Vor einem halben Jahrhundert veröffentlichte Herbert Marcuse sein Buch „Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“. Das Buch war umstritten, abgelehnt von den Verteidigern eines Kapitalismus, der damals noch wohlfahrtsstaatlich gezähmt war, dass manche abwertend vom sorgenden Staat sprachen. Die Systemkonkurrenz legte Vorsicht nahe, den nach Nazidiktatur und Weltkrieg entstandenen Klassenkompromiss auszuhebeln. Zumal sich die Umstellung vom Produktions- zum Konsumkapitalismus abzeichnete, deren Effekte noch nicht abzusehen waren. Aber auch Vertreter der Linken zeigten sich skeptisch gegenüber der Theorie vom „eindimensionalen Menschen“, wegen des vorgeblich anthropologischen Beiklangs, dann geplagt vom Verdacht einer Revision marxistischer Denkfiguren. Zudem zeichneten utopische Züge Marcuses Buch aus, pessimistische einerseits, weil er die Gefahr einer formierenden, inneren Kontrolle in den modernen Gesellschaften sah; mit Hinweisen auf die Überwindung der Disziplinargesellschaft durch Techniken, die auf Selbststeuerung durch gleichermaßen freigesetzte wie instrumentalisierte Subjekte zielten. Andererseits schloss der Befund vom eindimensionalen Menschen eine optimistische Perspektive ein, wie Marcuse nicht müde wurde zu betonen. Der übergroße Reichtum moderner Gesellschaften, der ihnen inhärente Zwang, Freude zu ermöglichen und Menschen zum (Konsum-)Leben zu ermutigen, führte zum inneren Aufbegehren gegen Zwänge, gegen Entfremdung und Verdinglichung. Der Kapitalismus erzeugt Widerstand gegen sich selbst, weil er – psychoanalytisch gesprochen – das Lustprinzip nicht mehr unterdrückt, damit aber eine Dynamik entfesselt, die sich kaum mit traditionellem Pflichtbewusstsein verbinden lässt. Marcuse ahnte einen Wertewandel. So sehr er auf die damals protestierende Jugend setzte, so fürchtete er zugleich doch, dass die Vermarktungsindustrie sich der Herausforderung bemächtigen könnte, Mensch zu sein.
Warum eine so lange Erinnerung an ein Buch, das viele wohl nicht mehr als lesenswert bezeichnen würden? Who wants yesterday’s papers, haben mal die Rolling Stones ironisch überlegt, wobei der zweite Teil ihrer Frage – zurecht – als inkorrekt verworfen wird. Die Antwort lautet gleichwohl klar: Nobody in the world. Das führt zum Thema: vergessen scheint die maßgebende Tendenz in der aktuellen Corona-Pandemie zu sein, allzumal in ihrer politischen und öffentlichen Bewertung. Bloß nicht nach rückwärts schauen, sondern stets nach vorne, in einer Mischung aus Versprechen und der Einsicht, dass man nur auf Sicht fahren könne. Dem könnte man vielleicht sogar etwas abgewinnen, ginge dieser Blick nach vorne damit einher, dass einigermaßen pragmatisch und gelegentlich mit einem gewissen Risiko gehandelt werden würde, dass zugleich etwas genutzt würde, was als kollektiver Verstand gelten darf, neudeutsch als critical mass. Fatalerweise steht der aber gar nicht so zur Verfügung, weil er – vorsichtig gesagt – in den letzten drei Jahrzehnten sorgfältig ausgerottet worden ist; einschließlich der Fähigkeit, sich zu erinnern – und selbst nur die jüngere Vergangenheit, die mit dem Begriff des Neoliberalismus bezeichnet wird, manchmal etwas klarer: als marktradikaler Kapitalismus.
