Prof. Dr. Michael Klundt | Hochschule Magdeburg-Stendal
In einer Kurzinformation der Vereinten Nationen von Mitte April 2020 wurde bereits befürchtet, dass Kinder zwar nicht das „Gesicht“ der Corona“-Pandemie seien, aber womöglich zu deren größten Opfern zählten (United Nations 2020, S. 2f.). Weltweit wurden demnach in den Monaten Mitte März bis Mai 2020 über 1,5 Milliarden schulpflichtige Kinder und Jugendliche von Schulen und Bildungseinrichtungen ausgesperrt (vgl. ebd., S. 7). Damit verbunden hatten weltweit plötzlich im Frühjahr 2020 etwa 370 Millionen Kinder durch die Schließungen und Kontaktsperren auch keine Schulspeisungen mehr erhalten (vgl. UNICEF v. 29.4.2020). Zugleich sind lebensrettende Impfkampagnen gegen Masern und Kinderlähmung für 117 Millionen Kinder – unter anderem in Afghanistan und Pakistan – vorerst gestoppt worden (vgl. UNICEF v. 5.5.2020). Fast ein Drittel aller betroffenen Schulkinder (463 Millionen) haben darüber hinaus in der ganzen Lockdown-Zeit überhaupt keinen Ersatzunterricht erhalten (vgl. UNICEF v. 27.8.2020).
Wie UNICEF in seinem Report „Eine verlorene Covid 19-Generation verhindern“ am 19. November 2020 feststellte, stellen seit Beginn der Covid-Krise vor allem die Unterbrechung lebensnotwendiger Gesundheitsversorgung und sozialer Dienste die schwerste Bedrohung für Kinder dar. „UNICEF-Daten aus 140 Ländern zeigen: Rund ein Drittel der Länder verzeichneten einen Rückgang der Zahl der Kinder, die mit medizinischen Maßnahmen wie Routineimpfungen, ambulanter Behandlung von ansteckenden Infektionskrankheiten sowie durch Betreuungsangebote vor, während und nach der Geburt erreicht werden. Hauptgrund für den Rückgang ist Angst vor Ansteckung. In 135 Ländern werden 40 Prozent weniger Kinder und Frauen durch Ernährungshilfen und entsprechende Beratung erreicht. Ende Oktober erhielten immer noch 265 Millionen Mädchen und Jungen keine Schulspeisungen. Über 250 Millionen Kleinkinder unter fünf Jahren bekommen keine lebenswichtigen Vitamin-A-Tabletten. 65 Länder berichten von einem Rückgang von Hausbesuchen durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Vergleich zum Vorjahr.“ Weitere alarmierende Fakten werden vom UNICEF-Bericht hervorgehoben: „Im November 2020 sind 572 Millionen Mädchen und Jungen von landesweiten Schulschließungen betroffen – das sind 33 Prozent aller Schülerinnen und Schüler weltweit. Durch die Unterbrechung lebenswichtiger Dienstleistungen und zunehmender Mangelernährung könnten in den kommenden zwölf Monaten zwei Millionen Kinder zusätzlich sterben und die Zahl der Todgeburten um 200.000 zunehmen. In 2020 werden zusätzlich sechs bis sieben Millionen Kinder unter fünf Jahren an Auszehrung oder akuter Mangelernährung leiden, eine Zunahme um 14 Prozent. Vor allem in den Ländern Afrikas südlich der Sahara und in Südasien werden hierdurch jeden Monat 10.000 Kinder zusätzlich sterben. Weltweit sind bis Mitte des Jahres schätzungsweise 150 Millionen Kinder zusätzlich in mehrdimensionale Armut gerutscht – ohne Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Nahrung, sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen.“ (UNICEF 2020: Eine verlorene Covid-19 Generation verhindern, New York/Köln v. 19.11.2020)
