Nach fast zwei Jahren Pandemie und Corona-Maßnahmen und nach beinahe 30 Jahren Bundesgesetz gewordener UN-Kinderrechtskonvention fordert der Corona-ExpertInnenrat der Bundesregierung in seiner siebten Stellungnahme vom 17. Februar 2022, die „Notwendigkeit einer prioritären Berücksichtigung des Kindeswohls in der Pandemie“ (S. 1; kursiv im Original; M.K.). Er erkennt damit erstens, den Artikel 3 der UN-KRK an, wonach der Vertragsstaat (also Deutschland) sich dazu verpflichtet, bei allen staatlichen und nicht-staatlichen Maßnahmen das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen. Für die meisten Mitglieder des ExpertInnenrates kommt diese Erkenntnis ziemlich spät. Doch davon abgesehen, macht sie noch einmal deutlich, welchen Rang das Kindeswohl vor allem in den letzten zwei Jahren hatte. Dies mit „eher nachrangig“ zu bezeichnen, wäre wahrscheinlich noch am wohlwollendsten. Anders, als der Gesundheitsminister Lauterbach, weiß der Rat auch klar zu differenzieren zwischen (primären) Pandemie-Erkrankungsfolgen und (sekundären) Lockdown-Maßnahme-Folgen. „Die Pandemie belastet Kinder und Jugendliche aus vielfältigen Gründen besonders stark. Dies schließt zum einen, wenn auch in geringerem Ausmaß als in anderen Altersgruppen, die primäre Krankheitslast durch die SARS-CoV-2-Infektion selbst ein. Besonders schwerwiegend ist allerdings die sekundäre Krankheitslast durch psychische und physische Erkrankungen der Kinder und Jugendlichen, ausgelöst u.a. durch Lockdown-Maßnahmen, Belastungen in der Familie wie Angst, Krankheit, Tod oder Existenzverlust, Verlust an sozialer Teilhabe und Planungsunsicherheit. Besonders betroffen davon sind Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Eine sorgfältige und der jeweiligen Situation angepasste Verbindung von Infektionsschutz und sozialer Teilhabe ist zusammen mit psychosozial stabilisierenden Maßnahmen dringend erforderlich. Ein auf Basis der UN-Kinderrechts-Konvention verantwortungsvoller Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der Pandemie bedarf aus Sicht des ExpertInnenrates eines klaren öffentlichen Bekenntnisses dazu sowie großer gesamtgesellschaftlicher Anstrengungen.“ (S. 1).
Regierungs-Kenntnisse von Kinderrechtsverletzungen
Auch weist der ExpertInnenrat ganz explizit auf „sekundäre, nicht direkt durch SARS-CoV-2-Infektionen bedingte Krankheitslast in der Pandemie“ hin, wenn er schreibt: „Neben der infektionsbedingten primären Krankheitslast sind die Beeinträchtigungen des seelischen und sozialen Wohlbefindens der Kinder und Jugendlichen einschließlich der substanziellen Verluste in Bildung, Sport und Freizeitgestaltung mit allen kumulativen Langzeitauswirkungen von besonderer Bedeutung. In Deutschland und anderen Ländern werden im Längsschnitt vermehrte psychische Belastungen und psychiatrische Krankheitsbilder wie Depression, Anorexie und Bulimie sowie eine Zunahme von Adipositas berichtet. Auch die exzessive Mediennutzung ist weiter angestiegen. Besonders ausgeprägt sind die beschriebenen Effekte bei Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien in Folge von Armut, Bildungsferne, Migrationshintergrund oder fehlenden Sprachkenntnissen.“ (ebd., S. 2)