Damit sind wir aber, vielleicht etwas überraschend, erneut bei Marcuses Buch gelandet. Denn, so die erste These: Erinnerung an die Vergangenheit würde verstehen lassen, dass und wie die aktuelle Pandemie eng mit dem Neoliberalismus verbunden ist. Dass ein Kampf gegen sie einerseits so schwer fällt, weil wenigstens die deutsche Gesellschaft so tiefgreifend, strukturell, institutionell, organisatorisch wie mental zur Neoliberalität umgebaut worden ist. Es bedürfte einer Revolution um klug aus der Malaise zu kommen. Die zweite These nimmt Marcuses Befund von der Eindimensionalität auf. Diese Eindimensionalität gilt nämlich für das Denken und Handeln. Dabei liegt das Paradox darin, dass Eindimensionalität keineswegs Homogenität bezeichnet. Diese Gesellschaft ist eben nicht liberal, auch nicht neoliberal, sondern auf eine schwer zu verstehende Weise zugleich hochgradig autoritär strukturiert, von starken Mustern der Kontrolle durchzogen, die als die andere Seite des Marktradikalismus bezeichnet werden kann. Sie ist in weiten Bereichen von Macht und Herrschaftsformen bestimmt, die bis in das Innenleben von Menschen reichen, die als vorgeblich freie, selbstbestimmte Subjekte fingiert werden – aber in Wirklichkeit weit davon entfernt sind. In aller Marktförmigkeit sind sie abhängig, dazu trainiert, sich zu unterwerfen: Statt den eigenen Kopf zu benutzen, folgen sie entweder blind den Parolen von Pandemie-Leugnern oder jenen, die meinen, die Vernunft gepachtet zu haben, weil sie die Pandemie-Leugnern als mehr oder weniger dämlich bezeichnen. Symptomatisch für die Lage wird, wie die sogenannten Querdenker einen Begriff nicht nur usurpieren konnten, der eine wichtige Vernunftaktivität bezeichnet; fast noch schlimmer scheint, dass im Zusammenspiel von Politik und Medien, das Querdenken den Usurpatoren des Begriffs überlassen wurde, während die anderen nur noch mit offenem Mund dastehen und sich gehorsam überstülpen lassen, was in eindimensionaler Denkweise ihnen überlassen wird.
Zugegeben: das alles klingt ein wenig verdreht und verschafft einem zumindest Kopfschmerzen. Sie kommen zu all den Depressionen hinzu, die man eh schon entwickelt. Manchmal fragt man sich, ob es nicht vernünftiger wäre, wenn schon nicht massenweise Joints zu verschenken, dann doch Aufputschmittel und Antidepressiva unters Volk zu bringen, statt noch länger auf Impfstoff zu warten.
- Das erste Problem: Natur. Die Pandemie legt gnadenlos frei, was den Kapitalismus fundamental auszeichnet, so stark übrigens, dass weder seine marxistischen Kritiker, schon gar nicht die Real-Kommunisten, sich davon frei machen konnten: Natur wurde nicht als eine mit Sorgfalt zu schonende Existenzgrundlage begriffen, sondern schlicht als Ausbeutungsgegenstand. Natur wurde zerstört, blind benutzt, um Profit zu erwirtschaften; wer sich dem entgegenstellte, galt als Idiot. Selbst die Grünen tun sich dieses Etikett nicht mehr an und setzen auf Versöhnung von Wirtschaft und Natur; sie begreifen dabei nicht die grundsätzlich kapitalistische Organisationsform der aktuellen Ökonomie. Natur wird außerhalb der menschlichen Lebenspraxis verortet. Nun, in der Pandemie greift die Natur in menschliches Leben brutal und radikal ein. Deshalb geht es darum, mit diesem Geschehen klug und besonnen, menschlich umzugehen, wissend, dass wir der Natur eben nicht entkommen, wie das über Jahre gepredigt worden ist.
