Covid-Krise, Klima-Krise, Ukraine-Krise: Diese drei Krisen beschreiben nur einen Bruchteil der aktuellen globalen Herausforderungen, denen sich die Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert gegenübergestellt sieht. Alle drei Krisen offenbaren eines: die Bedeutung lokaler Handlungen und ihre globalen Auswirkungen sowie vice versa. Dieses Phänomen wird in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften als Glokalisierung bezeichnet und beschreibt die multiplen Zusammenhänge zwischen lokalen und globalen Handlungen, Akteuren und Strukturen im Zeitalter der Globalisierung. Ebendiese Zugangsweise zur Globalisierung greifen auch die Sustainable Development Goals (SDGs) auf, jene 17 von den Vereinten Nationen im Jahr 2015 formulierten und von der UN-Generalversammlung verabschiedeten Ziele, die bis 2030 umgesetzt werden sollen, um global Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zu stärken. Der vorliegende Artikel analysiert – von der aktuellen multiplen Krisensituation ausgehend – die Potentiale und Perspektiven der SDGs zur Bewältigung globaler Probleme und reflektiert dabei auch die Widersprüche und Leerstellen, die sich bei konkreter Beschäftigung mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung offenbaren. Schließlich folgt aus diesen Erkenntnissen ein Plädoyer zum Weiterdenken der SDGs im Sinne einer kritischen Ausrichtung von Global Citizenship Education (GCE).
Der Konflikt in der Ukraine, der durch den Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar 2022 zum Krieg wurde, steckt allen noch tief in den Knochen, war es vor Kurzem doch noch undenkbar gewesen, dass auf europäischem Boden im 21. Jahrhundert ein Krieg stattfinden wird. Doch die Invasion der russischen Armee in der Ukraine zeigt deutlich, wie schnell das vermeintliche Sicherheitsgefühl getrübt werden und eine Bedrohung der demokratischen Regierungs-, Gesellschafts- und Lebensform (vgl. Himmelmann 2016) stattfinden kann. Denn der Angriff Russlands auf die Ukraine stellt (auch) einen Angriff auf die Demokratie dar. Neben den Ereignissen in der Ukraine zeichnet auch die Covid-Pandemie ihre Spuren und lässt keinen Stein auf dem anderen: Die Corona-Pandemie und ihre Folgen offenbaren zudem, wie instabil ein vermeintlich sicheres System ist, wenn unvorhersehbare Ereignisse eintreten. Als umso erschütternder erweist sich, dass auch vorhersehbare, ja nahezu täglich sicht- und spürbare Symptome einer Krise verharmlost und geleugnet werden. Die Klimakrise und der Umgang mit ihr sind längst zu der großen Zukunftsfrage geworden. Dabei greifen Nachhaltigkeit und Frieden Hand in Hand. Auf Grundlage der Sustainable Development Goals (SDGs), jener Ziele für nachhaltige Entwicklung, die 2015 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurden, soll bis 2030 eine ökologisch-(ökonomisch-)soziale Transformation erfolgen, die zu einer nachhaltigeren und friedlichen Weltgesellschaft führt. Im Gegensatz zu den Vorgängern der SDGs, den sogenannten Millennium Goals, fokussieren die SDGs jedoch nicht nur auf den globalen Süden, sondern nehmen auch die Staaten des globalen Nordens in die Verantwortung. In 17 Ziele und 169 Unterziele unterteilt, werden soziale, wirtschaftliche, politische und ökologische Ziele formuliert, die bis 2030 verwirklicht werden sollen, wie die folgende Grafik zeigt:
Die Sustainable Developement Goals der Agenda 2030 (BKA o.J.)