Neben der Wiedereinsetzung der Interministeriellen Arbeitsgruppe aus BMGS und BMFSFJ, fordert der ExpertInnenrat auch einige medizinische und forschungspraktische Ansätze. Außerdem hält er nochmal ganz deutlich fest, wie stark die Corona-Maßnahmen das Leben von Millionen von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigt hat. „Die in der Pandemie getroffenen Maßnahmen haben für Kinder und Jugendliche negative Auswirkungen, u.a. eingeschränkte soziale Kontakte, verschlechterte Planungssicherheit, weniger Freizeit- und Bildungsangebote durch Schließung von Schulen, Erziehungs- und Sporteinrichtungen. Die damit verbundene Morbidität mit möglichen Auswirkungen auf die Lebensspanne und Lebensqualität dieser Generation müssen abgemildert und die bereits eingetretenen nachteiligen Effekte bestmöglich kompensiert werden. Dies muss auch den Umgang mit Leistungsdruck einbeziehen, den Kinder und Jugendliche aufgrund des Ausfalls von Unterricht, Isolation und Quarantäne bei gleichbleibenden Anforderungen erleben. Hierzu bedarf es der Umgestaltung von Lehrplänen ebenso wie nachhaltiger staatlicher Förderprogramme, die ohne Verzögerung implementiert und umgesetzt werden. (…) Zugangsbeschränkungen, die einen Großteil der Kinder und Jugendlichen vom Besuch altersgerechter Freizeitangebote (Jugendclub, Kino, Konzerte etc.) ausschließen, müssen auf Bundes- und Länderebene entfallen, soweit es die pandemische Lage erlaubt. Die aktuellen Regelungen für Kinder und Jugendliche unterscheiden sich drastisch und scheinbar willkürlich zwischen den Bundesländern. Der ExpertInnenrat ruft die Bundesländer auf, Regeln einheitlich nach dem Prinzip der maximal möglichen Teilhabe zu gestalten.“ (ebd., S. 3; https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/2006266/cbaaebf3c847da6c54b5b4e1899ab0d1/2022-02-17-siebte-stellungnahme-expertenrat-data.pdf?download=1)
Damit befindet sich der ExpertInnenrat der Bundesregierung im offensichtlichen Widerspruch zu Gesundheitsminister Lauterbach, der bis heute nur die Pandemie an sich (und keinerlei politische Corona-Maßnahmen) für alle Folgen bei Kindern, Jugendlichen und Familien als allein-verantwortlich ansieht (s. Hart aber fair v. 10.01.2022).
Da ist der Wissensstand in der Bundesregierung schon weiter. In ihrem Bericht vom 15. September 2021 zu „Gesundheitlichen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ fasste die interministerielle Arbeitsgruppe (IMA) aus dem Bundesfamilien- und dem Bundesgesundheitsministerium den bisherigen Forschungsstand zu Corona und Kindern zusammen: „Kinder und Jugendliche haben ein geringes Risiko für schwere COVID-19-Krankheitsverläufe und dadurch bedingte Krankenhausaufnahmen. Doch die sozialen Einschränkungen der Pandemie belasten junge Menschen besonders stark – vor allem diejenigen, die bereits vor der Pandemie unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen sind.“ (BMFSFJ/BMG 2021, S. 1) Der interministerielle Regierungsreport für das Bundeskabinett stellt damit unter Beweis, dass auch die Bundesregierung prinzipiell in der Lage ist, wenigstens indirekt zu differenzieren zwischen den Folgen von Corona (Krankheitsverläufe) und den Auswirkungen der Regierungsmaßnahmen (soziale Einschränkungen „der Pandemie“). Dass die Pandemie womöglich soziale Einschränkungen notwendig gemacht haben könnte, sollte dabei nicht in Abrede gestellt werden, aber die Pandemie selbst hat die sozialen Einschränkungen für Kinder und Jugendliche nicht betrieben, deren unterscheidbare Art und Weise nicht beschlossen, sondern die Regierung, die Ministerpräsident(inn)enkonferenz – und ab und zu auch Parlamente.
Verleugnete Corona-Maßnahme-Folgen bei Kindern?