Freilich kann man sagen, dass Politik und Medien angesichts der Pandemie endlich begriffen haben, wie man naturwissenschaftliche Kenntnisse und solche der mathematisch aufbereiteten Statistik aufnehmen und nutzen muss. Virologinnen, Epidemiologinnen, Statistikerinnen und Mathematikerinnen haben das Sagen, erinnern daran, dass wir in einer physikalisch geordneten Welt als Grundlage unseres Daseins leben. Wieder begegnet: Eindimensionalität. Sie gehte noch so weit, dass die Erfassung von Daten eng geführt und noch enger durch die Medien kommuniziert wird. Wie eine Schlange sich auf ihr Opfer fixiert, werden die Inzidenzwerte der Ansteckung gesehen, schon diejenigen fallen aus der Beobachtung, die die Krankheit überstanden haben. Weitere Informationen, etwa die Zahl der Tests, bleiben unberücksichtigt. Man könnte meinen, mit einer Lust an der Katastrophe oder an mittelalterliche Strafpraktiken erinnert zu werden. Die Bevölkerung wird von der Kanzel gescholten, die Grundlage der dabei verkündeten Offenbarungen bieten das Auf und Ab der Fallzahlen, dem dann ein Zu und Auf als Geißelung der Bösen und der Häretiker folgen; wenn sie denn nicht in den Tod getrieben werden, wie die Angehörigen der Risikogruppen, die eingeschlossen nun vor sich vegetieren, weil ihnen die letzten Monate des Lebens genommen werden.
- Das zweite Problem: Die vorgeblich erfolgreichen Ökonomien – um Gesellschaften geht es schon lange nicht mehr – zeichnen sich durch eine massive Vernachlässigung aller Infrastrukturen aus. Nach dem Motto: wir leben globalisiert, da kann man sich um die Rahmenbedingungen im eigenen Land nicht kümmern, zumindest jenseits der für die Wirtschaft förderlichen. Dass Menschen für ihr Leben Rahmenbedingungen brauchen, beschäftigt nicht – zumal damit gerechnet wird, dass Migration, Vertreibung und Flucht für beides sorgen, für Nachwuchskräfte und die – wie Zygmunt Bauman sie genannt hat – wasted lives. Selbstverständlich werben die jeweiligen Gebietskörperschaften, Staaten ebenso wie Kommunen mit Hochglanzprospekten dafür, als attraktive Investitionsobjekte zu gelten; die OECD rät dazu, vergleicht etwa bei PISA die Kompetenzen der Menschen, um Unternehmen zu informieren, ob sich die Ansiedlung lohnt. Weil sie brauchbares Menschenmaterial vorfinden. Deutschland erweist sich als Weltmeister in einer solchen Kultur der Prospekte – früher sprach man von Potemkinschen Dörfern. Hinter der Fassade: nichts als Leere. Sie beginnt bei der absichtsvoll unterbliebenen staatlichen Sicherung von digitaler Kommunikation, geht über die Verkehrsinfrastrukturen – etwa der Stilllegung von Bahngleisen -, nicht endend bei den Krankenhäusern.
Während man tolle Versprechen abgibt, von Task Forces schwadroniert (denen dann mehrere Wochen zum Nachdenken eingeräumt werden) wurde alles dem Markt überlassen. Selbst Wasser und Abwasser werden verkauft, von kommunal errichteten Wohnungen ganz abgesehen, wie das in Dresden geschehen ist. Die bittere Pointe besteht nun darin, dass selbst England mit seinem heruntergewirtschafteten National Health Service besser dasteht – einem Überbleibsel aus Zeiten ordentlicher sozialistischer Tradition. Das sollte zu denken geben. Offensichtlich taugen für kollektive Aufgaben sogar Ruinen mehr als ein privatisiertes Gesundheitssystem, das eben kein System mehr ist. In England werden Impfungen geschickter und erfolgreicher durchführt als in Deutschland, das Jahr für Jahr Krankhäuser schließt – oder in Großkliniken überführt, wie das gerade – beispielsweise – in Ostfriesland für eine ganze Region durchgeführt wird. Ohne dass nur ernsthaft darüber nachgedacht wird, wie diese Klinik von einer älter werdenden Bevölkerung überhaupt erreicht werden kann. Man setzt wohl systematisch auf den Gerontozid. Bei allem Geschwätz darüber, dass man doch die Gefährdeten retten will. Wieder bleibt die Eindimensionalität festzuhalten: Physis und Psyche hängen miteinander zusammen, sind eng vermittelt mit sozialer Begegnung, mit Sprache, die doch das wesentlich Menschentypische darstellt.