Auch in der reichen Bundesrepublik Deutschland wurde für Millionen Kinder und Jugendliche im Rechtskreis des sog. Bildungs- und Teilhabepakets ab Mitte März und ab Mitte Dezember 2020 von heute auf morgen das kostenlose Mittagessen in Kitas, Schulen und Jugendclubs eingestellt. Auch hier waren hunderttausende von Schülerinnen und Schülern mangels digitaler Mittel (wie z.B. Zugang zu einem internetfähigen Computer in der Wohnung) vom sog. Homeschooling ausgeschlossen und so manche/r Lehrer/in klagte darüber, dass sie mit einigen Schulkindern keinerlei Kontakt herstellen konnten während des gesamten ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 (vgl. Klundt 2020, S. 9). Wie Anne Ratzki in der Zeitschrift „forum“ der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW Köln/Rhein-Berg-Kreis) schreibt, waren besonders Kinder aus armen Familien und Migrant*innen benachteiligt, „deren Eltern nicht helfen konnten, deren Wohnungen zu eng waren und denen Endgeräte fehlten. Bis zu 40% der Schüler*innen waren für Lehrkräfte über Wochen nicht erreichbar.“ (Anne Ratzki: Schule nach Corona, in: Zeitschrift forum der GEW Köln/Rhein-Berg-Kreis 1/2021, S. 16-17; hier: S. 16).
Dies wird noch untermauert durch einen Bericht von UNESCO, UNICEF und der Weltbank vom 29. Oktober 2020, wonach Schulkinder in Ländern mit geringem und niedrigem mittlerem Einkommen seit Beginn der Pandemie rund vier Monate Unterricht verpasst haben, während Schülerinnen und Schüler in reicheren Ländern immerhin noch sechs Wochen Unterricht verpasst haben (UNICEF.de v. 29.10.2020). Allerdings rechtfertigt die Tatsache, dass ärmere Länder in Krisenzeiten noch größere Probleme bei der Aufrechterhaltung bzw. Herstellung des Menschen- und Kinderrechts auf Bildung haben, es keineswegs, dass reichere Staaten wie Deutschland sehenden Auges solche Exklusionen ebenfalls zuließen und zulassen.
An der Schnittstelle zwischen Bildungs- und Sozialsystemen lassen sich indes bereits nationale wie internationale Konsequenzen der seit dem Frühjahr 2020 herrschenden Corona-Krise beobachten. So berichteten verschiedene Untersuchungen, wie der Nationale Bildungsbericht 2020 für die BRD und der UNESCO-Weltbildungsbericht 2020 über eine deutlich werdende Verstärkung sozialer Ungleichheiten durch Corona(-Maßnahmen). Letzterer schreibt: „Die COVID-19-Pandemie hat diese Ungleichheiten weiter verstärkt und die Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaften neuerlich offengelegt. (…) Die derzeitige Krise wird die verschiedenen Formen der Exklusion weiter verstetigen. (…) Durch die soziale und digitale Spaltung sind jene Menschen, die am stärksten benachteiligt sind, dem Risiko von Lernverlusten und Schulabbrüchen ausgesetzt. Vergangene Erfahrungen – wie z. B. im Zusammenhang mit Ebola – haben gezeigt, dass Gesundheitskrisen viele Menschen zurücklassen können, insbesondere die ärmsten Mädchen, von denen viele vielleicht nie wieder in die Schule zurückkehren werden.“ (vgl. UNESCO-Weltbildungsbericht 2020, S. 7) Die Kinderhilfsorganisation UNICEF geht zum Beispiel davon aus, dass „die weltweite Zahl der Kinder, die gar keine Schule besuchen, nochmals um 24 Millionen ansteigen wird“ (UNICEF v. 12.1.2021)
Menschenrecht auf (Schul-)Bildung in Deutschland
