Nationalismen können zum Sprengsatz für die internationale Ordnung werden. Um 1990 zerfielen die Sowjetunion und Jugoslawien. Die Teilrepubliken erklärten sich für unabhängig, wobei es zu neuen Abspaltungen kam. Mächtige Fliehkräfte führten zu einem konfliktreichen Zustand in Ost- und Südosteuropa. Zwei neue Staaten, beide schon historisch belastet, entwickelten einen militanten Nationalismus, der nach rechts für faschistische Gruppierungen offen war. Dieser Nationalismus konnte im geopolitischen Machtkampf instrumentalisiert werden und wurde zum Sprengsatz mit mehr oder weniger großen Folgen für die internationale Ordnung.
Die Teilrepublik Kroatien führte im Mai 1990 eigenmächtig Wahlen durch, aus denen die im Jahr vorher gegründete rechtspopulistische HDZ als Sieger hervorging. Entgegen anfänglichen Beschwichtigungsversuchen gegenüber der serbischen Minderheit wurden Serben zunehmend Opfer von Diskriminierung und Ausgrenzung. Die neue Verfassung vom Juli 1990 trug klar den Stempel der kroatischen Dominanz und war für die Minderheit, gemessen am vorherigen Status des Vielvölkerstaats, inakzeptabel. Daher riefen militante Serben im September 1990 die „Autonome Serbische Krajina“ aus, wofür sie die Unterstützung der Regierung von Rest-Jugoslawien hatten. Die kroatische Regierung antwortete mit Krieg. Der Staatsapparat wurde von serbischen Mitarbeitern gesäubert. Es kam zu Pogromen gegen Serben. Der Konflikt eskalierte immer mehr, auch bedingt durch die traumatische Erinnerung der serbischen Bevölkerung an das mit Nazi-Deutschland verbündete faschistische Kroatien. Damals waren die Serben verfolgt, in Konzentrationslagern interniert und neben Juden und Roma der Vernichtung preisgegeben worden. Die serbischen Ängste wurden verstärkt durch rassistische Ausfälle des kroatischen Präsidenten Tudschman und den unbefangenen Umgang seiner Regierung mit Exilkroaten aus der faschistischen Ustascha-Bewegung.
Ungeachtet dessen wollte die deutsche Regierung unter Helmut Kohl mit Genscher als Außenminister Kroatien als unabhängigen Staat anerkennen, zunächst noch gebremst von den anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG), die 1991 noch einige Monate lang auf Verhandlungen setzten. Vermutlich war dabei die Kompromissbereitschaft der kroatischen Regierung aufgrund der positiven Signale von deutscher Seite, aber auch aus den USA[i] gering. Ende 1991 wurde Kroatien als unabhängiger Staat anerkannt.
Zugleich proklamierten separatistische Kräfte im überwiegend serbisch besiedelten Randgebiet Kroatiens die Republik Serbische Krajina mit eigener Armee. Die Jugoslawische Volksarmee griff in die Kämpfe ein. Es kam zu ethnischen Säuberungen auf beiden Seiten. Nachdem sich im Juni 1991 auch Slowenien für unabhängig erklärt hatte und umgehend international anerkannt worden war, blieb nur noch ein Rest der Bundesrepublik Jugoslawien übrig. Den militärischen Widerstand gegen die Abspaltung Sloweniens gab die jugoslawische Regierung schon nach Tagen auf, den Krieg mit Kroatien beendete man 1995. Aber der Rest des ehemaligen Vielvölkerstaats hatte sich schon in ein Schlachtfeld verwandelt. Weitere Sezessionen, Bosnien-Herzegowina und Kosovo, folgten noch 1991 und wurden vom serbischen Kernstaat verzweifelt bekämpft. Bekannte Peripetien dieser Tragödie waren die Beschießung von Sarajevo, das Massaker von Srebreniza und der NATO-Angriff auf Jugoslawien im März 1999, begründet mit einem angeblichen Genozid an den Kosovo-Albanern. Ein vielversprechendes Modell für die multikulturelle Balkan-Region wurde getilgt oder entsorgt. Heute ist sie Absatzmarkt, Rohstofflager und Arbeitskräftereservoir für Westeuropa.
Der Verlauf der Konflikte in Jugoslawien ab der Sezession Kroatiens weist, wenn auch zeitlich gestrafft, Parallelen zum Ukraine-Konflikt auf. Im August 1991 erklärte sich die Ukraine für souverän und unabhängig, aber im Konsens mit Russland, dessen Präsident im Dezember 1991 mit den Vertretern aller Unionsrepubliken die Sowjetunion für aufgelöst erklärte. In den folgenden Jahren zeigten sich zunehmend innenpolitische Spannungen, die zum einen die Wirtschafts- und Sozialordnung betrafen – für mehrere Legislaturperioden wurden die Kommunisten Wahlsieger – und zum anderen die Hinwendung zum Westen oder zu Russland. Eine ernste politische Krise entstand 2004 durch Streit um angebliche Wahlfälschung, worauf einerseits mit einem Generalstreik und andererseits mit Massenprotesten reagiert wurde. Die sog. Orangene Revolution war von westlichen Organisationen, vom US-Außenministerium und USAID beratend unterstützt worden. Ab 2012 wurde die Ukraine seitens der EU umworben, wovor Russland warnte. Das verschärfte die inneren Konflikte und Machtkämpfe, die 2013/14 in der Rebellion auf dem Maidan gipfelten.