Am 7. Januar 2022 berichtete die Berliner Zeitung: „Bis zu 500 Kinder mussten nach Suizidversuchen zwischen März und Ende Mai 2021 bundesweit auf Intensivstationen behandelt werden. Das ist das Ergebnis einer Studie der Essener Uniklinik, über die der Leiter der dortigen Kinder-Intensivstation, Professor Christian Dohna-Schwake, exklusiv im Videocast 19 – die Chefvisite berichtete. Die Fallzahl sei damit im zweiten Lockdown um rund 400 Prozent im Vergleich mit der Zeit vor Corona gestiegen.“ (Berliner Zeitung v. 07.01.2022) Unter anderem als Antwort auf diese Studie, die einen Anstieg von Suizidversuchen unter Kindern im Lockdown feststellte, hat der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im Januar 2022 bezweifelt, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Lockdown und psychischen Folgen geben könne (vgl. Tagesschau.de v. 11.01.2022). In der ARD-Sendung „Hart aber fair“ vom 10. Januar 2022 wies er den Vorwurf zurück, dass die deutsche Corona-Politik mit ihren international vergleichsweise strengen Maßnahmen für die Zunahme psychischer Störungen im Land – vor allem bei Kindern – verantwortlich sei. Er sagte: „Da muss man vorsichtig sein, das geben die Studien aus meiner Sicht nicht her”. Seiner Meinung nach gebe es mehr psychische Störungen auch in Staaten, die weniger gemacht haben als Deutschland. Als Beispiel nannte er die USA, wo seiner Ansicht nach sehr viele Tote vermeidbar gewesen wären oder Großbritannien, wo Lauterbach zufolge gegenwärtig viel zu gefährlich agiert würde. Die psychosozialen Störungen in Deutschland seien seines Erachtens eher der allgemeinen Corona-Lage geschuldet, als auf die Regierungs-Maßnahmen zurückzuführen. „Ich glaube, dass ein großer Teil dieser Probleme einfach an der furchtbaren Pandemie liegt, aber dass das nicht einfach dem Lockdown, den wir praktiziert haben, der damals notwendig war, in die Schuhe geschoben werden darf.“ (Benedict 2022; vgl. Metzger 2022). Dieser Umgang mit Kausalitäten und Koinzidenzen ist auch kindheitswissenschaftlich bzw. kinderpolitikwissenschaftlich bemerkenswert. Denn zweifellos gab und gibt es auch in praktisch allen Ländern dieser Welt psychosoziale Folgen der jeweiligen Corona-Krise und des jeweiligen Krisen-Managements – gerade auch bei Kindern und Jugendlichen. Dennoch lässt sich angesichts der Aussagen des Ministers die Frage formulieren, ob Lauterbach die spezifischen Lockdown-Folgen in Deutschland womöglich nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen will.
Psychosoziale Folgen von Corona und Pandemie-Politik
Viele Studien und Stellungnahmen untermauern, dass buchstäblich eine (politisch mit zu verantwortende, strukturelle) Kindeswohlgefährdung im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention und des SGB VIII vorliegt. Das hatte psychosoziale Folgen, wie verschiedene Untersuchungen nachweisen können (vgl. Klundt 2022, S. 175ff.). So hätte sich laut einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung hochgerechnet „infolge der Pandemie und der damit verbundenen Schulschließungen bei 1,7 Mio. 11- bis 17-Jährigen die gesundheitsbezogene Lebensqualität erheblich verschlechtert.“ (Bujard u.a. 2021, S. 72) Das Bundesinstitut ermittelte ferner „477.000 Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren mit Depressivitätssymptomatik“ (ebd.). Derweil sind die psychosozialen Folgen der Corona-Krise nicht übersehbar. „Ein aktueller Bericht des Robert-Koch-Instituts, der mehrere Studien des vergangenen Jahres zusammenfasst, zeigt: Die Häufigkeit von Angstsymptomen unter Kindern und Jugendlichen ist nach dem ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr von 15 auf 24 Prozent gestiegen. Den Eindruck einer verminderten Lebensqualität haben mehr als 40 Prozent der Elf- bis 17-Jährigen. Psychische Auffälligkeiten bei 7- bis 17-Jährigen sind von 18 Prozent auf etwa 31 Prozent gestiegen.“ (Vorgrimler 2021, S. 2).