In Bezug auf Schulen schienen sich in Deutschland viele Expertinnen und Experten im Herbst 2020 ziemlich einig zu sein. Im Tagesspiegel vom 23.Oktober 2020 stimmte etwa der Professor für pädiatrische Infektiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Johannes Hübner, einem vehement vertretenen Plädoyer für das Offenhalten der Schulen zu und erklärte: „‘Kinder sind nicht die Treiber der Infektion, sie sind kein wesentlicher Motor, aber sie sind diejenigen, die von Anfang an am stärksten betroffen waren‘ – durch die Folgen der Schulschließungen“ (siehe Tagesspiegel v. 23.10.2020) Das Handelsblatt vom 23. Oktober schreibt dazu: „Auch der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, hatte betont, dass Kinder ‚anders als bei Influenza keine Treiber der Pandemie sind‘. Eine Studie des Bonner Institute of Labor Economics (IZA) hatte gezeigt, dass die Wiederöffnung der Schulen nach den Sommerferien das Infektionsgeschehen nicht angeheizt hatte. Im Gegenteil: Die Rückkehr der Schüler in die Schule hat den Anstieg der Neuinfektionen sogar abgebremst, so das überraschende Ergebnis.“ (Handelsblatt.de v. 23.10.2020)
Auch der Berliner Virologe Detlev Krüger, welcher an der Charité der Vorgänger von Christian Drosten war, setzt sich klar für eine Öffnung der Schulen ein und betont zudem die Berücksichtigung von Nebenwirkungen der Lockdown-Politik – gerade auch hinsichtlich des Menschenrechts auf Bildung für Kinder. Er sagt in einem Interview mit der Berliner Morgenpost vom 25. Februar 2021: „Wenn man sich die Infektionszahlen in den Ländern anschaut, wo sich die Variante massiv durchgesetzt hat – in Großbritannien, Irland, auch Dänemark –, dort sind die Zahlen seit Jahresanfang trotzdem im freien Fall. Und die englische Gesundheitsbehörde Public Health England sagt zudem, dass Kinder auch nur die Hälfte der Wahrscheinlichkeit von Erwachsenen haben, diese Virusvariante weiterzugeben.“ Für Krüger ist „auch die Mutante (…) kein Grund, die Schulen nicht zu öffnen – vorausgesetzt, die Hygieneregeln werden eingehalten (…). Ich denke, dass bei all diesen Maßnahmen die Kinder, die wirklich als Bevölkerungsgruppe am wenigsten gefährdet sind, durch die Schulschließungen die größten Opfer für die Gesellschaft bringen müssen. Die Bildungslücken werden größer, aber es kommt auch zu sozialen, psychischen und physischen Problemen. Wenn kein Sportunterricht mehr ist, wenn sie in engen Wohnungen hocken. Fragt man Kinder- und Jugendpsychiater, dann erzählen sie, dass inzwischen ihre Kliniken überbelegt sind. Das sollte man auch zur Kenntnis nehmen. “ (zit. nach: Berliner Morgenpost v. 25.2.2021)
(Bildungs-)Ungleichheiten und Bildungsverständnisse
Der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher rechnete derweil laut Spiegel vom 23. Oktober 2020 vor, welche sozialen und wirtschaftlichen Folgen die bisherigen Schulschließungen und der wochenlange Unterricht im Schichtbetrieb nach sich ziehen könnten: „‘Wer weniger gebildet ist, kann weniger produktiv sein.‘ Das werde sich auf die Volkswirtschaften der OECD-Länder, aber auch die Verdienstmöglichkeiten Einzelner auswirken. ‚Die Lernverluste kann man wahrscheinlich mit drei Prozent verlorenem Lebenseinkommen gleichsetzen, und zwar im Durchschnitt‘, sagte Schleicher. Zu etwas anderen Ergebnissen kommt Nicola Fuchs-Schündeln, Professorin für Makroökonomie und Entwicklung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Studien aus den USA zeigen demnach, dass es bei Unterrichtsausfall zu einem Prozent Einkommensverlust kommen kann.