Eine Langfassung dieses Textes ist erschienen in: Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale (2021, Braches-Chyrek, Moran-Ellis, Röhner, Sünker)
Das Internet ist nicht nur ein neues Medium, wie es schon Radio und Fernsehen zu ihrer Zeit waren. Durch die interaktive Eigenschaft des Internets verändert es unser Zusammenleben in einer Form, wie dies keines der traditionellen Medien zuvor getan hat.
In diesem Artikel soll untersucht werden, inwiefern sich das Internet auf die Demokratie und die Demokratisierung auswirkt. Der Fokus soll dabei auf der zentralen Eigenschaft der Demokratie liegen: Alle Macht geht vom Volk aus. Ein funktionierender demokratischer Staat erfordert erstens, dass sich Bürger*innen zur eigenen Meinungsbildung unabhängig informieren können. Zweitens ist es notwendig, dass sich Bürger*innen frei äußern und austauschen können, um auch in der Gemeinschaft zu einer Meinungsbildung zu kommen. Drittens sollten Bürger*innen mit ihren bestenfalls fundierten Meinungen Einfluss auf den Staat nehmen können.
- Informierte Bürger*innen
Die Informiertheit der Bürger*innenschaft über gesellschaftliche und politische Begebenheiten und deren Hintergründe ist inhärent für eine funktionierende Demokratie1. Vor der Verbreitung des Internets war der Zugang zu Wissen beschränkt auf redigierte Inhalte, etwa Zeitungen, Bücher oder Radio, oder alternativ den persönlichen Austausch. Das Internet bietet dagegen als erstes Kommunikationsmedium eine Möglichkeit, dass Nutzer*innen nicht nur Konsumierende eines globalen Mediums sind, sondern gleichzeitig auch potenzielle Produzierende von Inhalten. Während nicht jeder oder jede Internetnutzer*in hochgradig gesellschaftlich relevante Informationen verbreitet, bietet das Medium auch den ungefilterten Zugang zu Expert*innen eines jeden Bereiches. In Podcasts, Blogs oder den sozialen Netzwerken verbreiten Wissenschaftler*innen, Whistleblower*innen und Aktivist*innen Einschätzungen und Informationen, ohne sich an die politischen oder formellen Regeln der traditionellen Medien halten zu müssen. Auch Informationen über staatliche Vorgänge und Daten von Behörden, etwa Protokolle oder Register, sind erstmals einer großen Nutzer*innengemeinde verfügbar. Einen wichtigen Beitrag hierbei leisten Informationsfreiheits-2 und Transparenzgesetze (https://transparenzranking.de).
Medienkompetenz, etwa ob eine Quelle vertrauenswürdig und kompetent ist, war zwar schon bei traditionellen Medien eine wichtige Fertigkeit, wird jedoch in dem ungefilterten Medium Internet bedeutend relevanter. Dies wird im Internet durch diverse Entwicklungen erschwert.
Erstens sind hier Fake News zu nennen. Sogenannte Deep Fakes3 erlauben es gar, Videos und Stimmen so geschickt zu fälschen, dass diese nicht von Originalaufnahmen unterschieden werden können. Informierte Nutzer*innen können dennoch Fake News anhand der Quelle einschätzen, denn Fake News kommen häufig von den gleichen Verbreiter*innen4. Technisch gesehen wäre eine gute Eindämmung, dass die Plattformen automatisiert Fake News und Deep Fakes aufspüren und öffentlich als solche markieren oder sie löschen.
Zweitens sind Tracking und Microtargeting ein Angriff auf die Meinungsbildung. Via Tracking werden Internetnutzer*innen auf ihrem Weg durchs Internet überwacht und ein Profil über sie erstellt. Dies kann unter anderem für Microtargeting misbraucht werden. Hierbei werden kleine Gruppen oder sogar einzelne Nutzer*innen gezielt anhand ihrer Profil- oder Charaktermerkmale separiert und ihnen auf sie zugeschnittenen Inhalte angezeigt. Ein Beispiel hierfür war Facebooks Camebridge Analytica Skandal5. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten sich gegen Tracking im Internet zu wehren, beispielhaft sei hier die Browsererweiterung Disconnect (https://disconnect.me) genannt.
Drittens soll hier noch die Gefahr von Filterblasen genannt werden. Die sozialen Netzwerke begünstigen explizit eine Bildung von Gruppen von Nutzer*innen mit ähnlichen Meinungen. Unter anderem Fake News können sich in einzelnen Filterblasen ungehindert und unwidersprochen verbreiten. Besonders ausgeprägt kann man dies im rechtspopulistischen und rechtsextremen Umfeld beobachten6.
