„Rechtsextremismus ist derzeit die größte Bedrohung unserer Demokratie.“ (SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP November 2021)
„Der Völkermord hat seine Wurzel in jener Resurrektion des angriffslustigen Nationalismus, die seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts in vielen Ländern sich zutrug. (…) Morgen kann eine andere Gruppe drankommen als die Juden, etwa die Alten, die ja im Dritten Reich gerade eben noch verschont wurden, oder die Intellektuellen, oder einfach abweichende Gruppen. Das Klima, (..) das am meisten solche Auferstehung fördert, ist der wiedererwachende Nationalismus.“ (Adorno 1970)
„Das zwanzigste Jahrhundert ist das Jahrhundert der Color-Line, das Jahrhundert des Rassismus“ (W.E.B. du Bois 1903)
Rechtsextremismus hat neben autoritärem und frauenfeindlichem Denken sowie der Verharmlosung des Nationalsozialismus als zentrale Elemente rassistische und nationalistische Überzeugungen. Während Rassismus, in der Regel ohne spezifische Definition, vom Großteil demokratischer Gesellschaften abgelehnt wird, sind Nationalstaaten an sich und die Bevorzugung der national definierten „eigenen“ Bevölkerung im Nationalstaat gegenüber anderen Nationen und die Benachteiligung der als „nicht zugehörig“ definierten Personen innerhalb der eigenen Bevölkerung selten im Fokus von Kritik. Politischer und gewerkschaftlicher Standort-Nationalismus im Sinne von „Wir schützen die Arbeitsplätze unserer Arbeiter*innen vor Ort“ oder „Deutsche zuerst“ stellt sich in der Regel weder den Fragen weltgesellschaftlicher Gerechtigkeit noch der Übereinstimmung mit völkisch-nationalistischen und rassistischen Ideologien und Gesellschaftsgruppen. Daher soll im Weiteren gefragt werden: Gibt es einen gerechtigkeitsorientiert vertretbaren Nationalismus und supranationalstaatlichen Nationalismus?
Folgende Nationalismen[1] können idealtypisch unterschieden werden. Real sind diese Nationalismen in umkämpften Diskursen miteinander verwoben und es gibt stets auch Gegendiskurse.
Der auf Vertreibung und Vernichtung kulturell-ethnisch-rassialisierend-religiöse-sprachlich-national „Anderer“ abzielender Nationalismus basiert auf der Idee der „Volksgemeinschaft“ im Nationalsozialismus (vgl. Nolzen/Sünker 2018). Das spezifische dieser Idee ist, dass Angehörige bestimmter z. B. osteuropäischer Nationen angegriffen, unterworfen und im Kontext kriegerischer Handlungen getötet werden sollten, dass alle Personen jüdischen Glaubens ermordet werden sollten, ebenso wie deutsche Staatsangehörige jüdischen Glaubens sowie Deutsche, die Roma, Romnja und Sinti*ze waren oder die als „behindert“, krank“, „nicht bildungsfähig“ oder „nicht arbeitsfähig“ galten, vernichtet werden sollten.
Der auf natio-kulturell-ethnisch-rassialisierend-religiös und sprachliche „Reinheit“ abzielende Nationalismus operiert wie die AFD, die identitäre Bewegung in Deutschland und die Front National in Frankreich mit dem kulturellen Rassismus (Kultur als Sprachversteck für „Rasse“-Konstruktionen). Gesprochen wird von der Gleichwertigkeit von Kulturen, jedoch sollten diese separiert in „ihren“ nationalen Territorien leben. Diese Konstruktion gilt als bedeutsames Element des biologisch-rassistischen Denkens in Europa.
Der unterwerfend integrierende Nationalismus gegenüber, national, kulturell-ethnisch- rassialisierend-religiöse-sprachlich „Anderen“ gründet zum einen wie im deutschen Kolonialismus auf biologistisch-rassistischen Konstruktionen europäisch zivilisatorischer, deutscher Überlegenheit (vgl. El-Tayeb 2001). Zum anderen basiert es im gegenwärtigen (2020er Jahre) Deutschland auf der Befürwortung der Gleichwertigkeit aller Menschen, Religionen und Nationen bei gleichzeitiger Hierarchisierung von Menschen nach Staatsbürger*innenschaft und Aufenthaltstiteln sowie Praxen des Racial Profiling und einer faktischen ethnisch-rassistischen Diskriminierung und damit einher gehender tendenzieller Segmentierung des Arbeitsmarktes, die den beruflichen Aufstieg bestimmter religiöser und rassialisierter Gruppen sehr erschwert (FRA 2019). Diese Segmentierung ist durchlässig und doch in ihrem Bestand stabil, trotz kleiner Veränderungen. Verwoben ist der unterwerfend integrierende Nationalismus mit der kapitalistischen Verwertung menschlicher Arbeitskraft und dem Vernachlässigen und Sterben-Lassen des „verworfenen Lebens“ (Baumann 2005). Die in und durch europäische Staaten benachteiligten Gruppen in Europa sind historisch oft die gleichen: Menschen afrikanischer Herkunft, Roma, Romnja und Sinti*ze (vgl. Melter 2021).
