Der Rechtsradikalismus hat sich mehrfach modernisiert, aber nie so effektiv wie heute. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er einige Zeit eher unsichtbar, auch wenn er oft auch in zentralen Bereiche der Gesellschaft, in den Verwaltungen und Bundesbehörden genauso wie in der Wissenschaft weiter lebendig blieb. Öffentlich sichtbar wurde er das erste Mal wieder mit dem Heidelberger Manifest (17. Juni 1981), unterzeichnet von 15 Professoren. Hier wurde “Unterwanderung des deutschen Volkes” und die “Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums” durch “Ausländer” angeprangert. Auf diese Weise wurde das rechtsextreme Denken wieder schrittweise salonfähig, zunächst eher noch völkisch orientiert im Rahmen der Einwanderungsdebatten, dann aber zunehmend kulturalistisch. Mit der Anlehnung an die sich Dank Samuel P. Huntington[1] global ausbreitende kulturalistische Wende gelang dem Rechtsradikalismus eine erste wirkliche Modernisierung seiner rassistischen Kernbotschaft, nämlich die kulturrassistische Transformation des klassischen Rassismus. Die am Ende der 80-er Jahre einsetzenden, nach der Wende noch einmal massiv verstärkten Pogrome (Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen) machen den Rechtsradikalismus auf diese Weise zu einem unübersehbaren politischen Faktor in der Öffentlichkeit, der offensichtlich auch in der bürgerlichen Mitte durchaus klammheimliche Sympathien erweckt. Der kulturrassistische Rechtsradikalismus ist seitdem in der gesellschaftliche Mitte wieder deutlich sichtbar geworden. Sein modernisiertes Weltbild ist angekommen und hat sich nahezu veralltäglicht. Dieses Weltbild ist sogar zu einer Leitdifferenz innerhalb politischer Strömungen (AfD) und bei zahlreichen behördeninternen Fachkräften geworden. Das lässt sich nicht zuletzt an der jahrzehntelangen offen kulturalistisch-antiislamistisch ausgerichteten Ermittlungspraxis bei der NSU-Mordserie und sogar noch in jüngster Zeit bei der behördlichen Umgangsweise mit dem Anschlag in Hanau vom 19. Februar 2020 zeigen. Dieses Bemühen um Veralltäglichung lässt sich selbst im akademischen Umfeld beobachten, wie nicht zuletzt die Identitäre Bewegung und neuerdings die Debatte um die Identitätspolitik belegen. Diese an globale Tendenzen angelehnte Modernisierung des Rechtsradikalismus hat dazu beigetragen, dass er zunehmend akzeptiert wird und insoweit zu einem Teil des gesellschaftlichen Mainstreams werden konnten, selbst wenn die radikalsten rechten Aktionen in aller Regel verurteilt werden2.