Und, wie auch das „Factsheet“ der Bertelsmann-Stiftung zu „Kinderarmut in Deutschland“ von 2020 ein weiteres Mal nachgewiesen hat, sind die Entwicklungen im Bereich Kinderarmut gerade mit der Corona-Krise noch einmal verschärft worden (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2020, S. 1). So wachse mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut auf, was immerhin 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren betreffe. Die Kinder- und Jugendarmut verharre seit Jahren auf diesem hohen Niveau. Trotz langer guter wirtschaftlicher Entwicklung seien die Zahlen kaum zurückgegangen. Kinderarmut sei seit Jahren ein ungelöstes strukturelles Problem in Deutschland. „Die Corona-Krise wird die Situation für arme Kinder und ihre Familien weiter verschärfen. Es ist mit einem deutlichen Anstieg der Armutszahlen zu rechnen. Aufwachsen in Armut begrenzt, beschämt und bestimmt das Leben von Kindern und Jugendlichen – heute und mit Blick auf ihre Zukunft. Das hat auch für die Gesellschaft erhebliche negative Folgen“ (Bertelsmann-Stiftung 2020, S. 1).
Ferner haben laut der Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Frankfurter Goethe-Universität, Christine M. Freitag, Angst- und Essstörungen sowie Depressionen in der Pandemie bei Kindern und Jugendlichen deutlich zugenommen. Der Wissenschaftlerin zufolge, die auch Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie ist, habe sich zudem die Zeit, die Kinder und Jugendliche an Computer und Handy verbringen, deutlich gesteigert, während sich die meisten viel zu wenig bewegten. Sie widerspricht den Thesen des Bundesgesundheitsministers hinsichtlich psychischer Folgen der Lockdown-Politik: „Hier gibt es mittlerweile Vergleichsstudien aus Kanada und Australien, die deutlich zeigen, dass innerhalb der Corona-Pandemie insbesondere Perioden des Lockdowns zu einem Anstieg der genannten Symptome bei Kindern und Jugendlichen führten. Der Wegfall der Alltagsstruktur, von Bewegung und Sozialkontakten mit Gleichaltrigen ist ein klassischer Risikofaktor für Depressionen und Angststörungen; die Zunahme des Konsums sozialer Medien steht wahrscheinlich in Zusammenhang mit den erhöhten Anorexie-Raten.“ (zit. nach: Schmidt 2022).
Dennoch räumt sie ein, dass man Lauterbach insofern Recht geben müsse, „dass eine echte Kausalität kaum festgestellt werden kann. Allein weil die Experimente dafür – eine Gruppe in einen Lockdown zu schicken und andere nicht – ethisch nicht vertretbar wären“ (zit. nach: Metzger 2022) Wiewohl empirisch strenge Kausalitäten zwischen unterschiedlichen Corona- bzw. Lockdown-Maßnahmen und psychosozialen Folgen bei Kindern und Jugendlichen noch einer tiefgreifenderen Erforschung bedürfen, erscheint die ziemlich strikte Abwehrhaltung des Bundesgesundheitsministers Lauterbach besorgniserregend hinsichtlich des Eindrucks seiner dadurch offenbar ausgedrückten Verweigerung eines politischen Verantwortungsgefühls für die gesundheitliche und psychosoziale Lage der jungen Generation in den letzten zwei Jahren, welches über die Bekämpfung von Corona hinausgeht.
Vergessene Kinder(-Rechte) als alternativlos?
