„Ich finde es nicht hinnehmbar, wenn Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, sich nicht auf Deutsch unterhalten können, keine Elternabende ihrer Kinder besuchen oder diese sogar vom Unterricht oder vom Sport fernhalten” (ZEIT ONLINE 2018), so der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck gegenüber der Bildzeitung im Jahr 2018. Solche Formulierungen schließen nicht nur an linguizistische Diskurse an, sondern öffnen auch Raum für Fragestellungen wie „Was bedeutet Nicht-Hinnehmbarkeit in diesem Zusammenhang?“ und vor allem „Wer sind die Rezipient*innen dieser Kritik?“.
Sollte die Annahme von Joachim Gauck zutreffen, dass die adressierte Gruppe sich „nicht auf Deutsch unterhalten“ kann, muss davon ausgegangen werden, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit die seiner Äußerung inhärente Kritik sprachlich nicht versteht. Die Botschaft richtet sich also nicht an sie. Vielmehr steht ein auf sprachlicher Ebene zum Nachvollziehen befähigtes Wir im Fokus, das sie kollektiv teilt und Narrativen zustimmt, die vorgeben, dass Deutsch sprechen muss, wer in Deutschland lebt. Dass sie von einer Machtperson hervorgehoben wird, lässt die Forderung in besonderem Maße als legitim und wahr erscheinen.
Foucault zufolge ist die Wirksamkeit der Diskurse von dem Status der sie (re)produzierenden Subjekte abhängig. Insbesondere im Namen einer Institution sprechende Subjekte könnten eine machtvolle (Re)Produktion und Stabilisierung herbeiführen (vgl. Foucault 2016: S. 525).
Das Sprechen hat auch nach Derrida (2003) eine performative Macht und Wirkung. „Und dann gibt es ein Sprechen, das, indem es spricht, etwas tut, ein Sprechen, das handelt und wirkt“ (Derrida 2003: S. 19).
Doch wie steht es tatsächlich um die deutschen Sprachkenntnisse von Migrationsanderen[1]? Laut einer Befragung des IABs (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) gaben von insgesamt 5.000 teilnehmenden, „Jahrzehnte in Deutschland lebenden“ Migrant*innen 63 % – somit die Mehrheit – an, über sehr gute Deutschkenntnisse zu verfügen (Liebau/Romiti 2014: S. 14). Das zeigt die diskursive Kraft, Macht und Beständigkeit der Narrative, die nicht ohne Weiteres verschwinden, auch wenn sie nicht mehr zutreffen.
Sprachliche Codes können Hinweise auf die adressierte Gruppe geben, sodass die angesprochenen Konstruktionen körperhaft werden. Die Zeitangabe „Jahrzehnte in Deutschland lebend“, die Markierungen „nicht Deutsch sprechend“, „nicht Elternabende ihrer Kinder besuchend“ sowie „vom Unterricht und Sport fernhaltend“ können als sprachliche Codes für bestimmte Konstruktionen verstanden werden, die ein kollektives „Wissen über …“ (re)aktivieren. Durch Signalwörter werden die Leerstellen imaginär gefüllt und dominante Diskurse aufgerufen, die es ermöglichen, die gemeinte Gruppe zu identifizieren, obgleich Begriffe wie beispielsweise Migrant*innen, Muslim*innen und Gastarbeiter*innen nicht explizit Erwähnung finden. Diskurse über rassifizierte, insbesondere als Muslim*innen gelesene Personen, in Verknüpfung mit Attributionen wie „nicht Deutsch sprechend“ und „ihre Kinder vom Sportunterricht fernhaltend“ operieren mit dominanten Rassekonstruktionen, die sich in dominanten Narrativen wiederholen. Rassistische Narrative kommen hier also auch ohne rassistisches Vokabular aus.
Der Rückgriff auf Sprache stellt eine machtvolle, an Rassekonzepte anschließende Tradition dar (vgl. Dirim/Pokitsch 2018: S. 15). Um beispielsweise die koloniale Gewalt zu legitimieren, wurde Sprache als Kategorie für die Produktion und Stabilisation der „Rasse“-Konzeption herangezogen. Die beiden Dimensionen stehen folglich in einem engen Zusammenhang.
Linguizismus „verweist auf die Rolle der Sprache […] als zentrales Element einer Nation“ (Dirim 2010: S. 93). Dies hat historische Gründe, die in der Idee der Nationsbildung und deren selbstverständlicher, nicht hinterfragter Durchsetzung liegen (vgl. Dirim/Mecheril 2010: S. 106). Linguizismus ist „eine spezielle Form des Rassismus“ (Dirim 2010: S. 91). Es geht dabei genau genommen nicht nur um Sprachen, sondern vielmehr um Personen(gruppen), die durch die Differenzkategorie Sprache Abwertung erfahren (vgl. Dirim/Pokisch 2018: S. 21) – beispielsweise wegen des Sprechens (einer) der entprestigierten Migrationssprache(n) (u. a. Türkisch, Russisch, Polnisch, Kurdisch, Arabisch), die in der Sprachenhierarchie einen geringen Stellenwert innehaben. Dirim/Mecheril (2017) betonen, „Plätze in der Höhe sind besetzt“ (S. 451). (Migrationssprachen betreffende) Sprachverbote auf dem Schulhof werden vor diesem Hintergrund unter Rückgriff auf das „Deutschgebot“ (ebd. S. 452) scheinpädagogisiert. Auch die Sprechart, beeinflusst von der Erstsprache bzw. Herkunftssprache, bestimmte Jugendsprache(n), z. B. das sogenannte Kiezdeutsch, und ein vermeintlicher Akzent etc. avancieren zu sprachlichen Differenzkategorien, die als von der Norm abweichend einer bestimmten Intelligenz der Sprechenden zugeschrieben werden. Folgendes Zitat bringt dies auf den Punkt: „Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so” (Dirim 20l0: S. 91).
