1348 raffte die Pest, die der Levantehandel nach Italien gebracht hatte, vier Fünftel der Bevölkerung von Florenz hinweg. Gut betuchte Bürger*innen aus der Handels- und Finanzwelt setzten sich auf ihre Landgüter ab, um dem Grauen zu entfliehen. Das regte Giovanni Boccaccio zu seiner Novellensammlung „Il Decamerone“ an.[1] In seiner Rahmenerzählung beschönigt er nicht die Lage der kleinen Leute. Viele wurden erwerbslos, fast alle waren mangels Pflege der Seuche ausgeliefert. Die Pest von 1664 in London kostete vier Fünftel der Londoner*innen das Leben. Auch Daniel Defoe, der Chronist dieser Epidemie, berichtet, dass die Adligen und wohlhabenderen Kreise ungeachtet der behördlich verfügten Straßensperren aus der City flohen. Zeitweise „nahm die Flucht aus der Stadt solche Formen an, dass ich zu glauben begann, es werde bald wirklich außer Behörden und Dienern niemand mehr in der City übrigbleiben.“ [2] Die City, das bürgerliche Zentrum, war ohnehin lange von der Pest verschont geblieben. Zuerst erfasste sie die bevölkerungsreichen, dicht besiedelten Außenbezirke mit kleinen Handwerksbetrieben und Armenquartieren. Dort war man der Seuche auf engem Raum viel mehr ausgeliefert als in den Häusern der City. Zur tödlichen Bedrohung kam für die kleinen Leute die große Not durch Erwerbslosigkeit. Bedienstete, Kleinhändler, Handwerker, Fuhrleute und Schiffer hatten keine Einkünfte mehr. Als die Cholera 1892 in Hamburg beinahe 9.000 Tote forderte, waren das wieder vor allem die Bewohner der unhygienischen Armenviertel, während „die Geldprotzen aus der Stadt fliehen“ konnten, so der Sozialdemokrat Franz Mehring in seinem damaligen Kommentar.
Dass die sozial Privilegierten jeweils das Weite suchen konnten, um der Infektionsgefahr zu entgehen, war nur eines ihrer Privilegien. In allen bisherigen Gesellschaften waren die Vermögenden in Krisen, gleich ob Seuchen oder Kriege, begünstigt. Im Kapitalismus sind sie aber in unvergleichlich höherem Maß im Vorteil. Denn Vermögen, das als Kapital angelegt ist, verwertet sich meist ungeachtet der Krise weiter, findet darin teilweise sogar besonders günstige Verwertungsbedingungen, weil z.B. die Nachfrage nach Arzneimitteln steigt.[3] Die Kluft zwischen Arm und Reich tut sich so noch weiter auf.
Aber zugleich kommt dem bürgerlichen Staat als regulierender Instanz die Aufgabe zu, mit dem Versprechen der Daseinsvorsorge für alle den Klassenkonflikt zu entschärfen. Der Kommentar von Franz Mehring zur Cholera-Epidemie in Hamburg ist insofern aufschlussreich. Er stimmt in die Kritik ein, der der Hamburger Senat ausgesetzt war, weil man über Jahre die Trinkwasserversorgung nicht modernisiert und unhygienische Wohnverhältnisse hingenommen hatte. Der Umgang mit Seuchen war zum Lackmustest für die soziale Ordnung geworden. Seuchen machen mehr denn je die Klassenverhältnisse sichtbar. So hat die Covid-19-Pandemie die Ungleichheit in den von vielen Rissen durchzogenen heutigen Gesellschaften und zwischen ihnen verdeutlicht.
Befördert durch die Systemkonkurrenz in der Zeit des Kalten Krieges und begünstigt vom fordistischen Akkumulationsregime, hatte das System der Daseinsvorsorge mit öffentlichen Sozial- und Gesundheitsdiensten, guter kommunaler Infrastruktur und einem großen Bestand an Sozialwohnungen in Westeuropa hohe Standards erreicht. Die neoliberale Agenda beendete diese Periode. Die Steuerpolitik zugunsten von Unternehmen und Vermögenden, verbunden mit Sparhaushalten und Schuldenbremse erzwang die Armut der öffentlichen Hand, was zur Privatisierung öffentlicher Dienste und zum Verkauf von Krankenhäusern und Sozialwohnungen verleitete.[4] Der Ausbau der Bildungssysteme wurde fortgesetzt, aber quasi kostenneutral und ohne die nötigen Strukturreformen.
Das durch das Spardiktat geschwächte Gesundheitssystem mit den teilweise privatisierten und auf Wettbewerb getrimmten Kliniken ließ eine schnelle Überlastung befürchten, was, um die Infektionsgefahr einzudämmen, starke Einschränkungen von Grundrechten erzwang. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit, oft verbunden mit Kurzarbeit, wenn nicht Arbeitslosigkeit, hat in vernachlässigten Wohnvierteln und armen Haushalten schädliche Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit. Besonders Kinder und Jugendliche zeigen Schädigungen und Lernrückstände, wie erste Studien zeigen.