So herrscht in diesem Land ein irrer Glaube an ökonomische Prinzipien, über die jeder ordentliche Unternehmer lacht; vermutlich sind die Büttenreden beim rheinischen Karneval von mehr Verstand geleitet, als er nun in Politik und Verwaltung begegnet. Vor allem herrscht eine katastrophale Blindheit gegenüber dem, was in der Vergangenheit an Fehlern begangen wurde, während man zugleich die Zukunft selten in ihren Möglichkeiten in den Blick nimmt: Ulrich Beck hat einmal der Soziologie die Aufgabe zugedacht, den worst case anzunehmen. Die Politik dieses Landes erweist sich in dieser Hinsicht als beratungsresistent, um nun die Last der Verantwortung auf die Einzelnen zu werfen; nur sind denen die Mittel genommen wurden, um Krisen überhaupt wahrzunehmen. Warnungen, wie übrigens die des RKI vor Pandemien hat man selbst als Bundestagsdrucksache nicht gelesen, vorbereitende Maßnahmen wurden eingeschränkt. Sirenen wurden abgebaut, statt dessen Warn-Apps empfohlen. Die verlangen die private Anschaffung eines smart Phones, taugen im Notfall nichts. Wer sie kennt, ahnte schnell, was die Corona App leisten wird: Nichts. Vom fehlenden Netzausbau abgesehen. Katastrophenschutz wurde schon lange abgeschrieben, die THW-Einheiten bauten sich die Unterstände für ihre Fahrzeuge, die sie selbst zusammengeschweißt hatten. Ebenso die Feuerwehren. Zwar hat man für die Bundesländer einige Dutzend Fahrzeuge gekauft. Die aber werden längst im Regeldienst eingesetzt, weil hier das Material fehlt.
Alles auf Kante genäht. Freilich in der Größe von Laken für Kinderbetten. Kluge, differenzierte Maßnahmen des Gesundheitsschutzes etwa von Unternehmen der Gastronomie wurden politisch und von der Verwaltung nicht akzeptiert. Warum? Weil über Jahrzehnte Gesundheitsämter und Gewerbeaufsicht so kaputtgespart wurden, dass schon längst eine Kontrolle der Betriebe nicht möglich war; sämtliche Skandale der Lebensmittelproduktion hätten vermieden werden können, wenn die Überwachung so erfolgt wäre, wie der Gesetzgeber das vorschreibt: Unangemeldet, regelmäßig, nachdrücklich. Das Dilemma: Das geschehen wurde allzumal von vorgeblich kritischen Medien befördert, die ein enges Bündnis mit Politik und Teilen der Wissenschaft eingegangen sind. Nüchtern betrachtet sind dabei weite Teile der Bevölkerung weggeblendet worden, zuletzt immer häufiger, indem man sie auf die sozialen Netzwerke als Kommunikationsmedien verwiesen hat. Was nicht wirklich hilfreich ist, um einer Natur-, Sozial- und Kulturkatastrophe ernsthaft, nämlich in menschlicher Solidarität zu begegnen.
- Das dritte Kernproblem: Neoliberalismus und Individualisierung. Eine solidarische Kooperation wäre auch kaum mehr möglich. Politik, Medien und Wissenschaft vernebeln schlicht, in welchem Ausmaß Deutschland neoliberal umgebaut wurde. Mehr als drei Jahrzehnte lang, mithin für zwei Generationen schon. Das geht viel tiefer, als sich auf der Ebene der Daten zeigt: Wilkinson und Pickett urteilten – allerdings schon 2010 –, dass Deutschland mit Österreich und den skandinavischen Ländern eher ausgeglichene Lebensverhältnisse bietet; sie sprachen vom spirit level. In Wirklichkeit bemerkten sie die strukturellen Veränderungen nicht, weil nämlich der Verlust an Infrastrukturen durch das Engagement, den Fleiß und die Geduld aller Menschen ausgeglichen wurde – durch Überstunden und ehrenamtliche Tätigkeit. Dabei hatte sich die Ausgeglichenheit schon schleichend verändert, der Abgrund war längst erreicht, im Osten deutlich sichtbar.