Heute kann man eine erneute, eine zweite Modernisierung des Rechtsradikalismus beobachten. Wieder wird das durch eine Anlehnung eine globale Strömung versucht, in diesem Fall nicht an eine kulturalistische Bewegung, sondern an die sich anlässlich der aktuellen Corona-Pandemie ausbreitende Impfskeptikerbewegung, eine längst global agierenden populistisch orientierten Strömung. Bei der letzten Modernisierung ging es um eine kulturalistische Reformulierung des überkommenen Rassismus, die Übermalung der klassische Volkskörperlyrik durch eine Kulturkörperlyrik. Geht es wieder nur um eine Modernisierung ihrer Kernbotschaft oder wird dieses Mal das Erscheinungsbild des Rechtsradikalismus insgesamt reformuliert? Und gelingt es, sich in dem bürgerlichen Kern der Gesellschaft weiter zu verfestigen oder kommt es eventuell zu einer Spaltung der Gesellschaft und damit zu einem Verlust jener klammheimlichen Unterstützung in der gesellschaftlichen Mitte, wie das gegenwärtig zunehmend postuliert wird? Der Rechtsradikalismus lehnt sich dieses Mal nicht an eine kulturalistische, sondern eine emotionalistische (“emotionalism”)3 Bewegung an. Anders als bei der letzten Adaption geht es nicht mehr um eine kulturalistische, ethnisierende Überhöhung der Gesellschaft und eine anschließende rassistische Bewertung der so erzeugten unterschiedlichen kulturellen Konstruktionen, sondern um eine emotionalistische Überhöhung des gesellschaftlichen Alltags selbst und eine anschließende rassistische Bewertung der so erzeugten unterschiedlichen Alltagskonstruktionen. Dazu zwei besonders plastische Beispiel:
- a) Im Februar 2022 haben fast drei Wochen lang LKW-Fahrer*innen in Ottawa demonstrativ die Innenstadt blockiert, um gegen einen Erlass der Regierung zu demonstrieren, nach dem von den LKW-Fahrer*Innen ein Impfnachweis für den Grenzübertritt von den USA nach Kanada verlangt wird. Und schon nach wenigen Tagen weitete sich diese Blockade aus und wurde schnell von weiteren Demonstranten, von Aextrovertierten Bibelfreunden, Esoterikern, verschiedensten Schwurblern … auch Rassisten und “Neonazis”4 unterstü Es ist am Ende sogar zu einem sog. “Jericho-Marsch5“, zu einer siebenmaligen Umkreisung des Parlaments gekommen, bis zuletzt alles von der Polizei beendet wurde. Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass der kritisierte Impfnachweis nicht nur nach Kanada hinein, sondern auch von den USA bei der Einreise in die USA verlangt wird und insofern überhaupt niemand (!) aus den USA zurückkommen kann, der nicht zuvor bei der Ausreise in die USA schon diesen Nachweis erbracht hat. In den Interviews wird dann auch deutlich, dass es unter den Beteiligten sogar durch und durch akademisch orientierte Studierende der Universität gab, denen es um eine Kritik an denen “da oben” unter Bezug auf eine ihnen eigene “körperliche” Gefühlslage geht, sie anderseits aber akademisch betrachtet nichts gegen Impfen hätten. Im Bericht der SZ wird abschließend Noemi Claire Lazar6 zitiert:
“Wir wissen noch nicht, was da gerade passiert. Aber je länger wir versuchen, es mit unserer Terminologie der Vergangenheit zu beschreiben, desto länger wird es dauern zu verstehen, was tatsächlich passiert ist… Zu glauben, dass diese Bewegung wieder verschwindet, ist vermutlich naiv…”
Tatsächlich wird hier so etwas wie eine emotionalistisch fundierte Wirklichkeitskonstruktion plastisch, die von Menschen vertreten wird, die sich in anderen Situationen durchaus akademisch-wissenschaftlich orientieren. Auffällig ist, dass sie dabei aus den USA von Trump-Fans mit erheblichen Spenden unterstützt worden sind.
- b) In einem Gespräch mit dem Kölner Stadtanzeiger über die Gegner von Corona-Maßnahmen gibt der Sozialpsychologe Harald Welzer7 eine vergleichbares Statement über die Corona-Leugner ab:
“Ich kann es rational nicht nachvollziehen, aber irgendwie nachempfinden, weil Ängste immer etwas sind, was man weder begründen noch verstehen muss…”
Auch er verweist auf eine emotionalistisch fundierte Wirklichkeitskonstruktion. Er spielt dabei in seinem Statement auf eine alltagslogische Argumentationssequenz, ein Argumentationsverfahren an, das wohlvertraut ist. Das angesprochene Verfahren rechnet mit alternativen Wirklichkeitskonstruktionen und beinhaltet die Bereitschaft, alternative Positionen zu tolerieren, selbst wenn sie einem zutiefst widerstreben und weit weg von dem sind, was man selbst für rational und damit vernünftig hält. Man konzediert dem anderen das Recht auf eine sogar diametral entgegen gesetzte Wirklichkeitskonstruktion, jedenfalls solange sie aus einer emotional belastenden Lage resultiert.
