Manchmal reicht es, einige Sätze aus der täglichen Flut von Texten heraus zu greifen, um einen bedeutsamen Wandel zu markieren. Die Vervielfältigung von Informationen, die Vervielfachung der Medien, mit denen täglich, besser: minütlich, kommuniziert wird, die der Konfusion dienenden talkshows und viele andere Eindrücke verdunkeln den Horizont dessen, was für die Menschen und die Menschheit wichtig ist. Die Überinformation verhindert Informiertheit und die Fähigkeit, Ordnung in einem Bild der Welt zu gewinnen. Dies ist sehr nützlich für jede Form der Herrschaft und für jeden neuen Konsum. Neue Fortschrittsmythen lassen schnell die gestrigen Heilsversprechen vergessen. „Die Impfung“ als Verheißung des Heils gerinnt zur billigen Vertröstung angesichts ihres Verfallsdatums.
Bevor das Nachdenken über diesen Prozess beginnt, wird der Ansatz einer selbständigen Urteilsbildung diskreditiert, die aufkommenden Einwände und Bedenken werden brachial zur Seite geräumt. Dazu reicht nicht ein einmaliger Akt, denn im Rauschen der Informationen stecken immer wieder Formulierungen des Zweifels. Deshalb werden täglich die Richtigstellungen eingestreut und abweichende Gedanken verdammt. Aber auch diese Rhetorik nützt sich ab. Sie bedarf der Steigerung, zum einen der anhaltenden Wirksamkeit wegen, zum anderen um weitergehende Zielvorstellungen zur Geltung zu bringen. Ein Paradebeispiel für diese Dynamik ist die kriegstreiberische Agitation gegen Russland, seit Jahren die Expansion der NATO und die permanente Aufrüstung des Westens legitimierend.
In der Süddeutschen Zeitung vom 3.12.2021 kann man auf der Seite für die Indoktrination auch einen solchen Kommentar lesen. Aber dieser soll an dieser Stelle nicht interessieren. Es geht vielmehr um die Sprache der Corona-Politik, die eine besondere Form angenommen hat. Sie bringt paradigmatisch einen Wandel zum Ausdruck, der die Gesellschaft verändert hat und weiter verändert.
Rhetorisch geschickt wird zunächst ein „Zeitalter der Empfindlichkeit“ beschworen, das Achtsamkeit und Freundlichkeit im zwischenmenschlichen Kontakt mit sich gebracht habe. Dieses harmonisch skizzierte Bild erscheine aber gegenüber der Realität als unwirklich, als „Verkündung der Menschenrechte im Bürgerkrieg“. Die Rhetorik ist in diesem Zugang insofern davon galoppiert, als die Situation mit „Bürgerkrieg“ assoziiert wird, was alle Mittel des Krieges legitimiere. Das bedeutet aber auch, dass die Menschenrechte dann nicht mehr gelten sollen, wenn ein Konflikt den Kriegszustand erreicht hat. Sie wirken lächerlich im Krieg. Genau dies wird ja in den Kommentaren zur Situation an der polnisch-belarussischen Grenze im November 2021 so gesehen, wo die menschenrechtswidrigen push-backs nicht nur die Grenze für die europäischen Menschenrechtserklärungen markieren, sondern dann auch noch der Aggression des belarussischen Systems zugeschrieben werden. Der Dieb ruft gerne „Haltet den Dieb!“.
Der Kommentar befasst sich aber mit der „Politik mit Wumms“ im Kampf gegen die Pandemie. Es geht jetzt gegen den „Kuschelkurs“. Die ansonsten „harte Maßnahmen“ genannten Beschlüsse von Bund und Ländern sollen nun nicht als „Zeichen der Schwäche“, sondern als „entschlossenes Handeln“ gelten. „Die Rücksicht auf Zögernde und Uneinsichtige hat zu lange gedauert“. Präzisiert man die schönen Worte in ihre gegenläufige Bedeutung, so geht es um die Rücksichtslosigkeit der Entschlossenen und der Einsichtigen. Die Fronten sind geklärt.
Zum besseren Verständnis möge die Einleitung des Kommentars von Werner Bartens (SZ, 3.12.21, S.4) zitiert werden: „Im Zeitalter der Empfindlichkeit leben wir. Niemand soll verschreckt werden. Achtsam sein, freundlich sein, nur keine Mikroaggressionen aussenden und niemanden beschimpfen. Diese Empfehlungen gelten allüberall, obwohl sie angesichts der Pöbeleien in den ‚sozialen Medien‘ – aber nicht nur dort – manchmal ähnlich hilflos wirken wie die Verkündung der Menschenrechte im Bürgerkrieg. Angesichts unerträglicher Zustände in den Kliniken hat die Politikjetzt den Kuschelkurs beendet. Nach zahlreichen halbgaren Entscheidungenhaben die Verantwortlichen endlich sich getraut, den Menschen etwas zuzumuten. Und das ist richtig so.“
Am selben Tag (3.12.21) hatte die Bundesregierung auf ihrer Webseite verkündet: „Um die vierte Welle der Corona-Pandemie zu brechen, haben Bund und Länder gemeinsam Maßnahmen beschlossen.“ Die Tagesschau meldet am Nachmittag, dass einige Bundesländer bei den „Verschärfungen nachlegen“. In wenigen Tagen hat sich die Rede vom „Brechen der vierten Welle“ universell ausgebreitet, kein Publikationsorgan verzichtet mehr auf die martialische Formulierung. Es scheint wieder Zeit für „hartes Durchgreifen“ gekommen zu sein. Aus dem Handelsblatt vom 9.11. kommt einem ausnahmsweise die Bewunderung für Italien entgegen, denn dort habe sich „das harte Durchgreifen ausgezahlt“.
