ zu garantieren. ↩
- Die Korrektheit dieser Wahl wurde durch die OSZE bestätigt. ↩