Unbemerkt blieb also, wie die faktischen wie die motivationalen Grundlagen erodiert sind; die Menschen sind längst müde. Und wie es sich in solchen Krisen stets zeigt: zu erschöpft, um noch zu randalieren. Wer sich in Betrieben umhört, weiß, wie die Zahl derjenigen ständig steigt, die in die innere Emigration gegangen sind, zumal der Ausgleich fehlt, den andere Länder angeboten haben, nämlich höhere Einkommen. Im Gegenteil: diese sind gesunken, zugleich haben Medien und Politik beschworen, wie wichtig eine Austeritätspolitik sei: Schaut nach Griechenland oder Italien, da seht ihr doch, was passiert, wenn der Staat zuviel für sein Personal ausgibt, wenn die Leute zu gut verdienen! Der Wahrheitsbeweis fehlt übrigens.
Vor allem: dieser Staat hat als seine neue, ohnedies verfehlte Sozialpolitik versprochen, als enabling state wirken zu wollen. Weit gefehlt. Weder hat er ermöglicht, noch befähigt, sondern nur noch verhindert, begleitet von tosender Programmatik. Und jetzt: jetzt erklärt sein Kanzleramtsminister, dass der Staat doch nicht für alles zuständig wäre. Nein, ist er nicht, nur sollte er wenigstens das leisten, was er selbst in seinen Residualfunktionen tun muss, eben für Katastrophenschutz, Kommunikationsnetze bauen und nutzen, Krankenhäuser bereithalten, in welchen Pflegekräfte Zeit haben, sich um Patientinnen sorgfältig zu kümmern.
Das Paradox: Nötig wäre Solidarität. In der Pandemie aber wird nun beides vorangetrieben: Die Individualisierung, als Singularisierung von den Gewinnern längst zur eigenen Sache gemacht und aktiv betrieben, gilt nun endgültig als Norm. Man möge soziale Verantwortung beweisen, indem man social distancing betreibt. Das verstößt gegen jegliche Einsicht von der menschlich existenziellen Angewiesenheit auf den anderen. Und ist pragmatisch unmöglich, wenn ich Kinder habe oder eine alte Angehörige zu Hause pflege. Nur nebenbei: nun rächt sich der Irrglaube, dass man auf Familien verzichten und alle Sorgearbeit marktvermittelt den Institutionen und dem vorgeblich professionellen Personal dort überlassen kann. Schon quantitativ funktioniert das nur in Pressemitteilungen, über die Qualität der Leistung braucht man gar nicht zu sprechen. Es reicht halt nicht, billige Arbeitskräfte zu importieren, wenn diese nicht in einem Sprachkurs lernen dürfen, wie sich der niederbayerische Dialekt anhört.
Individualisierung als politische Strategie funktioniert nicht; Menschen scharen sich halt um das Lagerfeuer und singen Lieder. So muss man zugleich eine strikte Herrschaftspolitik betreiben, die mit der Verbreitung von Ängsten operiert, die dann die Einzelnen überwacht. Zu ihrer Disziplinierung folgt man dem altbewährten Verfahren, ganze Gruppen auszugrenzen; die neue Variante besteht darin, sie als Risikogruppen zu bezeichnen. Wunderbar unentschieden, weil unklar bleibt, ob Menschen sich in einer ihnen zugemuteten riskanten Lebenslage befinden oder andere gefährden. Damit treibt man Menschen in seelische Katastrophen. Im Ergebnis dulden diese, dass die Republik in einem Ausnahmezustand lebt, der nicht einmal den Regelungen der Notstandsgesetze entspricht.
Zum Zynismus wird das Geschehen, weil man im Zuge des Neoliberalismus und der von der SPD und den Grünen vorangetriebenen Un-Sozialpolitik, die mit dem Namen des Kriminellen Hartz verbunden ist, den Menschen eingeredet hat, sie müssten jede Arbeit annehmen- Selbst wenn sie Menschen zu versorgen haben. Das dient als Zulieferdienst für die Alten- und Pflegeheime, die heute als sichere Geldanlagen angedient werden. Vorgeblich entlastet von dem fürsorglichen Miteinander sollen die Menschen Unternehmer ihrer selbst und Ich-AG werden. Unbestritten: dies hat tatsächlich dazu geführt, dass kleine, meist Eine-Frau-Betriebe entstanden, die in der Summe Lebensqualität steigern konnten. Nur: In der Pandemie wurden diese Unternehmen dicht gemacht, übrigens ohne Berücksichtigung des Umstands, dass sie selten mehr als eine Kundin bedienten. Mehr als das: wer nun gezwungen ist, Betriebsinventar zu verkaufen, um seine Miete zu begleichen, dem wird die Sozialleistung gekürzt. Da wäre ja genug Geld auf dem Konto!