Die Armut hat, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zugenommen. Auch Teile der ohnehin schon seit längerem erodierenden Mittelschicht[5] sind betroffen, weil Geschäfte und Gaststätten die monatelange Schließung finanziell nicht verkraften werden. Die einkommensschwachen Schichten sind unterschiedlich stark beeinträchtigt. Besonders beklagt wird die Lage von Einwanderer-Communities, jedenfalls in Großbritannien (der Freitag v. 11.3.21). Prekär Beschäftigte in Zeit- und Leiharbeit oder mit Minijobs müssen große Einkommensverluste hinnehmen, wenn sie nicht gar arbeitslos sind. Aber auch wer auf Kurzarbeit gesetzt ist, gerät zumindest im Niedriglohnbereich rasch an die Armutsgrenze, weil das Kurzarbeitergeld unzureichend ist. Generell müssen Beschäftigte in Kurzarbeit, im vergangenen Jahr 14,4 Millionen, bis zu 40 Prozent Lohneinbußen verkraften. Mehr als eine halbe Million Beschäftigte sind außerdem infolge der Pandemie erwerbslos geworden (BAA nach jW v. 30.3.21). Allein in der Metall- und Elektroindustrie sind 120.000 Arbeitsplätze abgebaut worden (jW v. 19.4.21). Bezieher*innen von Arbeitslosengeld I und II haben nach einer Studie ein höheres Infektionsrisiko mit einem schwierigeren Krankheitsverlauf.[6]
Auch die meisten Beschäftigten sind gesundheitlich gefährdet, weil die Regierung die Unternehmen nicht zu Infektionsschutzmaßnahmen verpflichten wollte, die Umsatz und Gewinn beeinträchtigen könnten. Selbst Corona-Tests stießen von Seiten der Unternehmerverbände auf Widerstand. Schlagzeilen machte die massenhafte Erkrankung von osteuropäischen Vertragsarbeitern in Schlachthöfen, zu der auch ihre Unterbringung beitrug. Generell tragen die Unterkünfte von Saisonarbeiter*innen auch in der Landwirtschaft nicht der Seuchengefahr Rechnung. Für alle kleinen Leute besteht ein erhöhtes Infektionsrisiko in beengten Wohnverhältnissen, speziell in Wohnblocks mit vielen Mietparteien. In Quartieren mit besonderem Erneuerungsbedarf wurden überdurchschnittlich hohe Inzidenzwerte festgestellt.
Derweil haben die 500 reichsten Milliardär*innen der Welt schon in den ersten Monaten der Pandemie ihr Vermögen um 15 Prozent, die 100 reichsten Deutschen sogar um 20 Prozent steigern können, so eine Schätzung der Großbank UBS (jW v. 27./28.3.21). Die Aktienkurse sind in einigen Branchen rasant gestiegen. Neben der Autoindustrie sind die großen Discounter, die Pharmaindustrie und die Logistikbranche zu nennen. Extraprofite können aufgrund des Lockdowns die Internetkonzerne und speziell der Online-Versandhandel verbuchen. Neben dem staatlichen Kurzarbeitergeld haben milliardenschwere Hilfspakete die Unternehmen gestützt. In der globalisierten Ökonomie bleiben exportorientierte Branchen wie die Autoindustrie von internen wirtschaftlichen Einbrüchen völlig unberührt. Nur Lücken in den globalen Lieferketten können die Produktion bremsen.
Die Konzerne stornieren ihrerseits Lieferverträge von einem Tag auf den anderen, wenn z.B. in der Textilbranche die Nachfrage nachlässt, was Tausende in Ländern wie Bangladesch oder Kambodscha erwerbslos macht. Viele landen in der Schuldenfalle (FIAN im Febr. 2021). Die Ungleichheit zwischen dem globalen Norden und Süden hat während der Pandemie dramatisch zugenommen. Die hohe Inzidenz, bedingt durch die Lebensverhältnisse in Mega-Cities und auf dem medizinisch unversorgten Land, aber auch verschuldet durch den Mangel an Impfstoffen, die die reichen Staaten für sich reserviert haben, verursacht wirtschaftliche Stagnation. Konjunkturpakete wie in der EU und den USA können sich die hoch verschuldeten Länder nicht leisten. Die informellen Arbeitsverhältnisse bieten den Arbeitenden keinerlei Sicherheit. Die in die Industrieregionen migrierten Arbeiter*innen hausen meist in provisorischen Unterkünften. Wenn Betriebe aufgrund der Pandemie dicht machen, strömen die Erwerbslosen massenweise in ihre Dörfer zurück, wo sie unter Umständen die Seuche verbreiten, die sie sich spätestens unterwegs geholt haben können.
[1] Giovanni Boccaccio (1349; 1952): Das Dekameron. München.
[2] Daniel Defoe (1722; 1996): Die Pest zu London. Ffm./Berlin,S.24
[3] Es geht nicht um betrügerische Krisengewinnler, eher eine Randerscheinung.
[4] Dazu Georg Auernheimer (2021): Wie gesellschaftliche Güter zu privatem Reichtum werden. Köln.
[5] Christoph Butterwegge (2020): Ungleichheit in der Klassengesellschaft. Köln, S.102f.
[6] Ebd., S.138