Jedes menschlich Handeln ist sowohl individuell als auch sozial/politisch, hat immer auch Konsequenzen für die Mitmenschen, für die Natur usw. Wir leben alle in Wechselbeziehungen, gegenseitigen Abhängigkeiten. Eine gute Gesellschaft müsste die individuellen und sozialen Aspekte einfühlsam aufeinander abstimmen, damit es ein Gleichmaß oder zumindest die Annäherung an ein Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl gibt.
Neoliberale Politik isoliert immer mehr Bereiche des sozialen Lebens in Sphären, die als absolut privat, jenseits des Sozialen und Politischen liegend gelten. Aber das macht blind dafür, dass diese Bereiche auf Kosten des übrigen sozialen Lebens funktionieren. Wenn jemand Land privatisiert, schließt er die übrigen Menschen aus; extremer Reichtum der einen macht die anderen arm.
In den reichen Ländern Europas entspricht die Haltung eines gewissen Teils der Gesellschaft, zumindest einer großen Minderheit, bezüglich der Maßnahmen, um die Ausbreitung der Corona-Pandemie einzudämmen, dem neoliberalen Denken. Man will die Fragen, wie und ob man sich schützt, impft u.ä. als absolut private Angelegenheiten behandeln. Aber tatsächlich sind es soziale Entscheidungen, weil wer sich selber von Infektion schützt, auch seine Mitmenschen schützt, und wer sich selber gefährdet, andere gefährdet. An dieser Stelle erreicht wiederum die staatliche Politik ein Maß an sozialer, mitmenschlicher Dimension, das sie lange nicht hatte. Und viele Leute opponieren dagegen, explizit gegen autoritäre Entscheidungen, implizit gegen die Erkenntnis der sozialen Tragweite eigenen Handelns, beides Aspekte, die manche Leute an die DDR erinnern. Ein Staat muss nicht autoritär sein um sozial zu sein; die zapatistische Regierung in Chiapas, die sehr starke Konsens-Elemente enthält, ist zu fast denselben Entscheidungen bezüglich des Corona-Verhaltens, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, gelangt. Aber die europäischen Staaten haben über lange Zeit immer mehr Bereiche des öffentlichen Lebens an private Akteure abgegeben und der Politik immer weniger Spielraum gegeben. Ein rationales, vernünftiges Gemeinwesen würde in einer Situation wie derjenigen der Pandemie einen großen Teil aller Ressourcen, welche der Gesellschaft zur Verfügung stehen, verwenden, um das Leben der Menschen so gut wie möglich zu schützen. Das wäre eine solidarische Aktion, bei der keine Schulden entstehen. Aber unsere Staaten des real existierenden Kapitalismus haben einen riesigen Anteil der Ressourcen und damit der Macht an eine kleine Elite von Reichen abgegeben. Deshalb kann der Staat unter den gegenwärtigen Bedingungen nur handlungsfähig sein, indem er sich massiv verschuldet. Soziale Politik, die gut für die Menschen ist, liegt nicht in der Hand des Gemeinwesens, des Volks – oder um weniger nationalistisch zu denken – der Bevölkerung, d.h. der Masse der Menschen, es sei denn es verschuldet sich bei einem total unsozialen Finanzwesen, bei einem System der absoluten Privatisierung, das sich von jedem sozialen, mitmenschlichen, lebensfreundlichen Bezug abgeschottet hat. Auch dass die Impfstoffforscher und -hersteller nicht sozial beauftragte, sondern private Akteure sind, ist Teil desselben Problems, nämlich der Privatisierung des Sozialen. Wenn es eine Epoche nach-Corona geben sollte, dann wird die neoliberale Politik, die immer mehr Bereiche des sozialen Lebens privatisiert, wegen der enormen Verschuldung noch schlimmer werden, als sie bisher schon war. Wie soll die Politik sich um die eigentlichen gravierenden Probleme wie Klima und Umwelt kümmern, wenn sie ihre Handlungsfähigkeit an Verschuldung bei privaten Akteuren, an welche sie ihre Macht ausverkauft, bindet? Kein Wunder, dass Greta Thunberg bezüglich der Verhandlungen in Glasgow von Blablabla spricht. Hätte ein Gemeinwesen, ein Staat, ein politisches System, die Macht und den Mut, das eine Prozent der Menschen, das über die Hälfte des weltweiten Eigentums besitzt, zu enteignen (bzw. das Entsprechende innerhalb kleinerer Einheiten wie Ländern zu tun)? Oder wenigstens die Schulden des Gemeinwesens bei den privaten Akteuren restlos zu streichen? Es ist so schwer, den Mut zu radikalen Änderungen zu haben, dass wir dafür wahrscheinlich noch bis zur nächsten und schlimmeren Pandemie warten müssen.