Die Ukraine war aufgrund seiner Geschichte ein sozialökonomisch und kulturell gespaltenes Land. Westliche Teile waren lange unter polnischer und habsburgischer Herrschaft, der Mitte und Osten Teil des Zarenreichs. Dort stieß das Bemühen ukrainischer Intellektueller im 19. Jahrhundert, das als Bauernsprache verpönte Ukrainisch aufzuwerten, auf Verbote. 70 Prozent der Bevölkerung waren um 1900 Analphabeten. Aber bei den Gebildeten weckte die Russifizierung Widerstand und ermunterte nach der Oktoberrevolution zu dem Versuch, mit Hilfe deutscher und österreichischer Truppen einen eigenen Nationalstaat zu schaffen. Nicht zuletzt mit Hilfe der Roten Garden aus dem Donbass eroberte die Rote Armee jedoch die Ukraine. Die Ostukraine war eine proletarisch geprägte Industrieregion, die von Zuwanderern aus ganz Osteuropa bevölkert war, die Russisch als Verkehrssprache benutzten. Dagegen war die agrarisch geprägte Westukraine kulturell von Polen und Österreich beeinflusst. Mit der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik erlangten die Ukrainer den Status einer Nation. Das Ukrainische wurde zur Schriftsprache aufgewertet. In der Westukraine gab es jedoch russophobe Kräfte, die nach dem Einfall der deutschen Wehrmacht einen eigenen, ethnisch homogenen Staat anstrebten. Faschistoide bis faschistische Kräfte bemühten sich um die Hilfe Nazi-Deutschlands, wo man aber erst nach dem Vormarsch der Roten Armee auf das Kollaberationsangebot einging. Berüchtigt wurde Stepan Bandera (1909-1959) als Führer der OUN-B, einer faschistischen Miliz, die sich 1941 an Pogromen und Massenerschießungen beteiligte.
Der Name Bandera war 2014 auf Transparenten zu lesen, als ein Teil der Bevölkerung auf dem Maidan gegen Präsident Janukowytsch revoltierte, weil er das Assoziierungsabkommen mit der EU auf Eis legen wollte. Eine führende Rolle bei der Revolte spielten die Partei Swoboda und der Rechte Sektor, gleichzeitig Partei und Miliz. Beide Organisationen berufen sich auf Bandera. Die Rebellion eskalierte bis zum Staatsstreich. Im Dezember 2013 besuchten die US-Diplomatin Victoria Nuland und Datherin Ashton (GB) den Maidan. US-Organisationen, die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Soros-Stiftung unterstützten die Proteste finanziell mit Millionen.
Nach der Flucht von Janukowytsch änderte die neue Regierung die Verfassung. Sie verankerte darin unter anderem die Aufnahme in die NATO als Ziel und hob den Status der russischen Sprache auf. Der nationalistische Sprachpurismus nahm groteske Formen an. Nicht nur in Ämtern und den Medien, auch in Geschäften und Gaststätten war Russisch verboten, was teilweise Sprachwächter kontrollierten. Darauf kam es zu Separationsbestrebungen auf der Krim und in den Oblasten Donezk und Lugansk, die beide Autonomie forderten. Die Krim schloss sich nach einem Referendum Russland an. Nachdem sich militärische Auseinandersetzungen häuften, schalteten sich die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident als Vermittler ein. Im Minsker Abkommen einigten sich die Vertreter der Separatisten und die Regierung zusammen mit den Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Russland und Belarus auf folgende Übereinkünfte: Waffenstillstand, Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien, Amnestie für Separatisten, eine Verfassungsreform zugunsten föderaler Strukturen, speziell Autonomiestatus für die Oblaste Donezk und Lugansk.
Die ukrainische Regierung war nicht willens, dieses Abkommen zu realisieren. Vieles deutet darauf hin, dass sie von rechten, nationalistischen Kräften daran gehindert wurde. Eine föderale Verfassung hätte inneren und äußeren Frieden bringen können. Stattdessen drängte die ukrainische Regierung auf den Beitritt zur NATO, was in Russland die Angst vor einer nahtlosen Einkreisung durch NATO-Staaten weckte. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg, den Präsident Putin in Verkennung der Verhältnisse und des ukrainischen Patriotismus befahl, bringt nicht nur großes Leid mit sich, sondern hat unabsehbare Folgen für die Weltgesellschaft und für den Planeten. Dessen Rettung hat man einstweilen vertagt.
[i]Das kroatische Informationsministerium soll mit amerikanischen PR-Firmen kooperiert haben (https://de.wikipedia.org/wiki/Kroatienkrieg, Zugriff am 26.02.22).