Manche Jubiläen feiert man, andere Jubiläen lieber nicht. Im Januar 2022 hat sich der Radikalenerlass, der zu rund dreieinhalb Millionen Überprüfungen von Bewerber*innen im öffentlichen Dienst geführt hat, zum fünfzigsten Mail gejährt. Ein bitteres Jubiläum. Aus zwei Gründen ist dieses Jubiläum allerdings besonders bitter: zum einen, weil Berufsverbote von staatlicher Seite nicht aufgearbeitet wurden, sich der politische Apparat nicht die Mühe gemacht hat, auszuleuchten, welche Folgen Berufsverbote für eine Demokratie haben und keine Verantwortung übernommen wurde. Und zum anderen, weil der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung offensichtlicht zeigt, dass nicht aus der unrechtmäßigen Praxis der Berufsverbote gelernt wurde.
Brandts folgenreicher Fehler
Im naiven Glauben angemessen auf politische engagierte Menschen zu reagieren, die ihrerseits irgendwann bei einer Demo oder einer politischen Aktion beteiligt waren, wurde die Grundidee geboren, dass Menschen mit bestimmten politischen Ansichten nicht im öffentlichen Dienst arbeiten sollten. Am 28. Januar 1972 fassten die Ministerpräsidenten der Länder unter Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt den Extremistenbeschluss bzw. den sogenannten Radikalenerlass. Jede Bewerbung um eine Stelle im öffentlichen Dienst löste eine automatische Abfrage beim Verfassungsschutz aus. Er sollte überprüfen, ob eine Person politisch für den öffentlichen Dienst geeignet ist.
In den folgenden Jahren bis zur Abschaffung der Regelanfrage im Jahre 1991 in Bayern wurden rund 3,5 Millionen Bewerber*innen für Berufe im öffentlichen Dienst überprüft. Der Verfassungsschutz konnte entscheiden, welche*r Bewerber*in als „Extremist*in“ oder „Verfassungsfeind*in“ gilt. Bei negativer Einschätzung des Verfassungsschutzes wurden Personen aus dem öffentlichen Dienst entfernt oder erst gar nicht erst eingestellt.
Der von Rudi Dutschke erklärten Marsch durch die Institutionen musste für einen konservativ-reaktionären Staat, bei dem Entnazifizierung niemals mehr als eine Worthülle gewesen war, wie eine Drohung klingen. Doch anstatt als Demokratie demokratisch zu sein, wurde eine unrechtmäßige und zutiefst undemokratische Praxis etabliert. Die Angst des Staates und der Politik vor linken Extremisten war derart groß, dass es zu einem Generalverdacht gegen politisch Engagierte gekommen ist. Dass es vor allem Personen aus einem linken Umfeld betraf, hatte System – Mitglieder rechter Gruppierungen wurden in den meisten Fällen geduldet. Willy Brandt wollte mehr Demokratie wagen, ein Anspruch, der wie blanker Hohn im Angesicht der Berufsverbote klingt. Mehr Demokratie zu wagen, hätte bedeutet, den antifaschistischen Charakter des Grundgesetztes anzuerkennen, zu verstehen, dass Antifaschismus überhaupt Grundlage einer gesunden Demokratie ist.
Doch der Verfassungsschutz spielte sich gegen links auf. Anstatt die Entnazifizierung der Gesellschaft voranzutreiben, wurde linkes politisches Engagement bekämpft. Um es deutlich zu machen: die Entscheidungen des Verfassungsschutzes hatten kein demokratisches Fundament, sie sind und bleiben unrechtmäßig. Mit den Folgen dieser politischen Unrechtspraxis muss die bundesdeutsche Gesellschaft bis heute leben: Rechte sind in die Institutionen einmarschiert, ihnen wurde der Weg bereitet – die Rudi Dutschkes dieser Generation mussten draußen bleiben.
Öffnet die Ampel das Einfallstor für neue Berufsverbote?
