Soll die Klimakatastrophe noch verhindert werden, so ist ein Umbau der Wirtschaft unerlässlich. Das sehen inzwischen sehr viele ein, so scheint es. Die Frage ist dann aber, ob man das im Vertrauen auf die demokratische Öffentlichkeit mit staatlichen Eingriffen zu machen trachtet oder aber im Vertrauen auf die Rationalität des Marktes mit Subventionen und Steuererleichterungen für Unternehmen. SPD, Grüne und FDP haben sich bei ihren Verhandlungen über eine künftige Koalitionsregierung für den zweiten Weg entschieden.
Ihr Sondierungspapier ist beherrscht von Schlagworten: Ein „Aufbruch“ wird angekündigt, „Fortschritt“ und „Modernisierung werden versprochen. Man betrachtet sich als „Fortschrittskoalition“, die für einen „grundlegenden Wandel“ sorgen wird. „Modernisierung“ ist eine häufig gebrauchte Worthülse. Man hat den Eindruck, die Beteiligten haben sich richtig berauscht an den großen Worten.
Eine Beschreibung, wie es um unsere Welt steht, ersparen sie sich. Sie eröffnen uns gleich großartige Aussichten. Kein Wort zu Klimakrise, Luftverschmutzung, Artensterben, auch nichts von der wachsenden Kluft zwischen arm und reich, wovon allerdings die SPD schon in ihrem Wahlprogramm nicht reden mochte. Nichts über die grassierende Armut. Nur über „den sozialen Zusammenhalt“ ist man besorgt. Armut in anderen Erdteilen oder gar Hunger ist ohnehin kein Thema. Die nahende Klimakatastrophe wird als „Klimawandel“ verharmlost.
Die bestimmende Sichtweise ist eurozentrisch. Da ist zu lesen: „Die nächsten Jahre sind entscheidend, um Deutschland und Europa zu stärken – für die großen Herausforderungen wie den Klimawandel, die Digitalisierung, die Sicherung unseres Wohlstands, den sozialen Zusammenhalt und den demografischen Wandel.“ Die Differenz zwischen starken und schwachen Mitgliedern der EU bleibt dabei unbeachtet, von der Verschuldung und Verarmung der Länder im globalen Süden ganz zu schweigen.
Auf die desaströse Militärintervention in Afghanistan reagiert das Verhandlungsteam für die künftige Ampelkoalition mit der Versicherung: „Wir wollen die Evakuierungsmission des Afghanistan-Einsatzes in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufarbeiten.“ Es geht um eine strategische Bewertung, um in Zukunft besser gerüstet zu sein. Denn weiter heißt es: „Zudem wollen wir den Gesamteinsatz in einer Enquete mit wissenschaftlicher Expertise evaluieren. Die gewonnenen Erkenntnisse müssen praxisnah und zukunftsgerichtet aufbereitet werden, so dass sie in die Gestaltung zukünftiger deutscher Auslandseinsätze einfließen.“ Nicht eine Spur von Zweifel am Sinn solcher Einsätze ist erkennbar. Bestimmend ist eine rein instrumentelle Rationalität. Man hat nicht den Eindruck, dass die sozialen und politischen Verwüstungen, die der Krieg angerichtet hat, Gegenstand der „Evaluation“ werden sollten. Die ökologischen Folgen der geopolitischen Interventionspolitik scheinen selbst die Grünen nicht umzutreiben.
Im ersten programmatischen Abschnitt unter der Überschrift „Moderner Staat und digitaler Aufbruch“ werden „schnelle Verwaltungs-, Planungs- und Genehmigungsverfahren“ als Ziel genannt. „Es geht darum, das Leben einfacher zu machen.“ Es fragt sich nur, für welche Bürgerinnen und Bürger, auch für die, die von Transfer-Leistungen abhängig sind? Bei all den Versprechen wird die lähmende Armut der öffentlichen Hand außer Acht gelassen. Das Nein zur Besteuerung größerer Vermögen bei der von der Verfassung erzwungenen „Schuldenbremse“ lässt da keine Änderungen erwarten.
Die Vorhaben zum Klimaschutz sind enttäuschend wenig ambitioniert, wenn man bedenkt, dass die Grünen mit am Tisch saßen. Man setzt auf technologische Innovationen. „Neue Geschäftsmodelle und Technologien können klimaneutralen Wohlstand und gute Arbeit schaffen“, so die Zuversicht. So will man zum Beispiel mit einem smarten System den Individualverkehr mit dem Öffentlichen Verkehr koordinieren. Der Ausbau des ÖPNV ist nicht das Thema. Investitionen in Klimaschutz möchte man mit „Superabschreibungen“ „einen Schub geben“. Deutschland will man „zum Leitmarkt für Elektromobilität machen“. Das Denken in wirtschaftsliberalen und nationalen Kategorien ist kaum zu verkennen. Dass die Grünen ihrer Wählerschaft den Ausbau Erneuerbarer Energien zusagen und einen vorgezogenen Kohleausstieg in Aussicht stellen, ist geschenkt. Einschränkend fügte man aber hinzu: „Idealerweise gelingt das schon bis 2030.“ So vorsichtig wie gegenüber den Energiekonzernen ist man auch gegenüber der industriellen Landwirtschaft. Pflanzenschutzmittel möchte man „auf das notwendige Maß beschränken“.
