Die Corona-Pandemie wirkte – so zumindest die einhellige Analyse der medialen Öffentlichkeit – als Brennglas für gesellschaftliche Probleme. Insbesondere in Bezug auf den Bildungsbereich schien diese Analyse allgegenwärtig zu sein. Jedoch muss gleichzeitig mit kritischem Blick konstatiert werden, dass auch über 20 Jahre nach den Ergebnissen der ersten PISA-Studie die Erkenntnis, dass das deutsche Bildungswesen auch jenseits pandemischer Lagen hochgradig selektiv ist, nicht im breiten Bewusstsein der Öffentlichkeit zu finden ist. Dieses fehlende Verständnis für die Wirkmechanismen des Schulsystems führte dazu, dass die bildungspolitische Diskussion sich zwar um diesen Kritikpunkt drehte, es aber nicht schaffte die strukturelle Ursache, die Dreigliedrigkeit des Systems, zu benennen. Dass aus der Corona-Pandemie in bildungspolitischer Hinsicht gelernt wird, im Sinne dessen, einen strukturellen Umbruch einzuleiten, erscheint aussichtslos. Oder um es anders zu formulieren: eine ähnliche Reformbereitschaft wie etwa nach dem Sputnikschock oder dem PISA-Schock scheint sich nicht anzukündigen.
Es ist längst keine neue Erkenntnis, dass unter den kapitalistischen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft soziale Ungleichheiten – damit Klassenverhältnisse – im Bildungswesen reproduziert werden. Es ist deshalb der zentrale Skandal des deutschen Bildungswesens, dass soziale Ungleichheit durch Bildung nicht nur nicht überwunden wird, sondern im besten Fall verwaltet, aber im Regelfall reproduziert und zementiert wird. Dass diese entscheidende Provokation des Systems gegenüber dem emanzipativen Versprechen von Bildung nicht zu politischen Gegenmaßnahmen führt, deutet auf die Handlungsunfähigkeit der gegenwärtigen und zurückliegenden Bildungspolitik hin.
Die Bildungspolitik aller politischen Parteien hat es versäumt, grundlegend etwas an den Verhältnissen zu verändern. Das hat sich exemplarisch auch in den politischen Bestrebungen der zurückliegenden Monate gezeigt: die bildungspolitischen Forderungen, die dem Eindruck der Pandemie entsprangen, bezogen sich etwa auf Endgeräte für alle Kinder, die Art des Maske Tragens oder auch auf Aufhol- und Nachholprogramme. So berechtigt – und teilweise wichtig – einzelne Forderungen und Maßnahmen waren, wurde es im Allgemeinen verpasst, zu fragen, wie das Bildungswesen besser und damit gerechter gestaltet werden kann. Die von der Politik gestellten Forderungen beziehen sich letztlich auf (wichtige) Details der Gestaltung des Alltags, aber grundlegende Überlegungen, wie die strukturell verankerte Reproduktion sozialer Ungleichheit bekämpft werden kann, traten nicht auf die Tagesordnung.
Bildungstheoretisch hat Heinz-Joachim Heydorn die maßgeblichen Zusammenhänge von Bildung und Gesellschaft herausgearbeitet. Er stellt eine „Interdependenz von Bildung und Herrschaft“ (Heydorn 1970: 283) sowie eine strukturelle Koppelung von „Gesellschaftsverfassung und Bildungsinstitution“ (Heydorn 1972: 60) heraus und merkt an, dass Bildungsinstitutionen die gesellschaftlichen Strukturen und damit soziale Grenzen und Hürden absichern sollen. Diese konservative und konservierende Funktion des Bildungswesens gilt es im Sinne einer linken, emanzipativen Bildungspolitik aufzubrechen und aufzulösen. Damit etwaige Reformen allerdings nicht derart enden, wie Heydorn mit „Ungleichheit für alle“ die Gesamtschuleinführung resümiert, wird es unabdingbar sein, strukturelle Veränderungen des Bildungswesens mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zu synchronisieren. Da sich an dieser Stelle auf die politischen Parteien nicht verlassen werden kann, die Bildung aller endlich den Interessen der herrschenden Klasse vorzuziehen, müssen bei diesem Prozess Gewerkschaften als Organisationen und Vertretungen aller Bürger*innen eine zentrale Rolle einnehmen. Dafür muss sich das (Selbst-)Verständnis der Gewerkschaften an manchen Stellen ändern. Es ist die Aufgabe der Gewerkschaften, auf die Demokratisierung der Gesellschaft und damit auf die gleichen Teilhabemöglichkeiten aller zu bestehen. Dafür wird es auch unabdingbar sein, auch die Wirtschaftsweise des Kapitalismus auch in etwaigen Formen der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft grundlegend zu hinterfragen. Denn ohne die Abschaffung von Verhältnissen, die Mensch und Natur ausbeuten, wird es keine ernstgemeinte Demokratisierung geben können. Es wird daher eine zentrale Forderung sein müssen, alle Menschen über Bildung zu Mündigkeit zu führen. Die Distinktion über das Bildungswesen anhand der sozialen Herkunft steht diesem Demokratisierungsprozess im Weg.