Viertens müssen technische Prozesse, Datenverarbeitung und Algorithmen transparent und auch für unversierte Nutzer*innen verständlich sein7.
- Meinungsäußerung und gesellschaftliche Meinungsbildung
Für einen gesellschaftlichen Diskurs über politische Themen gibt es zwei Voraussetzungen: Erstens, die Möglichkeit, mit bestimmten vereinbarten Grenzen, seine Meinung oder die Meinung einer Gruppierung zu äußern und zweitens, die Möglichkeit diese mit anderen zu diskutieren und sich dadurch eine kollektive Meinung bilden zu können. Beides erfolgte in der Vergangenheit über die traditionellen Medien als Vermittler und Torhüter dessen, was gesellschaftlich diskussionswürdig ist. Durch das Internet gibt es mit Websites, Blogs, Podcasts und sozialen Netzwerken ganze neue Formen von Meinungsaustausch ohne Mittelsperson.
Einen deutlichen Einfluss des Internets auf die Demokratiebewegung konnte man in der „Grünen Revolition im Iran bereits 2009 und in den Folgejahren beim „Arabischen Frühling“ beobachten. Obwohl die Staaten durchaus versuchten, auch im Internet Meinungen zu kontrollieren und zensieren, ist es gerade in sozialen Netzwerken ob der schieren Menge der Informationen in der Vergangenheit nicht umfassend gelungen. Zensurmechanismen auf Basis künstlicher Intelligenz könnten dies in Zukunft jedoch möglich machen. Eine einfach Gegenmaßnahme ist die in autokratischen Staaten recht verbreitete Nutzung von Anonymisierungsdiensten wie beispielsweise „Tor“ (https://torproject.org).
Neben Zensur ist auch Überwachung eine Gefahr, unter anderem weil sie Selbstzensur hervorruft. In den USA hat eine Studie8 herausgefunden, dass im Nachgang der Snowden Veröffentlichungen9 im Jahr 2013 Journalist*innen verstärkt zu Selbstzensur neigten, indem sie ihre Aktivität in den sozialen Netzwerken einschränkten oder ganz einstellten und bestimmte Themen nicht mehr per Telefon oder E-Mail besprachen.
Ein negativer Aspekt digitalen Fortschritts ist, dass eine massenhafte, auch anlasslose Überwachung der aller technisch möglich ist. Als Gegenmaßnahme sollte alle Kommunikation verschlüsselt sein, bevorzugt in Form von „Ende-zu-Ende“-Verschlüsselung, welche den gesamten Kommunikationsweg von Sender*innen zu Empfänger*innen schützt. Beispiele für Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kommunikation ist „Gnu Privacy Guard“ (GPG) für E-Mail (https://gnupg.org), der Messenger Signal (https://signal.org), das Kommunikationsnetzwerk Matrix (https://matrix.org) oder die Videochatplattform palava (https://palava.tv).
Komplizierter ist der Schutz der Metadaten. Dies umfasst unter anderem Standort- und Bewegungsdaten, Kontaktdaten und -zeiten. Sie erlauben Rückschlüsse auf intime Informationen, wie Religionszugehörigkeit, Geschäftskontakte, Freundschaften, Affären oder Krankheiten und sind zudem besonders einfach automatisiert auszuwerten. Auch beim Thema Metadaten schützen Anonymisierungsdienste. Der praktikablere Ansatz ist jedoch die Nutzung von Diensten, welche keine oder nur wenig Metadaten speichern. Eine weitreichende Liste mit datenschützenden Alternativen zu Facebook, Google und co. findet sich bei der „Digitalen Gesellschaft“10.
- Einflussmöglichkeiten auf den Staat
Obwohl es auch Modelle für Demokratien ohne Wahlen gibt11, sind Wahlen der de facto Standard für Einflussmöglichkeit aller Bürger*innen auf den Staat. Wahlen müssen in Demokratien anonym, aber nachvollziehbar sein. Abgesehen von vielen praktischen Problemen, zum Beispiel der Sicherheit und Integrität der Wahlcomputer, ist der heutige Stand der Wissenschaft, dass elektronische Wahlen, eVoting genannt, entweder anonym oder nachvollziehbar, aber nie beides sein können 12. Demnach ist es für traditionalle Wahlen nicht geeignet. Sie können jedoch in Situationen angewandt werden, in denen Anonymität keine Rolle spielt, beispielsweise bei nicht-anonymen Volks- oder Bürger*innenbegehren. Ein interessantes Konzept brachte die freie Software „Liquid Democracy“ (https://liqd.net) auf, die einen Probelauf in der Piratenpartei hatte. Hier wurden politische Weichenstellungen in der Partei mehrheitlich entschieden. Mitglieder*innen konnten ihre Stimme bei bestimmten Fragen an Expert*innen oder persönliche Vertraute je nach Gebiet deligieren. In der Piratenpartei ist das Experiment „Liquid Democracy“ jedoch frühzeitig an Datenschutzbedenken gescheitert.