Der ambivalente Nationalismus, von Thomas Pogge „gehobener Nationalismus genannt“ (vgl. Pogge 2011), bevorzugt „eigene“ Staatsbürger*innen“ und strebt ein geringes Maß an Diskriminierung natio-kulturell-ethnisch-rassialisierend-religiös-sprachlich-national „Anderer“ an. Albert Scherr teilt diese Unterscheidung von Thomas Pogge zwischen „gewöhnlichem und gehobenem Nationalismus“ (Scherr 2017). Pogge schreibt hierzu: „Bürger und Regierungen dürfen (und sollten vielleicht) sich stärker darum kümmern, dass ihr eigener Staat gerecht ist … als darum, dass andere Sozialsysteme gerecht sind und das Ausländern keine Ungerechtigkeit und kein anderes Unrecht widerfährt.“ (Pogge 2011) Real erscheint diese Form des Nationalismus als eine Idealvorstellung, die z. B. in Kanada offiziell angestrebt wird. Real gibt es dort jedoch weiter Rassismus und als dessen Teil die ökonomische und soziale Schlechterstellung u. a. der First Nations sowie Praxen des Racial Profiling durch staatliche Institutionen (vgl. Francis/Tator 2006).
Zudem gibt es den supranationalstaatlichen Nationalismus sowohl als kolonialrassistischen Imperialismus seit Beginn des europäischen Kolonialismus und die gegenwärtige Ausbeutungs- und Abschottungspolitik im Kontext der „Festung Europa“. Als zentrales verbrecherisches Vertragswerk des europäischen supranationalstaatlichen Nationalismus kann die Berliner Kongo-Akte, beschlossen auf der Berliner Afrika-Konferenz 1884-1885, gelten. Mit diesen Verträgen wurden die Absprachen europäischer Staaten zu Überfall, Aneignung, Unterwerfung und Ausbeutung afrikanischer Länder festgelegt. Die gegenwärtige EU-Wirtschafts-, Migrations- und Asylpolitik folgt der kolonialrassistischen Logik der Ausbeutung von Rohstoffen und Arbeitskraft aus Afrika und Asien sowie dem Migrationsregime, welches das Menschenrecht auf Asyl an den EU-Außengrenzen systematisch bricht und vor allem Personen ein Bleiberecht gemäß ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit zuteilt. Teils wird selbst auf den wirtschaftlichen Nutzen verzichtet, da in mehreren Ländern der auf natio-kulturell-ethnisch-rassialisierend-religiös und sprachliche „Reinheit“ abzielende Nationalismus selbst Schaden der Volkswirtschaft billigend in Kauf nimmt.
Nationalistisch-rassistische Gesellschaftsverhältnisse in Deutschland
In Deutschland ist im postnationalsozialistischen Deutschland aktuell de facto der unterwerfend integrative Nationalismus der dominante Nationalismus in Nachfolge von kolonialem Nationalismus und des auf Vernichtung abzielendem Nationalismus der NS-Zeit. Verbunden ist der unterwerfende Nationalismus mit einer natio-ethno-kulturell-sprachlich-religiös-rassialisierenden Zugehörigkeitsordnung (vgl. Melter 2021), welche als nationalistisch-rassistische Gesellschaftsverhältnisse bezeichnet werden können und der EU-Politik der Festung Europa als suprastaatlicher Nationalismus in der Tradition des europäischen Kolonialismus.
Logiken und Praxen nationalistisch-rassistischer Gesellschaftsverhältnisse werden in der EU und in Deutschland systematisch verwirklicht. Kritiken des Nationalismus und Rassismus werden artikuliert, münden jedoch selten in politische, rechtliche und soziale Realitäten. Die historische Heuchelei europäischer Staaten, die Menschenrechte für sich reklamieren, jedoch systematisch brechen (vgl. Pateman/Mills 2008), setzt sich trotz des vorhandenen Widerstands fort.
Literatur
Adorno, Theodor W.(1970): : Erziehung nach Auschwitz. (1966) In: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959 – 1969. Herausgegeben von Gerd Kadelbach. Frankfurt am Main 1970, S. 92–109.
Baumann, Zygmunt (2005):Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition
Du Bois, W.E.B. (1903): The Souls of Black Folk. New York: Penguin.
El Tayeb, Fatima (2001): Schwarze Deutsche. Der Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890–1933. Frankfurt am Main: Campus-Verlag
FRA (2021): Your Rights Matter: Police Stops. Brüssel: https://fra.europa.eu/en/publication/2021/fundamental-rights-survey-police-stops
Melter, Claus (2021): Nationalistisch-rassistische Ruhe-im-Karton-Pädagogik oder menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit und Bildung? Einleitende Kommentierung zur zweiten Auflage 2021. In: Melter, Claus (Hrsg.): Diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung. Weinheim u.a., S. 24-41.
Nolzen, Armin/Sunker, Heinz (2018): Nationalsozialismus. In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Munchen: Ernst Reinhardt-Verlag, 6. Auflage, S. 1091–1104.
Pateman, Carole/Mills, Charles (2008): Contract & Domination. Cambridge/Malden: Polity
Pogge, Thomas (2011): Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verantwortungen
und Reformen. Ideen und Argumente. Berlin: Walter de Gruyter
Scherr, Albert (2017): Rassismus, Post-Rassismus und Nationalismus. Erfordernisse einer differenzierten Kritik. In: PERIPHERIE Nr. 1467147, 37. Jg., https://doi.org/10.3224/peripherie.v37i2.05, S. 232–249
Tator, Carol/Henry, Francis (2006): Racial Profiling in Canada. Challenging the myth of ‚a few bad apples‘. https://kritisch-lesen.de/rezension/rassistische-polizeipraxis-im-demokratischen-rahmen (Recherchedatum 27. 11. 2020)
[1] Folgende Passagen entsprechen Teilen des Artikels „Nationalistisch-rassistische Ruhe-im-Karton-Pädagogik oder menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit und Bildung? Einleitende Kommentierung zur zweiten Auflage 2021.“ (Melter 2021)