Während die 17 Ziele der Agenda 2030 aufgrund ihrer Darstellung als bunt illustrierte Kästchen weit verbreitet und durchaus bekannt sind, wirkt gerade ein Blick in die Präambel der Agenda wichtig, um die Zielsetzung der SDGs nachvollziehen und diese miteinander in Zusammenhang bringen zu können:
„Diese Agenda ist ein Aktionsplan für die Menschen, den Planeten und den Wohlstand. Sie will außerdem den universellen Frieden in größerer Freiheit festigen. […] Sie [die Ziele der Agenda] sind darauf gerichtet, die Menschenrechte für alle zu verwirklichen und Geschlechtergleichstellung und die Selbstbestimmung aller Frauen und Mädchen zu erreichen. Sie sind integriert und unteilbar und tragen in ausgewogener Weise den drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung Rechnung: der wirtschaftlichen, der sozialen und der ökologischen Dimension.“ (Vereinte Nationen 2015, o.S.)
Die Unteilbarkeit der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung bildet – ebenso wie jene der Menschenrechte – eine Grundlage für ihre umfassende Umsetzung und verdeutlicht zudem den integrativen Charakter der verschiedenen Dimensionen. Ohne die Erfüllung der sozialen und wirtschaftlichen Dimensionen der Agenda 2030 ist auch eine ökologische Transformation nicht möglich und vice versa. Die in den SDGs formulierten Ziele wollen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen berücksichtigen, um Nachhaltigkeit zu ermöglichen. Hierbei stellt sich die durchaus berechtigte Frage, inwiefern die Forderungen nach Wirtschaftswachstum (Ziel 8) und insbesondere jene nach „höhere[r] wirtschaftliche[r] Produktivität“ (BKA o.J., Ziel 8.2.) mit ökologischen Zielen – wie beispielsweise dem Schutz von Klima (Ziel 13), Leben an Land (Ziel 14) und Leben unter Wasser (Ziel 15) – und sozialen Zielen – wie der Schaffung weniger Ungleichheiten (Ziel 10) und keiner Armut (Ziel 1) – vereinbar sind. Sind es nicht gerade die neoliberalen Auffassungen von menschlichen, tierischen und anderen planetaren ‚Ressourcen‘, die dem Credo einer ökonomischen Verwertbarkeitslogik folgend zur Ausbeutung der Menschen und des Planeten geführt haben? Wenngleich die ökonomischen Ziele nicht die dominanten im Rahmen der SDGs sind, gilt es gerade die Frage, ob Wirtschaftswachstum und Stärkung der Industrie in einem Atemzug mit Geschlechtergleichstellung, Armutsbekämpfung und höherwertigerer Bildung genannt werden können, kritisch zu reflektieren.
Doch wie lassen sich in einer globalisierten und kapitalistisch geprägten Welt die, trotz aller Kritik, einen Meilenstein darstellenden SDGs umsetzen, um die ‚große‘, sozial-ökologische Transformation zu ermöglichen? Die Antworten auf diese Frage sind komplex und niemals allumfassend. Unterschiedliche Disziplinen – von der Politischen Bildung, Menschenrechtsbildung und Friedenspädagogik über das Globale Lernen und die Bildung für nachhaltige Entwicklung bishin zur Wirtschafts- und Verbraucherbildung – befassen sich mit Teilaspekten dieser Fragen und präsentieren unterschiedliche Ansätze. Global Citizenship Education (GCE) bündelt diese unterschiedlichen Zugänge und begreift sich als interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Fragen der Zukunft im Sinne einer „Politischen Bildung für die Weltgesellschaft“ (vgl. Wintersteiner et al. 2015). GCE vereint dazu die unterschiedlichen Zugänge und kann als umbrella term begriffen werden (vgl. ebd., S. 9). Dabei lassen sich innerhalb der GCE zwei grundlegend verschiedene Zugänge zur Lösung globaler Probleme in der glokalisierten Welt identifizieren, die als Soft Global Citizenship Education und Critical Global Citizenship Education charakterisiert werden können:
Soft Global Citizenship Education | Critical Global Citizenship Education | |
Probleme/Ausgangslage | Armut, Hilflosigkeit | Ungleichheit, Ungerechtigkeit |
Ursachen der Probleme | Unterentwicklung, fehlende Bildung, mangelnde Ressourcen etc. | Komplexe ungleiche Strukturen und Machtbeziehungen |