Derweil stellte die Süddeutsche Zeitung vom 29. Dezember 2021 unter dem Titel: „Menschenrechte. Hat Deutschland ein Problem mit Kindern?“ besorgt fest: „Schulschließungen in Rekordlänge, keine Kinderrechte im Grundgesetz, der Skandal um den Kinderpsychiater Winterhoff – da fragt man sich: Welche Rolle spielt das Wohlergehen von Kindern in Deutschland? (…) Testpflicht für Sechsjährige im öffentlichen Nahverkehr während der Schulferien, Sportplatzverbot für Zwölfjährige, die gestern noch elf waren und deshalb noch ungeimpft sind. Verlass ist in der deutschen Pandemiepolitik bisher fast immer darauf gewesen, dass die Kinder in der Debatte um Maßnahmen zunächst mal vergessen wurden.“ Zwar wurden und werden auch in anderen Ländern Kinder funktionalisiert und instrumentalisiert z.B. hinsichtlich der Beschäftigungsfähigkeit ihrer Eltern (laut SZ-Beitrag am stärksten in Japan, dann in Frankreich und am geringsten in Dänemark, wo Kinder und ihre Rechte bis in die Staatsführung hinein – mindestens verbal – einen offensichtlich relativ hohen Stellenwert besitzen). Doch die deutschen Rollenzuweisungen für Kinder in den letzten fast zwei Jahren hatten es in sich, so die Journalist(inn)en der Süddeutschen Zeitung: Erst wurden die Kinder – weitgehend evidenzfrei – als „die“ Viren-Schleudern schlechthin dargestellt und v.a. behandelt. Diese Ausgrenzung von Bildung, Betreuung und Betätigung führte wiederum zur Gefährdung der Beschäftigungsfähigkeit vieler Eltern bzw. konkret: Mütter. Somit erhielten die Kinder, so der SZ-Beitrag, ihre neue Rolle als „Betreuungsobjekt“. Dann wurden Lernschwächen und -verluste immer stärker deutlich, sodass nun Kinder die dritte Funktion zugeschrieben bekamen: die der sog. Leistungserbringer. Doch der Vorrang des Kindeswohls und ihre gesetzlichen Kinderrechte, geschweige denn ihre Mitspracherechte kamen bei alldem deutlich zu kurz. „Geschlossene Schulen, gesperrte Spiel- und Sportplätze, Verbot von Treffen mit Freunden: Die Bilanzen der Verheerung häufen sich. Fast jedes dritte Kind in Deutschland leidet inzwischen an emotionalen Problemen oder Hyperaktivität. Essstörungen, Zwangsstörungen, Angststörungen, depressive Störungen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien des Landes sind noch überlasteter, als sie es vor der Pandemie schon waren.“ (SZ v. 29.12.2021).
Viele Politiker_innen, Journalist_innen und Wissenschaftler_innen vermittelten in den letzten fast zwei Jahren häufig den Eindruck, eine Alternative zu den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung würde schlicht bedeuten, dass man viele Corona-Tote zu verantworten hätte (also buchstäblich über Leichen ginge, wenn man das Narrativ und die Praxis der Exekutive infrage stelle). Demnach, so einige Vertreter_innen der jeweiligen Professionen, gäbe es gar keine (menschenwürdigen) Alternativen zum Regierungs-Kurs, weshalb sie sich dann auch überwiegend nicht damit beschäftigten. Entgegen vieler öffentlicher Darstellungen formulierte ausgerechnet der Berliner Virologe Christian Drosten jedoch, auf den sich ansonsten die meisten Vertreter_innen der Regierungs-Narrative berufen, bezüglich der Situation im Winter 2021 ziemlich deutliche Widerworte zum hegemonialen Narrativ und zum vorherrschenden Alternativlosigkeits-Dogma: „Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie.“ Im Interview mit Giovanni di Lorenzo und Andreas Sentker in der ZEIT vom 11. November 2021 sagte Drosten zum ersten Lockdown im Frühjahr 2020 und den Verantwortlichen dafür: „Wir, also die eingebundenen Wissenschaftler, haben gar nicht gesagt, die Schulen müssen geschlossen werden. Andere Behauptungen sind falsch. (…) Das muss die Diskussionsdynamik dieser Ministerpräsidentenkonferenz gewesen sein, nachdem wir den Raum verlassen hatten. Wer das vorangetrieben hat, weiß ich nicht. Ich war nicht dabei. Ich kann nur deutlich sagen: Das war ein rein politischer Beschluss, das ist nicht von der Wissenschaft so empfohlen worden.“ (ebd., S. 34)