Angesicht dessen, dass Bildungstheorie und -forschung seit Jahrzehnten auf diesen Zustand hinweisen und sich nichts verändert hat, muss die Frage gestellt werden, welche bildungspolitischen Visionen überhaupt vorhanden sind. Gibt es ein utopisches Potential, an dem Bildungspolitik ausgerichtet werden kann? Die beiden großen bildungspolitischen Forderungen der Gewerkschaften, die sich in diesem Rahmen begreifen lassen können und nicht primär auf die Arbeitsbedingungen abzielen, lauten: eine Schule für alle und Chancengleichheit. Während sich die eine Forderung als Frage der Schulstruktur begreifen lässt, kann die andere Forderung die Möglichkeit aller Kinder und Jugendlichen beschreiben, dass ihre Bildung nicht auf Grund ihrer sozialen Herkunft determiniert ist. Letztere Forderung könnte im Sinne einer emanzipativen Bildung verstanden werden, die sich durch ein Einheitsschulsystem schon teilweise realisieren ließ. Diese Forderung wieder in den Fokus zu rücken und für die damit verbundene strukturelle Veränderung kämpferisch einzustehen, muss wieder auf die Tagesordnung.
Die politische Bestandsgarantie des dreigliedrigen Schulsystem, die vor allem die gegenwärtige Form des Gymnasiums absichert, rührt aus den gesellschaftlichen Klassenverhältnissen und der Absicht herrschender Klassen sowie der oberen Mittel- und Oberschicht, die knappen gesellschaftlichen Ressourcen nicht mit anderen teilen zu müssen. Deshalb ist die Forderung nach einer Schule für alle – sofern sie denn die Förderung außerhalb der Schule und insbesondere im vorschulischen Alter mitdenkt – in erster Linie konsequent. Allerdings wird die eine Schule für alle nicht ausreichen, um die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungswesen auszuhebeln. Allein das zunehmend größer werdende Privatschulwesen wird dafür sorgen, dass soziale Unterschiede sich weiter – und wahrscheinlich stärker als je zuvor – manifestieren. Aber auch jenseits dessen darf in der einen Schule für alle nicht das Heilmittel schlechthin vermutet werden.
Während die Forderung nach einer Schule für alle sinnvoll, wenngleich nicht ausreichend erscheint, muss die Forderung nach Chancengleichheit – und auch in der neoliberalen Variante der Chancengerechtigkeit – als ideologisch gekennzeichnet werden. Adorno merkt kritisch an: „Denn der Begriff der Chance, […], ist doch untrennbar an die Konkurrenzgesellschaft und die ‚Karriere‘ in ihr gebunden. […] Gleichheit der Chancen zu fordern, erschöpft den Sozialismus in der Abschaffung des Schulgelds und der Erhöhung der Erbschaftssteuer. Das Monopol wird sich dabei sehr wohl befinden.“ (Adorno 1944: 497f.)“ Die Forderung nach Chancengleichheit basiert auf der Reproduktion kapitalistischer Bedingungen, in denen soziale Ungleichheit produziert wird – Chancengleichheit will Möglichkeiten zum (wirtschaftlichen) Aufstieg schaffen, aber das grundlegende Klassenverhältnis wird nicht attackiert; das grundlegende Problem wird also nicht angegangen.
Angesichts der problematischen Konnotation der Chancengleichheit und der Unzulänglichkeit der Forderung nach einer Schule für alle muss es nun die Aufgabe der Gewerkschaften sein, auf eine grundlegende Reform des Bildungssystems und der Gesellschaft hinzudrängen. Es kommt nun darauf an, die gleiche Bildung aller zu fordern. Nur auf diese Art kann langfristig eine emanzipative Demokratisierung gelingen, die Partizipation und Handlungsfähigkeit aller Bürger*innen schafft. Dies müsste das oberste Ziel linker und emanzipativer Bildungspolitik sein. Sie lässt sich allerdings nur realisieren, wenn die gesellschaftliche Verfasstheit verändert wird. Es ist daher dringend geboten, dass die Gewerkschaften sich intensiv über die Bildung und Gesellschaft der Zukunft austauschen und einen Weg dorthin aufzeigen. Dabei muss die Überwindung aller ungleichen Verhältnisse das oberste Ziel sein. Eine so verstandene emanzipative Bildungspolitik ist dann auch emanzipative Gesellschaftspolitik.
Literatur:
Adorno, Theodor W. (1944): Contra Paulum. In: Ders./Horkheimer, Max: Briefwechsel. 1927-1969. Band II: 1938-1944. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 475–503
Heydorn, Heinz-Joachim (1970): Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. In: ders. (2004): Studienausgabe. Band 3. Wetzlar: Büchse der Pandora
Heydorn, Heinz-Joachim (1972): Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs. In: der. (2004): Studienausgabe Band 4. Wetzlar: Büchse der Pandora, S. 56–145