Auch bei der direkten Kommunikation mit politischen Vertreter*innen werden durch digitale Kommunikationsmittel Hürden gesenkt. Plattformen wie „Frag den Staat“, bei der Bürger*innenanfragen und ihre Antworten für alle online verfügbar dokumentiert sind, stellen hier einen wichtigen Baustein dar.
- Zusammenfassung
Das Internet bietet vorrangig Chancen für die Demokratie. Es verbessert die grundsätzliche Voraussetzung für informierte Bürger*innen und für die Meinungsbildung. Die Verfügbarkeit von Wissen und Informationen ist höher, auch durch den direkten Kommunikationsweg zu Expert*innen oder Entscheidungsträger*innen. Auch bietet es neue Möglichkeiten der Organisation und Einflussnahme auf den Staat. Den Gefahren in Bezug auf Demokratie (Zensur, Überwachung, Fake News, Microtargeting etc.) kann dagegen, mithilfe von gesellschaftlichem Engagement, technischen Lösungen oder gesetzlichen Regelungen, begegnet werden. Wenn ein Staat digital transparent ist, Whistleblower*innen wirksam schützt, die negativen Auswirkungen sozialer Netzwerke durch Regulierung verringert, sowie freie, sichere und Privatsphäre schützende Software, Algorithmen und Dienste fördert, dann können die weitreichenden Chancen des Internets auch umfassend genutzt werden.
- Bimber, B. (1998): The Internet and political transformation: Populism, community, and accelerated pluralism, in: Polity, Heft 1, Jg. 31, S. 133–160 ↩
- Jastrow, S.-D./Schlatmann, A. (2006): Informationsfreiheitsgesetz: Kommentar, Heidelberg: R. v. Decker ↩
- Floridi, L. (2018): Artificial intelligence, deepfakes and a future of ectypes, in: Philosophy & Technology, Heft 3, Jg. 31, S. 317–321 ↩
- Grinberg, N./Joseph, K./Friedland, L. et al. (2019): Fake news on Twitter during the 2016 US presidential election, in: Science, Heft 6425, Jg. 363, S. 374–378 ↩
- Cadwalladr, C./Graham-Harrison, E. (2018): Revealed: 50 million Facebook profiles harvested for Cambridge Analytica in major data breach, in: The guardian, Jg. 17, S. 22 ↩
- Daniels, J. (2018): The algorithmic rise of the “alt-right”, in: Contexts, Heft 1, Jg. 17, S. 60–65 ↩
- Berry, D. M. Erklärbarkeit und demokratisches Denken: Eine Annäherung an eine informationelle Öffentlichkeit, in Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale, R. Braches-Chyrek/J. Moran-Ellis/C. Röhner/und H. Sünker, Hrsg. Verlag Barbara Budrich, 2021, S. 93–110 ↩
- Peter Godwin, S. N. et al. (2013): Chilling Effects – NSA Surveillance Drives U.S. Writers to Self-Censor, in: PEN American Center, 12.11.2013, https://pen.org/sites/default/files/2014-08-01_Full%20Report_Chilling%20Effects%20w%20Color%20cover-UPDATED.pdf, [Zugriff: 11.04.2020) ↩
- Greenwald, G. (2013): The NSA Files, in: The Guardian, 01.11.2013, https://www.theguardian.com/us-news/the-nsa-files, [Zugriff: 11.04.2020) ↩
- Jan Jiràt, C. L., Donat Kaufmann et al. (2019): Eine kurze Anleitung zur digitalen Selbstverteidigung, in: Digitale Gesellschaft, 05.12.2019, https://www.digitale-gesellschaft.ch/ratgeber/, [Zugriff: 11.04.2020) ↩
- Van Reybrouck, David/Waters, Liz (2016): Against elections : the case for democracy / David Van Reybrouck ; translated by Liz Waters, London: The Bodley Head ↩
- Tarasov, P./Tewari, H. (2017): THE FUTURE OF E-VOTING., in: IADIS International Journal on Computer Science & Information Systems, Heft 2, Jg. 12 ↩