In beiden Beispielen wird akzeptiert, dass es grundsätzlich unterschiedliche Form einer alltagslogischen Vernunft gibt, die sich jeweils autopoietisch ausgerichteten situationsspezifischen Regeln verdanken. Dies ist nach Jean‑François Lyotard eine Konzeption, die für ihn ein typisch postmodernes Phänomen darstellt. Er notiert in seiner Arbeit über postmodernes Wissen8:
“Das postmoderne Wissen ist nicht allein das Instrument der Mächte. Es verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen. Es selbst findet seinen Grund nicht in der Übereinstimmung der Experten, sondern in der Paralogie (d.h. in einer abweichenden der konkreten Situation geschuldeten Eigenlogik WDB) der Erfinder.”
Die von Welzer notierte alltagslogische Argumentationssequenz entsprecht letztlich den Befunden von Lazar. Es wird in beiden Fällen vorausgesetzt, dass es um einander diametral entgegengesetzte Deutungsansätze geht, Deutungsansätze im Dienst der Rekonstruktion einer von einer Pandemie belasteten konkreten alltäglichen Situation des Zusammenlebens. Eine Deutung orientiert sich an den Narrativen von Expert*innen aus der Wissenschaft, den Behörden und dem Staat. Eine Deutung resultiert aus der konkreten emotional belastenden Alltagssituation selbst. Die beiden hier implizierten Deutungen heben damit auf zwei miteinander konkurrierende gesellschaftliche Verfahren im Umgang mit urbanen Alltagsrisiken ab. Insoweit handelt es sich also in der Tat um eine typische postmoderne Konstruktion. Aber in diesen beiden Fällen geht es nicht einfach um eine Vielfalt von einer konkreten Situation geschuldeten Erzählungen, sondern erstens um eine Vielfalt von Deutungen innerhalb einer einzelnen Person. Je nach der Situation wird von der gleichen Person mal das eine, mal das andere Narrativ als legitime Deutung betrachtet. Und es geht zweitens um eine Polarisierung zwischen einer rationalen und einer emotionalen Konstruktion alltäglicher Wirklichkeit. Und es geht drittens um eine Priorisierung der emotionalen Deutung und damit um eine emotionalistische Vorgehensweise, die das Körpergefühl verherrlicht, sich aber gleichzeitig auch zubilligt, in anderen Situationen auch ganz andere Deutungen zu praktizieren. Und es geht viertens um eine polemisch-politische Aufwertung der priorisierten Deutung gegenüber denjenigen, die angeblich die Deutungshoheit für den Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen für sich beanspruchen. Und genau das macht dieses Denken für rechtsradikale Positionen so attraktiv. Es evoziert soziale Netze, genauer Narrativgemeinschaften gegen die da Oben mit ihren Vorstellungen und Erwartungen.
[1]Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. 5. Auflage. Siedler bei Goldmann, München 1998
[2]Bukow, Wolf-D.: Urbanität ‑ eine globales Narrativ wird zur Herausforderung. In: Meier, Sabine / Schlenker, Kathrin (Hg.): Teilhabe und Raum. Interdisziplinäre Perspektiven und Annäherungen an Dimensionen von Teilhabe. Opladen, Toronto: Barbara Budrich Verlag S.37ff.
[3] Diese Bezeichnung stammt ursprünglich aus der amerikanischen Kunstkritik.
[4] Süddeutsche Zeitung vom 22.2.2022
[5] Der Jericho-Marsch ist ursprünglich ein von G. Fr. Händel komponierter und von Uwe Krause‑Lehnitz für Blasorchester arrangierter Festmarsch. Er spielt auf das Alte Testament an.
[6] Professorin innerhalb der Social Sciences an der University of Ottawa.
[7] Prof. Dr. Harald Welzer von der Universität Witten/Herdecke und Direktor der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei.
[8] Jean‑François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Wien 1994. S. 16