“ (Spiegel.de v. 23.10.2020) Der Tagesspiegel vom 23. Oktober gibt die Wissenschaftlerin zudem noch folgendermaßen wieder: „Das verlorene ‚Humankapital‘ durch Lernrückstände, die sich mit zunehmender Dauer von Schulschließungen überproportional vergrößerten, könnten sie (die Schüler/innen; M.K.) ‚nicht wieder aufbauen‘. Fuchs-Schündels Fazit: ‚Wir müssen die Schulen so weit wie möglich offenhalten‘.“ (Tagesspiegel v. 23.10.2020)
In diesen Darstellungen drückt sich, neben berechtigter Sorge um Bildungschancen und das Wohl von Kindern zumindest eine ziemlich neoliberale Vorstellung von Bildung, Lernen und Schule aus, die leider nicht untypisch ist für viele bildungsökonomische Studien in und um die OECD herum. Deren instrumenteller Charakter in Bezug auf Input-Output-Funktionen sog. Humankapitals sollte nicht vergessen machen, dass das Menschenrecht auf Bildung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im UN-Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und in der UN-Kinderrechtskonvention vor allem mit Persönlichkeitsentwicklung, Aufklärung, Emanzipation, Mit- und Selbstbestimmung sowie Völkerfreundschaft in Verbindung gebracht wird und am wenigsten mit kompetitiven Wirtschaftsvorstellungen des Neoliberalismus. Wer jedoch unter Bildung nur die Erziehung zu nutzenmaximierenden und wirtschaftlich verwertbaren Marktsubjekten im Sinne der sog. Humankapitaltheorie versteht, untersucht auch das Bildungssystem und seine Auswirkungen in der Corona-Krise weitgehend im Rahmen dieser Paradigmen.
Darüber hinaus differieren auch die Folgen für die sogenannte „Generation-Corona“, die mit der Pandemie aufwachsen muss, je nach sozialer Lage. So ist nicht allzu viel zu halten von Zwangsläufigkeit suggerierenden Prognosen neoliberaler Bildungsökonomen, die sich bereits jetzt fast darauf festlegen wollen, wie viel Gehalt, wie viele Jahre Lebenseinkommen und wie viel Rente die sogenannte Corona-Generation alleine durch den ersten Lockdown 2020 schon verloren hat. Eine nüchterne Beschäftigung mit den Generationen, die ihre Schulabschlüsse während des zweiten Weltkrieges oder während der gesellschaftlich Umbruchsphasen um 1968 oder um 1989/90 mit ziemlich geringem Schulbesuch absolviert haben, zeigt doch sofort, dass auch die Bewertung von schulischen sowie beruflichen Qualifikationen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen unterworfen ist. In vielen Zwangs-Prognosen werden dagegen zumeist gesellschaftliche Kräfteverhältnisse ausgeblendet sowie die real existierende soziale Ungleichheit innerhalb der jeweiligen Generation. Kurz gesagt: Wer jetzt wohlhabend aufwächst sowie reich erbt und wer dann durch keine wirksamen Reichen-, Vermögen- und Erbschaftsteuern an den Kosten der Corona-Krise beteiligt wird, kann sich nur freuen. Die anderen mehr als 90 Prozent der jungen Generation werden dafür allerdings sehr hart arbeiten und dafür sehr viel bezahlen müssen, wenn dies nicht durch veränderte Kräfteverhältnisse und gerechtere Verteilungspolitik korrigiert wird.