Unter Linguizismus werden auch „Sie sprechen aber gut Deutsch„-Phänomene gefasst (Cindark 2012: S. 4). „Was machen du?“-Phänomene (ebd. S: 5), bei denen es sich um eine spezifische Sprechart (Foreigner Talk) handelt, die nur dann Einsatz findet, wenn mit bestimmten Personen kommuniziert wird, nämlich mit jenen, die als Ausländer*innen betrachtet werden, gehören ebenfalls zu Gegenständen des Linguizismus.
Die zitierte „Nicht-Hinnehmbarkeit“ impliziert eine (Auf-)Forderung zum Deutschsprechen. Jederzeit und in jeder Situation kann sie in Erscheinung treten.
So stattete Joachim Gauck 2014 am zehnten Jahrestag zum Gedenken an den Nagelbombenanschlag (2004), bei dem 22 Menschen verletzt wurden, davon vier schwer, dem Tatort an der Kölner Keupstraße einen Besuch ab. Nach anerkennenden Worten wie „Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie nicht weggegangen sind“ (Burger 2014, o. S.) wies er den während des Anschlags verletzten Hasan Yıldırım und seinen Bruder Özcan Yildirim in dem Friseursalon, vor dem die Bombe explodierte, zurecht: „Und beim nächsten Mal sprechen Sie aber Deutsch mit mir!“ (Maus 2016, zitiert in Buchmann 2016, o. S.). Diese Stigmatisierung ist exemplarisch für Linguizismus und verdeutlicht dessen Omnipräsenz.
Literatur- und Quellenverzeichnis
Buchmann, A. (Interview mit Andreas Maus, 18.02.2016): „Die Wunden sind nach wie vor sehr tief”. In: Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/koelner-keupstrasse-im-kino-die-wunden-sind-nach-wie-vor-100.html (Abruf: 20.11.2021).
Cindark, İ. (2012): „Was machen du?“ und „sie können aber gut deutsch!“ Das Deutsch der Deutschen gegenüber Migranten und rhetorische Verfahren der „emanzipatorischen“ Migranten, damit umzugehen. In: Sprachreport 1/2012: https://pub.ids-mannheim.de/laufend/sprachreport/pdf/sr. „Was machen du?“ und „sie können aber gut deutsch!“ Das Deutsch der Deutschen gegenüber Migranten und rhetorische Verfahren der „emanzipatorischen“ Migranten, damit umzugehen von Ibrahim Cindark12-1a.pdf (Abruf: 20.11.2021).
Dirim, İ./Pokitsch, D. (2018): (Neo-)Linguizistische Praxen in der Migrationsgesellschaft und ihre Bedeutung für das Handlungsfeld, Deutsch als Zweitsprache’. In: Roth, K. S./Schramm, K./Spitzmüller, J. (Hrsg.): Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) (S. 13 – 32). Duisburg, Universitätsverlag Rhein-Ruhr OHG.
Dirim, İ./Mecheril, P. (2017): Warum nicht jede Sprache in aller Munde sein darf? Formelle und informelle Sprachregelungen als Bewahrung von Zugehörigkeitsordnungen. In: Fereidooni K./El, M. (Hrsg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen (S. 447-462). Wiesbaden, Springer.
Dirim, İ. (2010): „Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so“. Zur Frage des (Neo-)Linguizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Mecheril, P./Dirim, I./Gomolla, M./Hornberg, S./Stojanov, K. (Hrsg.): Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung (S. 91 – 114). Münster/New York/München/Berlin, Waxmann.
Derrida, J. (2003): Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin, Merve.
Foucault, M. (2016): Archäologie des Wissens. In: Foucault, M. Die Hauptwerke (S. 471 – 699). 4. Auflage. Frankfurt, Suhrkamp.
Liebau, E./Romiti, A. (2014): Bildungsbiografien von Zuwanderern nach Deutschland. Migranten investieren in Sprache und Bildung. In: Institut für Arbeits- und Berufsforschung. IAB-Kurzbericht 21.2/2014. https://doku.iab.de/kurzber/2014/kb2114_2.pdf (Abruf: 27.11.2021).
Mecheril, P. (2010): Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive. In: Mecheril, P./Castro Varela, M. d. M./Dirim, İ./Kalpaka, A./Melter (Hrsg.): Bachelor | Master: Migrationspädagogik (S. 7 – 22). Weinheim und Basel, Beltz.
ZEIT ONLINE (07.06.2018). „Es darf keine falsche Rücksichtnahme geben“. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-06/zuwanderung-joachim-gauck?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F (Abruf: 26.11.2021).
[1] Mit dem Kunstwort ‚Migrationsandere‘ bietet Mecheril ein Instrument, das auf den Konstruktionscharakter von Begriffen wie ‚Migrationshintergrund‘ und ‚Ausländer*in‘ hinweist, die Personen als ‚Andere‘ konstruieren (vgl. 2010: S. 17).