Zum zweiten Lockdown bzw. zum Lockdown gegen die sog. zweite Welle Ende 2020 meint der Virologe: „Die Schulschließungen haben die zweite Welle gestoppt. Die Schulen waren das Zünglein an der Waage.“ Hier wäre das französische Gegenbeispiel ein interessantes Diskussionsthema, denn im Unterschied zur BRD waren in Frankreich mit anderer Prioritätensetzung im Winter 2020/2021 die Bildungseinrichtungen (ähnlich wie in der Schweiz) weitgehend offen, ohne ein größeres Infektionsgeschehen aufzuweisen als in Deutschland (vgl. Klundt 2022, S. 105f.). Aber auf die Frage der ZEIT-Journalisten, ob es auch da Alternativen gegeben habe, antwortet Drosten erstaunlicherweise: „Man hätte auch sagen können, die Schulen bleiben offen, aber wir setzen richtig harte Homeoffice-Kriterien im Dienstleistungsbereich durch. Wir nehmen die Wirtschaft in die Pflicht, nicht die Schulen.“ (ebd.) Schließlich beantwortet er die Frage, ob er eine „Abwägung zwischen dem Infektionsrisiko und den Schäden von Kindern im Lockdown“ für legitim hält, mit einem klaren: „Natürlich.“ (ebd.) Daraufhin versetzt er zwar, warum ersteres für ihn gravierender sei, doch die Legitimität einer Abwägung stellt er – im Unterschied zu vielen politischen, publizistischen und wissenschaftlichen Repräsentant_innen – nicht in Frage. Seine Argumentation darf demnach sogar so verstanden werden, dass es bedenkenswerte Alternativen zur Vorgehensweise der Bundesregierung und der Landesregierungen gab und gibt.
Fazit
Wer Kinderrechte stärken und (Kinder-)Armut bekämpfen will, muss auch über den exorbitant gestiegenen Reichtum in unserer Gesellschaft sprechen. Wer die sozialräumliche Segregation in unseren Städten bemängelt, darf nicht vergessen, dass die armen Stadtteile oft so aussehen, wie sie aussehen, weil die reichen Stadtteile so aussehen, wie sie aussehen. Wer den Sozialstaat stärken will, muss die Privatisierung von Sozialversicherungen, von städtischen Wohnungen, Krankenhäusern und Pflegeheimen zurücknehmen und dem Profitprinzip entziehen sowie bessere Bedingungen in Schulen, Kitas und Jugendhilfe bzw. Jugendclubs schaffen. Dass dafür genug Geld da ist, zeigt auch ein Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahre 2021, wonach sich das Nettovermögen der privaten Haushalte in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren auf 13,8 Billionen Euro mehr als verdoppelt hat. Davon könnten jedes Jahr bis zu 400 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt werden, was die absolute Ungleichheit weiter erhöhen wird (vgl. Baresel, Kira u. a. (2021): Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen geht an die reichsten zehn Prozent aller Begünstigten, in: DIW-Wochenbericht Nr. 5: 64ff.).
Zur wirksamen Revitalisierung von Kinderrechten und zur effektiven Bekämpfung von Kinderarmut werden somit ausreichende Mittel benötigt. Wenn jedoch ab 2023 die „schwarze Null“ und die Schuldenbremse wieder eingehalten werden sollen, stellt sich nicht nur zur Umsetzung von Kinderrechten und zur Bekämpfung von Kinderarmut die Frage, wie notwendige Investitionen in Brücken, Bildung und Bürgergeld adäquat finanziert werden sollen. Die nächste Spar- bzw. Kürzungsrunde scheint dagegen dann bereits vor der Tür zu stehen. Sofern keine Vermögensteuer eingeführt, keine Bürgerversicherung die Zwei-Klassenversorgung im Gesundheits- und Pflegesystem beenden, wenn mit der gesetzlichen Rente an der Börse spekuliert werden und der Rüstungsetat derweil steigen soll, steht der gewagte Fortschritt der Ampelkoalition auf ziemlich wackeligen Beinen.