Einig scheinen sich die Bildungs-Expert(inn)en laut Spiegel vom 23. Oktober 2020 darin zu sein, dass es eine deutlich ungleiche Verteilung bei den betroffenen Gruppen gebe: „Die sozial schwächsten Kinder am unteren Ende des Leistungsspektrums würden überproportional getroffen, und zwar vor allem diejenigen, die weder zu Hause noch in der Schule Hilfe hätten. Im Zuge der Coronakrise hatten diverse Studien belegt, dass der Unterricht auf Distanz die in Deutschland ohnehin ausgeprägte Chancenungleichheit verstärkte. Das lässt sich Schleicher zufolge kaum kompensieren: ‚Es ist schwierig, Lernverluste wettzumachen.‘“ (Spiegel.de v. 23.10.2020). Auch die Sozialwissenschaftlerin Jutta Allmendinger wird mit mahnenden Worten wiedergegeben. Es sei bei einigen Kindern der Fernsehkonsum deutlich gestiegen, „sie bewegten sich ohne Schulweg und Schulsport weniger, motorische Fähigkeiten entwickelten sich langsam zurück, sagte die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Weil das Schulessen wegfällt, ‚muss sich manches Kind selbst eine Pizza in den Ofen schieben‘. Die gesunde Ernährung leide – und ohne Mitschüler und Lehrkräfte auch das soziale Lernen. Noch gravierender: Kinder seien häufiger von häuslicher Gewalt bedroht. Allmendinger verwies zudem auf die ‚immense Belastung‘ erwerbstätiger Eltern, insbesondere von Müttern und Alleinerziehenden. Man müsse über ‚all diese großen Dimensionen reden, die das Thema umfasst‘, sagte die Soziologin und zeigte sich wenig optimistisch, was das künftige Krisenmanagement mit Blick auf Kinder, Jugendlichen und Frauen in der Pandemie betrifft: ‚Was mich am meisten umtreibt‘, sagte sie, ‚dass wir aus den vergangenen sieben bis acht Monaten so wenig gelernt haben‘.“ (ebd.).
Eine weitere seltsame, aber bezeichnende Einstellung von manchen Jugend- und Bildungsforscher(inne)n lässt sich veranschaulichen mit der Erklärung eines Forschungsteams um die deutsche PISA-Koordinatorin Kristina Reiss für den scheinbar „geringen Glauben“ deutscher Jugendlicher, „viel an globalen Problemen ändern zu können“. In der Studie „Global Competence in PISA 2018. Einstellungen von Fünfzehnjährigen in Deutschland zu globalen und interkulturellen Themen. Münster“ (vgl. Reiss u.a. 2020, S. 9) wurde ermittelt, dass sich Jugendliche in Deutschland mehrheitlich sehr gut informiert zu wissen glauben, aber wenig interessiert zeigen und mehrheitlich der Meinung seien, nur wenig an den globalen Problemen ändern zu können. „Ähnlich wie im Bereich der lesebezogenen motivationalen Orientierung (vgl. Diedrich et al., 2019), schätzen Schülerinnen und Schüler in Deutschland im Bereich Global Competence ihr Wissen über globale Herausforderungen als hoch ein (entsprechend dem hohen Lesestrategiewissen in PISA 2018). Sie berichten auch ein hohes Selbstvertrauen, diese Herausforderungen erklären zu können (entsprechend dem hohen lesebezogenen Selbstkonzept). Weniger ausgeprägt ist allerdings die Ambition, die Herausforderungen auch anzunehmen (und das entspricht der geringen Lesefreude) und sie in Handlungsfähigkeit beziehungsweise in konkrete Handlungen umzusetzen“ (Reiss u.a. 2020, S. 9). Daraus schloss das PISA-Forschungsteam um Reiss: „Eine mögliche Interpretation ist, dass ein hohes Verständnis für die Komplexität der globalen Probleme eher zu der Einschätzung führt, dass man als Individuum wenig zur Lösung beitragen kann.“ (Reiss 2020 u.a., S. 9).