Ein Versprecher von Wieler, dem Leiter des RKI, enthüllt eine hässliche Dimension. Offensichtlich sind Menschen mit Migrationshintergrund besonders gefährdet. Die Debatte wurde abgewürgt, ohne den – ziemlich – wahrscheinlichen Realitätsgehalt der Aussage angemessen zu prüfen. Was könnte denn ein Grund dafür sein? Vielleicht hilft es sich zu vergegenwärtigen, wie lange es gedauert hat, bis Friedhöfe Bereiche erhielten, die der Sepulkralkultur von Moslems genügen. In einer fatalen Mischung von Desinteresse an Zuwanderern und Hypermoralisierung einer Kultur der Vielfalt hat man schlicht vergessen, sich darum zu kümmern, etwa sprachliche Integration sicherzustellen. Meinetwegen mit Pflichtveranstaltungen. Wie kann man Menschen erreichen? Selbst Fahrkartenautomaten bieten selten Informationen in den Sprachen von Zuwanderern an. Sprachkurse ermächtigen Menschen, ihre Rechte wahrzunehmen; das tut bitter Not in einer Gesellschaft, die nicht begriffen hat, in welchem Ausmaß sie ihre neoliberale Individualisierung auf Kosten einer breiten Schicht von – man verziehe mir den Ausdruck – Sklaven betreibt. Es muss endlich alles getan werden, dass Menschen Sprach- und Demokratiekurse erhalten, um in als Bürger in diesem Land leben zu können. Und nicht systematisch von Krankheit und Tod bedroht sind!
- Das vierte Kernproblem: Anders als die neoliberale Ideologie glauben macht, anders als die Verpflichtung zu Selbstverantwortung unterstellt, leidet dieses Land an einem geradezu unvorstellbaren Autoritätsgehorsam. Man hat schon bei breiten Teilen der Bevölkerung das Gefühl, es macht Lust, sich unterzuordnen, denen zu folgen, die mit ihren großen Sätzen die Richtung vorgeben – jeden Tag übrigens ein bisserl anders. Die braven Schafe folgen dem, sicher als verängstigte Lämmer, wie der Psychologe Rainer Mausfeld erklärt. Nur: Das Problem liegt auf einer anderen Ebene, nämlich in der geradezu irren Mischung zwischen Unfähigkeit und Gehorsam, die sich insbesondere in Ministerien und in der Leitung von Behörden breitgemacht hat – übrigens in Universitäten ebenso. Wo immer man hinsieht, strengen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchaus an, aber schon bei ihren Vorgesetzten hat sich ein Duckmäusertum breit gemacht, dass einem schier der Atem stockt. Auf der Ebene der großen Politik hat sich dies nun endgültig durchgesetzt, begleitet von Medienkampagnen, die alle Kritik den Querdenkern zuordnet. Damit ist es gelungen, das selbständige Denken, das Ringen um vernünftige und pragmatische Lösungen zu ersticken. Im Grunde wäre die Bereitschaft bei vielen da, ebenso der Geist und der notwendige Witz. Stattdessen beugt man sich geduldig bei den Auftritten der Ministerpräsidenten und einer Kanzlerin, die auf ihrer Abschiedstour sich auf das früher erworbene Wissen der Physik stützt; als Symptom kann man das Wort vom exponentialen Wachstum nehmen, das sie seit Wochen verkündet. Ein bisserl erinnert das an Demenz, bei der die Betroffenen die frühen Erinnerungen wiederholen.