Die sozialpolitischen Positionierungen wirken vor dem Hintergrund der Kinder- und Altersarmut und angesichts der drohenden Erwerbslosigkeit im Zug der wirtschaftlichen Transformation dürftig. Die SPD setzte durch, dass ein Mindestrentenniveau von 48 Prozent festgehalten und eine Erhöhung des Renteneintrittsalters ausgeschlossen wurde. Aber man will „in eine teilweise Kapitaldeckung der Gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen“ und „der Deutschen Rentenversicherung auch ermöglichen, ihre Reserven am Kapitalmarkt reguliert anzulegen“. Das bedeutet zum einen, den aufgeblähten Finanzmarkt weiter zu füttern, und zum anderen, die Rentner:innen den Risiken dieses Marktes auszusetzen. Das angekündigte Kindergrundsicherungsmodell lässt Fragen offen, vor allem die Frage, ob und inwieweit damit soziale Ungleichheit kompensiert werden soll und kann. Die Verständigung auf einen Mindestlohn von 12 Euro ist zusammen mit der angestrebten Stärkung der Tarifbindung anerkennenswert, wenn die 12 Euro auch, unter anderem um spätere Altersarmut zu verhindern, unzureichend sein dürften. Lächerlich ist die Umbenennung von Arbeitslosengeld II in „Bürgergeld“. Nichts als Schönfärberei.
Die geltenden Mieterschutzregelungen, die ganz offenbar kaum Schutz bieten, wollen die Verhandlungspartner „evaluieren und verlängern“. Wozu die Evaluation gut sein soll, bleibt rätselhaft. Orakelhaft ist die Rede von einer „neuen Wohngemeinnützigkeit“ und „einem ‚Bündnis bezahlbarer Wohnraum‘ mit allen wichtigen Akteuren“, zu dem die Koalitionäre einladen wollen. Wie will man damit die heutige Notlage überwinden, wenn man liest, dass jeder vierte Mieterhaushalt armutsgefährdet ist?
Als gesundheitspolitisch fatale Entscheidung kann das Festhalten an dem System der Fallpauschalen gelten. Man will es lediglich „weiterentwickeln“, d.h. für bestimmte Fallgruppen wie Kinder spezifizieren. Es ist aber unbestritten, dass dieses System der Diagnosis Related Groups mit der Einführung des betriebswirtschaftlichen Kalküls die Privatisierung im Klinikbereich vorantreibt und einer Krise wie zur Zeit nicht gewachsen ist.
Trotz Schuldenbremse will man die 2020er Jahre „zu einem Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen machen“. Um privates Kapital zu ermuntern, erwägt man die Gründung von Investitionsgesellschaften. Ein weiterer Schritt zur Entdemokratisierung, wenn die Entscheidungshoheit über die Investitionen nicht mehr beim Parlament liegen wird.
Aufschlussreich ist der Leitsatz zur Außenpolitik: „Deutschland stellt sich seiner globalen Verantwortung. Das klingt nach einem Manifest. Die Rede von der „globalen Verantwortung“ ist recht vieldeutig. Ergänzend wird, wohl mit Blick auf die Einbindung in die „westliche Wertegemeinschaft“ angefügt: „Keine der großen Aufgaben unserer Zeit können wir als Land alleine bewältigen.“ Dazu zählt der „Systemwettbewerb mit autoritären Staaten und Diktaturen“, so die verschlüsselte Formulierung für den Kalten Krieg mit Russland und dem Rivalen China. Aber zugleich will man „internationales Handeln an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen ausrichten“. Vermutlich ein Zielkonflikt.
Positiv lässt sich an dem Sondierungspapier allenfalls das Bekenntnis zu einer konsequenten Integrationspolitik hervorheben. Unter anderem möchte man den „Spurwechsel“ vom Asylbewerberstatus zur Arbeitsmigration erleichtern. Der Blick auf den Arbeitsmarkt hat da sicher nachgeholfen.
Resümee: Adressaten des Positionspapiers und künftiger Politik sind die Mittelschichten, noch eingeschlossen die Schicht der Facharbeiter:innen. Die marginalisierten Bevölkerungsgruppen haben wenig zu erwarten. Die Erklärungen und Ankündigungen sind stark eurozentrisch. Der diese Politik tragende Fortschrittsglaube, der auf technische Errungenschaften setzt, wirkt angesichts der heutigen Bedrohungen für das Leben auf unserem Planeten wie das Pfeifen im Walde. Man will gar nicht wissen, dass die Politik im globalen Kapitalismus ständig an Grenzen stößt, nicht zuletzt aufgrund der neoliberalen Politik früherer Jahrzehnte, unter anderem durch die „Subpolitik“ von Unternehmen, zum Beispiel die Auslagerung von Produktion und Dienstleistungen. Kein Wort über den Kontrollverlust der Politik gegenüber den mächtigen Schattenbanken und Internet-Plattformen. Der von der künftigen Koalition angekündigte „Aufbruch“ wird ein Aufbruch zu einem kaum noch kontrollierbaren Kapitalismus. Wenn man der Bundesrepublik eine gewisse Leitbildfunktion zuerkennen will, dann lassen die Ankündigungen der zukünftigen Koalitionsregierung zusammen mit den enttäuschenden Ergebnissen des jüngsten G20-Gipfels und vor allem der Weltklimakonferenz global nichts Gutes erwarten, weder für Deutschland noch für die übrige Welt.