Heißt das aber, wer „ein hohes Verständnis für die Komplexität der globalen Probleme“ hat, müsse zu dem Ergebnis kommen, dass man individuell sowieso nichts ändern kann? Zum Glück haben sich im Laufe der Weltgeschichte Rosa Luxemburg, Rosa Parks, Che Guevara, Greta Thunberg und andere Menschen nicht von einem derartigen “hohen Verständnis für die Komplexität der globalen Probleme“, wie es die PISA-Forscher/innen vertreten, leiten lassen. Die menschliche Spezies würde sich wahrscheinlich andernfalls heute immer noch auf Bäumen herumtreiben. Und was die Selbsteinschätzung über angeblich sehr gute Kenntnisse zu weltweiten Entwicklungen betrifft, so empfiehlt sich wirklich nur einmal abends, statt oder mit ARD/ZDF oder ähnlicher Internetnachrichten die Nachrichtensender France24/TV 5 Monde oder BBC (geschweige denn Al Dschasira, CNN oder Russia Today) anzusehen, um zu bemerken, dass durchschnittliche Deutsche über das weltweite Geschehen z.B. in Afrika, Asien und Lateinamerika außer bei Naturkatastrophen und anderen Meldungen relativ wenig erfahren (z.T. bestätigen das sogar die dortigen Auslandskorrespondenten und „Auslandsjournal“ sowie „Weltspiegel“ ändern daran leider nur wenig).
Fazit
Daraus ergeben sich nun spezifische kinderrechts- und menschenrechtsbasierte Feststellungen und Forderungen. So hat die sog. Monitoringstelle UN-Kinderrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte anlässlich der Corona Pandemie „Rückschritte bei der Verwirklichung der Kinderrechte in Deutschland“ bemängelt (Monitoringstelle UN-Kinderrechtskonvention beim Deutsch Institut für Menschenrechte 2020: Corona-Pandemie: Rückschritte bei der Verwirklichung der Kinderrechte in Deutschland, in: Pressemitteilung v. 2.11.2020). Besondere Defizite erkennt die Monitoring-Stelle beim Gewaltschutz, bei der Bekämpfung von Kinderarmut und beim Zugang zu Bildung für alle Kinder. „Die Verwirklichung der Kinderrechte in Deutschland hat mit Beginn der Corona-Pandemie erhebliche Rückschritte erlitten. Die Rückschritte zeigten sich insbesondere in der anfänglichen Nichtbeachtung der Ansichten von Kindern und Jugendlichen durch Bund, Länder und Kommunen. Gleichzeitig wurden schon bestehende Defizite hinsichtlich des Gewaltschutzes von Kindern, der Bekämpfung von Kinderarmut sowie des Zugangs zu Bildung für alle Kinder verstärkt sichtbar. Die Erfahrungen, die durch die Corona-Pandemie gemacht werden, gilt es baldmöglichst auszuwerten, um mit der Verwirklichung der Kinderrechte in Deutschland wieder ein großes Stück voranzukommen. Aus Sicht der Monitoring-Stelle gehört dazu auch ein gezielter Aus- und Aufbau von Interessenvertretungen von Kindern auf Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen, damit ihre Meinungen nicht erneut ungehört bleiben“ (ebd.).
Neben einer gründlichen und kritischen Analyse des hegemonialen Diskurses in Medien, Politik und Wissenschaft, sollten an Kinderperspektiven anknüpfende Alternativen und Gegenstrategien Konzepte der Armutsbekämpfung, der Partizipation junger Menschen und der Förderung sozialer Infrastruktur vereinen, die den gesellschaftspolitischen Kontext nicht aus den Augen verlieren (vgl. Klundt 2020, S. 15f.). Dazu gehören drei zentrale Forderungen, welche während und nach der Krise unentbehrlich sind. Als erstes wäre an Maßnahmen gegen Armut und zur sozialen Absicherung der Kinder und Familien zu denken. Zweitens müssen die kinderrechtlichen Prinzipien des Kindeswohlvorrangs, des Schutzes, der Förderung und vor allem der Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Jugendverbänden (wieder) aufgebaut bzw. umgesetzt werden. Damit verbunden sind drittens Maßnahmen für einen (pandemiegerechten) Ausbau der sozialen Infrastruktur im Wohnumfeld v. a. mittels Jugendhilfe und offener Arbeit.