Das könnte man ertragen, wäre es nicht begleitet von einer geradezu epidemischen Unterwerfung unter diejenigen, die dank der Medien etwas sagen. Bei gleichzeitiger Untätigkeit: Schulen könnten längst mit wirksamen Luftfiltern ausgestattet sein, die kostengünstig einzubauen wären. Nach einem Jahr Pandemie hat Bayern nun einen Haushaltsposten genehmigt, der das finanzieren soll. Selbstverständlich bedarf es eines ausführlichen Antrags der Schulleitungen. Als ob die nichts anderes zu tun haben, etwa wenn es darum geht, den wöchentlichen Änderungen in der Unterrichtsform organisatorisch zu folgen. Davon ganz abgesehen, dass ein täglicher Wechsel von Distanz- und Präsentunterricht das Infektionsrisiko geradezu unbegrenzt erhöht, von den Eltern ganz zu schweigen, die nicht mehr wissen, wie sie das familiäre Leben organisieren sollen. Faktum ist: Autoritätsglauben ruft offensichtlich Untätigkeit hervor; freilich mag man einwenden, dass in die politisch besetzten Spitzenpositionen ohnedies wohl schon die eher Unfähigen berufen wurden. Hauptsache das Parteibuch stimmt.
- Das fünfte Kernproblem: Ein strukturell, administrativ und institutionell verrottetes Bildungssystem wird nur noch von jenen aufrechterhalten, die für ihre Anstrengungen dann attackiert werden. Was Lehrerinnern und Lehrer zuletzt geleistet haben, meist in individueller Initiative und mit beträchtlichen Eigenmitteln, gegen absurde Erlasse, übersteigt alles, was nur denkbar war und ist. Sie haben das getan in einem längst kaputtgesparten, aber dauernd mit neuen Vorstellungen überfrachtetem System. Ein System, das äußerlich aufpoliert wurde, indem man sich den international vergleichenden Rankings unterwarf, um bessere Platzierungen zu bejubeln, in Untersuchungen, die methodisch gar keinen Längsvergleich zugelassen haben. Aber die von den vorgeblich seriösen Medien verbreiteten PR-Darstellungen etwa von OECD oder auch Bertelsmann haben das so zugerichtet, dass die Journalistinnen gar nicht gemerkt haben, welchen – Achtung: dieser Ausdruck ist als philosophischer durch Harry G. Frankfurt geadelt – Bullshit sie unters Volk bringen. Beginnend übrigens mit der Mär von der unbedingten Vergleichbarkeit, die wenig über die Lebensbefähigung von Menschen aussagt. Notabene: ich bin stets beeindruckt, was Schulen etwa in den naturwissenschaftlichen Fächern leisten.
Pervers an dem ganzen Geschehen war und ist dennoch, dass Ministerien, Politik, Öffentlichkeit und Fachwissenschaft geradezu systematisch dazu beigetragen haben, das aus den Schulen auszurotten, was sie jetzt noch von Schließung zu Schließung am Leben erhält: Engagement, die Bereitschaft neue Lehr- und Lernmethoden auszuprobieren, eine Breite von Bildung sicherzustellen und – wie sich das gehört – zu personalisieren, den Kindern zu eröffnen. Bildung im emphatischen Sinne zu ermöglichen. Politik und Medien haben vertrieben, was so wichtig wäre, als Lerninhalt für alle: Das Wissen um soziale und kulturelle Zusammenhänge, literarisch geschulte Phantasie, vor allem jedoch ein politisches Bewusstsein, das durch Aufklärung und Diskussion geschult, Gefahren für Grundrechte und die Bedeutung der Menschenrechte begreift. Heribert Prantl, früher Ressortleiter bei der Süddeutschen Zeitung, hat das eben in einem Buch beschrieben: Weniger die Querdenker sind das Problem, sondern eine Politik und eine Verwaltung, die schlicht ignorieren, dass die Würde des Menschen, dass Grundrechte eben nicht zur Disposition gestellt werden können und dürfen, selbst um der Gesundheit willen. Der Staat hat die Grundrechte zu wahren – wenn er sich denn ihrer überhaupt noch erinnert, angesichts der Eindimensionalität des Neoliberalismus.