Motive für die Auseinandersetzung mit globalen Problemen | humanitär/moralisch
Existenz als Mensch: wirft moralische Themen auf |
politisch/ethisch
Existenz als Weltbürger*in: wirft politische Themen auf |
Umgang mit (vermeintlich) westlicher Überlegenheit | Hilflosigkeit, Naturalisierung westlicher Überlegenheit | Kritik am Mythos der westlichen Überlegenheit |
Handlungsoptionen als Individuum | Kampagnen unterstützen, Zeit, Ressourcen und Geld spenden | eigene Position reflektieren und an Prozessen der politischen Systemänderung partizipieren |
Soft und Critical Global Citizenship Education im Vergleich (vereinfacht dargestellt nach Andreotti 2006, S. 46ff. und Wintersteiner et al. 2015, S. 11)
Während Soft GCE Armut und Hilflosigkeit im globalen Süden problematisiert und auf Unterentwicklung des globalen Südens – bei gleichzeitig unreflektierter Selbstverständlichkeit der eigenen Privilegierung – zurückführt, begreift Critical GCE die komplexen Strukturen und ungleichen Machtbeziehungen als Ursachen der vorherrschenden globalen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Dementsprechend gestalten sich auch die Motive für die Auseinandersetzung mit globalen Problemen unterschiedlich: Während der Soft-Ansatz die humanitär-moralische Ebene adressiert, argumentiert der kritische Ansatz, dass die Existenz als (politische*r) Bürger*in ethische und politische Fragen aufwirft, die auch globaler Natur sind. Diese sehr verschiedenen Haltungen und Zugangsweisen zu GCE spiegeln sich auch im Umgang mit der vermeintlich westlichen Überlegenheit wider, die – je nach Ausrichtung – unreflektiert reproduziert (Soft-Ansatz) oder kritisiert (Critical-Ansatz) wird. Daher unterschieden sich auch die Handlungsoptionen, die sich aus den verschiedenen Zugängen bieten, welche vom Spendensammeln bishin zur Reflexion der eigenen Position und Adressierung politischer Entscheidungsträger*innen führen (vgl. Andreotti 2006, S. 46ff.; Wintersteiner et al. 2015, S. 11). Für die erfolgreiche Umsetzung der SDGs scheint eine Critical Global Citizenship Education förderlich, die auch die Widersprüche und Leerstellen der SDGs thematisiert und die ungleichen Machtbeziehungen, innerhalb derer die SDGs selbst entstanden sind und umgesetzt werden sollen, reflektiert. Die Bewältigung der globalen Probleme ist und bleibt schlussendlich nämlich stets eine Frage globaler Gerechtigkeit – eine Tatsache, die besonders in Zeiten multipler Krisen deutlich wird.
Über den Autor
Christian FILKO, BEd BA MA ist nach Studien der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft Lehrer an der Praxismittelschule und Mitarbeiter an der Kompetenzstelle für Mehrsprachigkeit, Migration und Menschenrechtsbildung der Pädagogischen Hochschule Wien. Schwerpunkte: Menschenrechtsbildung, Politische Bildung, Global Citizenship Education, Inklusion und Exklusion im Kontext von Mehrsprachigkeit und Migration
Bibliographie
Andreotti, Vanessa (2006): Soft versus critical Citizenship Education. In: Policy & Practice – A Development Education Review, 3/2015, S. 40-51.
BKA (o.J.): Nachhaltige Entwicklung – Agenda 2030 / SDGs. Online abrufbar unter: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/nachhaltige-entwicklung-agenda-2030.html [zuletzt: 05.03.2022]
Himmelmann, Gerhard (2016): Demokratie Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. 4. Auflage. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
Vereinte Nationen (2015): Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015. A/RES/70/1. Online abrufbar unter: https://www.un.org/depts/german/gv-70/band1/ar70001.pdf [zuletzt: 05.03.2022]
Wintersteiner, Werner / Grobbauer, Heidi / Diendorfer, Gertraud / Reitmair-Juárez, Susanne (2015): Global Citizenship Education. Politische Bildung für die Weltgesellschaft. 2. Auflage. Klagenfurt – Salzburg – Wien: Unesco.