Dass die Geschichte der Berufsverbote, die die Kraftlosigkeit der Demokratie dokumentiert hat, politisch nicht aufgearbeitet wurde, hat nun zur Folge, dass die Ampelkoalition Passagen formuliert, die als Einfallstor von neuen Berufsverboten dienen können. So heißt es in dem Koalitionspapier: „Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.“ Nach wie vor ist die Beschreibung des „Verfassungsfeindes“ nicht geregelt – vielmehr: die Beurteilung über die Verfassungsfeindlichkeit wird einmal mehr vom Verfassungsschutz abhängen. Also von jener Organisation, die unter anderem Rostock-Lichtenhagen und den NSU nicht verhindern konnte und teilweise mitverstrickt war, jener Organisation, deren bayrischer Ableger den VVN-BdA beobachtet. Diese drei Beispiele reichen aus, um die strukturelle Schwäche der Behörde aufzuzeigen. Dass die Ampelkoalition dennoch nicht davor zurückgeschreckt, den ‚Verfassungsfeind‘ zu beschwören, muss Skepsis auslösen.
Auch eine weitere Stelle im Koalitionspapier muss aufhorchen lassen: „Die in anderen Bereichen bewährte Sicherheitsüberprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern weiten wir aus und stärken so die Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche Einflüsse.“ Die Assoziation zur Regelanfrage lässt sich dabei kaum vermeiden.
Nun muss nicht akut mit neuen Berufsverboten gerechnet werden. Doch was will die Ampelkoalition mit den Passagen bezwecken? Klar ist: rechte Demagogen, Volksverhetzer und Rechtsextremisten gehören in keine Position des öffentlichen Dienstes. Die Angst vor Rechts scheint groß zu sein, der Glaube in die Stärke der Demokratie und der demokratischen Mittel dagegen gering. Die Passagen bieten deshalb auch das Potential ein Einfallstor zu einer neuen Willkür gegen Linke zu werden.
Die Demokratie muss sich im Auge behalten
Demokratie ist ein Prozess, der stets einen demokratischen Zustand zu erreichen versucht. Dazu gehört, dass sich eine Demokratie gegen Angriffe behaupten und verteidigen muss. Aber nicht jede Kritik an ihr, ist ein Angriff auf die ihre Grundpfeiler. Demokratie ist mehr als ihre partei- und regierungspolitische Praxis, Demokratie muss der Versuch sein, Menschen zum Menschen und die Gesellschaft zur Gesellschaft zu begaben. Wenn die alte Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD in einer Antwort auf eine kleine Anfrage (Drucksache 19/28956) allerdings schreibt: „die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit [widerspreche] der Garantie der Menschenwürde“, dann ist eine kritische Analyse der Gesellschaft, in und durch die Demokratie verwirklicht werden soll, offenbar nicht im Sinne politischer Entscheidungsträger*innen. Die Analyse von Klassen- und Ausbeutungsverhältnissen muss ein Kernanliegen der Demokratie sein, denn die Analyse zeigt deutlich die Stellen auf, an denen Demokratie eben nicht verwirklicht ist. Eine demokratische Gesellschaft ist also auf kritische Reflexion ihrer Verhältnisse angewiesen, sie begreift die Demokratie als steten Prozess und verabsolutiert die Demokratie nicht zu einem dauerhaften Status. Doch davon ist die bundesrepublikanische Debatte weit entfernt. Schon das Wort Klassengesellschaft erregt den Gemütszustand manch einer*eines Politiker*in und des Verfassungsschutzes. Mehr sogar, marxistische Positionen geraten wieder vermehrt unter einen Generalverdacht, den Verdacht einer wie auch immer gearteten Opposition zur Demokratie. Dies ist und bleibt grotesk.
Und hier zeigt sich eine entscheidende Parallele zu den Berufsverboten. „Sie sind der Meinung, dass wir in einer Klassengesellschaft leben?“, war eine typische Frage in Anhörungsverfahren. Die Analyse der Klassengesellschaft, der Klassen- und Ausbeutungsverhältnisse führte zum Verdacht gegen Linke – noch immer wird die Kritik an der bundesrepublikanischen Klassengesellschaft als Angriff auf die Demokratie missverstanden, dabei ist die Kritik der Versuch, die Demokratie herzustellen und sie zu stärken. Die Berufsverbote waren Ausdruck politischer Überforderung. Hinter ihnen stand aber eine Ideologie, die linke Kritik, politisch engagierte Menschen und Organisationen schwächen wollte. Mit Demokratie hatte die Berufsverbote wenig zu tun, deshalb wäre es wichtig, sie politisch aufzuarbeiten und die Betroffenen zu entschädigen, statt ein neues Einfallstor zu errichten.