Schon im Juni 2021 hatte der „grüne“ Ministerpräsident von Baden-Württemberg postuliert, dass im Pandemiefall die Regierung „härter durchgreifen dürfe“. Und im März 2021 hatte die Bundeskanzlerin für ein „hartes Durchgreifen“ plädiert. Nachdem die Fronten aufgebaut sind, kann die Aggression auf einem höheren Niveau fortgesetzt werden. Es braucht keine Rücksicht mehr genommen zu werden auf einen innergesellschaftlichen Zustand der Gemeinsamkeit. Es geht nicht um Unterschiede, die nebeneinander und gegen einander in einem Ganzen koexistieren können, sondern um Trennung, um Auseinandertreiben der Guten und der Bösen. Die Pandemie rechtfertigt die Apokalypse.
Die Sprache der Politik und der Publizistik erinnern nicht nur an die politische Sprache der Vergangenheit der nationalen Kriege und der Bürgerkriege. Sie ist auch die Sprache einer Pädagogik, die immer wieder aufkommt, und zwar einer Pädagogik der „Zucht und Ordnung“. Gerade der nicht mehr verwendete Begriff der „Zucht“ enthält eine Vorstellung, die heute in moderner Terminologie daherkommt. Wider die „Weicheiner“ richtet sich die Polemik, gegen zu viel Rücksichtnahme auf das Kind, gegen Achtsamkeit und Empfindlichkeit – gerade so wie in dem zitierten Kommentar. Dem Schreckensbild dieser schludrigen Erziehung wird die geordnete Erziehung, die Autorität, die sich nicht schämt, oder die leistungsorientierte Auslese gegenübergestellt.
Die Politisierung der Pädagogik, die in diesen Schlagworten, also Worten, die schlagen, vollzogen wird, hat beispielhaft die AFD im Programm für die Bundestagswahl 2021 formuliert. Im Kapitel „Mut zur Leistung“ heißt es: „Ein leistungsorientiertes, differenziertes Bildungswesen ist die Grundlage unseres Wohlstands und wesentlicher Bestandteil unserer Kultur. Während seit Jahrzehnten jedoch die Abiturientenquote immer weiter steigt, fehlen den Auszubildenden und Studienanfängern grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten. Seit dem PISA-Schock vor 20 Jahren jagt eine Reform die andere, mit ständiger weiterer Absenkung des Niveaus. Die Bildungsstandards aller Schulformen und Bildungseinrichtungen müssen wieder auf das Niveau einer führenden Wissenschafts- und Industrienation gehoben werden.“
Nicht nur Leistungsverlust, Niveauabsenkung oder Billigabitur werden beklagt, es gehört scheinbar auch Mut dazu, ein solches Programm zu vertreten. Diese Selbststilisierung in die Position des beherzten Kämpfers, der Mut braucht, um eine solche Forderung aufzustellen, ist die besondere Form der politischen Agitation. Denn wenn der Eindruck erweckt werden kann, dass nicht nur die Sachverhalte zutreffend beschrieben sind, sondern auch ihre Thematisierung unterdrückt werde, dann ist der widerständige Kämpfer in eine unangreifbare Position gerückt. “Mut zur Erziehung“ war deshalb die Parole der Gegenbewegung zur Abkehr von der autoritären Pädagogik. Die Politisierung der Pädagogik in diesem Sinne einer Re-aktion beruht aber nicht auf „binnen-pädagogischen“ Überlegungen, sondern importiert ein Gesellschaftsbild in die Erziehung. Deshalb ist der Bezug im AFD-Programm auf die „führende Wissenschafts- und Industrienation“ die zentrale Begründung für die Unterordnung des Pädagogischen unter eine leistungsstrukturierte Gesellschaft.
Im Verlauf der Corona-Politik sind nun diese Muster wieder in die Politik zurückgeführt worden, indem der Staat pädagogisch dem Bürger gegenübertreten darf und soll. So kann gefordert werden, dass der „Kuschelkurs“ zu beenden sei, das „Brechen der vierten Welle“ nur mit „Verschärfungen“ und „hartem Durchgreifen“ gelinge könne. Scheinbar nur gegenüber den sogenannten „Impfgegnern“ oder „Impfverweigerern“ tritt der Staat, mit Billigung des Verfassungsgerichts, als Lehr- und Zuchtmeister auf, sondern gerade auch gegenüber den braven Bürgern, die den Imperativen des Medizinisch-Industriellen Komplexes Folge leisten. Sie werden mit dem Prädikat „vernünftig“ ausgezeichnet und sie merken noch nicht einmal, dass ein Bürger nur selbst über seine Vernunft entscheiden kann. Sie dürfen „Solidarität“ einklagen, wo es nur um die Angst um das eigene Leben geht.
Die Pädagogisierung der bürgerlichen Freiheit, die an ein bestimmtes Wohlverhalten, also gerade nicht nur an die übliche Gesetzeskonformität gekoppelt wird, stellt die Freiheit unter Vorbehalt einer politischen Konformität. Die unendliche Angst um das Leben kann nicht mit Herdenimmunität rechnen. Die pädagogisch erzeugte Herdenkonformität tritt an die Stelle einer bürgerlichen Übereinkunft.