Corona als Chance für die Förderung der Vielfalt in Deutschland
Was Deutschland von anderen westlichen Ländern unterscheidet, ist die Leugnung des institutionellen Rassismus. Obwohl tagtäglich Schwarze und People of Color vielfältige negative Erfahrungen machen und davon berichten, behauptet man: „So etwas gibt es bei uns nicht.“ (vgl. Damagüler 2017, S. 82-84) Offiziell heißt es, dass es keinen institutionellen Rassismus in Deutschland gäbe: „Rassismus gibt es nicht in deutschen Behörden, (…) alles bloß Ausnahmen und Fehlwahrnehmung der Betroffenen.“ (ICERD 2015)
Der institutionelle Rassismus wirkt in Organisationen (in Form von Gesetzen, Routinen, Verfahren, Vorschriften, Regelungen) als Barriere bzw. Hindernis beim Zugang zu den Ressourcen der Gesellschaft, wo er Vorteile für weiße Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft und Nachteile für Schwarze und People of Color generiert. Seine elementare Funktion in einer Gesellschaft der „Vielen“ ist die Zuweisung von Positionen in der Gesellschaft und die Erhaltung des Status quo. Aus meiner Sicht bremst er die Vielfalt in Deutschland und sorgt dafür, dass alles „beim Weißen“ bleibt.
Für die Leugner des institutionellen Rassismus schlagen Attia und Keskinkilic vor, auf die Konsequenzen des Rassismus in der Gesellschaft zu schauen: „Es ist der Effekt, der Auskunft darüber gibt, ob institutionelle Diskriminierung vorliegt oder nicht.“ (Attia/Keskinkilic 2017, S. 122)
Die Auswirkungen des Corona-Virus verdeutlichen die Effekte des institutionellen Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft. Erkenntnisse aus den USA zeigen, dass unter schwarzen Menschen und Latinos, ergo People of Color, im Vergleich zu Weißen folgende Punkte eindeutig und nachweislich feststellbar sind: Schlechtere Ausbildung, häufigere Arbeitslosigkeit, niedrigere Einkommen, kein oder weniger Vermögen, höhere Obdachlosigkeit, mehr Polizeikontrollen, höhere Inhaftierungsrate, schlechterer Zugang zur Gesundheitsversorgung und mehr Corona-Tote. In den USA spricht man von einer Pandemie innerhalb der Pandemie (vgl. Iser/Roth 2020).
Auch in Deutschland zeigen die Folgen der Pandemie die strukturellen Benachteiligungen für Schwarze und People of Color auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungsbereich. Die alarmierenden Befunde der OECD-Studie 2020 zeigen, dass die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen die Familien von Zugewanderten besonders hart treffen. Laut den Angaben von IW1, IAB2 und ADS3 sind Entlassungen und Kurzarbeit bei Menschen mit Migrationshintergrund deutlich häufiger festzustellen als bei Menschen ohne Migrationshintergrund (ADS 2020; IW 2020; IAB 2020). Die Pandemie hat auch die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland verdeutlicht. Kinder of color werden bei der Benotung und bei der Empfehlung an weiterführende Schulen doppelt so oft benachteiligt wie Kinder aus der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Mafaalani 2018). Neue Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund und ihre Kinder häufiger von Armut betroffen sind. Während der Pandemie werden Kinder of Color im Rahmen des Home-Schooling aufgrund der fehlenden Ressourcen in den Familien erheblich benachteiligt (vgl. ADS 2020; Salihi 2020).
Für eine Gesellschaft mit einer stark wachsenden Minderheit, die sich auf Gleichbehandlung beruft, ist gerade die Anerkennung des Problems ein positives Signal für die Minderheit: Deutschland will die Aufarbeitung und Bekämpfung des institutionellen Rassismus und setzt sich für die Gleichbehandlung von allen in Deutschland lebenden Menschen ein. In diesem Sinne ist die aktuelle Pandemie eine Chance für Deutschland. Sie bietet eine Möglichkeit für Chancengleichheit und für das Durchbrechen der gläsernen Decke im Rahmen der beruflichen Karriere für Menschen mit Migrationshintergrund. Die Pandemie bietet die Gelegenheit, Disparitäten im Bereich der Bildung auszugleichen, Barrieren beim Zugang zum Arbeitsmarkt und vielen anderen Gütern der Gesellschaft abzubauen und mehr Teilhabe und Visibilität für Menschen mit einer Migrationsgeschichte zu schaffen. Beispiel hierfür ist das Ehepaar Ugur Sahin und Öslem Türeci (Biontech), die durch ihre Forschung einen Impfstoff gegen das Corona-Virus entwickelt haben. Heute werden sie als Musterbeispiel der Integration, als brillante Forscher, gefeiert. Vergessen ist die Aussage von Bundesinnenminister Seehofer, der die Migration als Mutter aller Probleme Deutschlands darstellte. Einwanderer und ihre Kinder müssen in allen Bereichen – Wirtschaft, Kultur, Politik, Sport, Bildung – doppelt soviel leisten wie „Bio-Deutsche“, um Anerkennung zu bekommen. Die Corona-Krise bietet also eine Gelegenheit, dass die Leistung von Menschen mit Migrationsgeschichte von Politik und Gesellschaft endlich anerkannt wird.
Die Selektion in den Abschlussklassen der Grundschulen und die damit verbundene Bevorzugung von Kindern aus der Mehrheitsgesellschaft für weiterführende Schulen, führen dazu, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte überwiegend in Haupt- und Sonderschulen repräsentiert sind (vgl. ADS 2019). Sahin und Türeci hätten nicht die Möglichkeit gehabt, ihre Träume zu verwirklichen und eine Firma zu gründen, wenn sie keinen Zugang zu höherer Bildung und Kapital gehabt hätten. Es stellt sich die Frage: Wie viele Sahin und Türeci gehen im Bildungssystem wegen rassistischer Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, Kultur oder Religion „verloren“?
Lehrerzimmer, Universitäten, Hochschulen – die gesamte Forschungslandschaft – ist von einer Hautfarbe dominiert: der weißen. Schwarze und People of Color sind in der Verwaltung und in den Chefetagen von Unternehmen nur sehr selten anzutreffen. Alice Hasters schreibt bezüglich Repräsentation und Vorbildfunktion, dass man nicht werden kann, was man nicht sieht. In diesem Kontext ist die Frage der Repräsentation entscheidend für den Zusammenhalt und die Integration (vgl. Hasters 2019, S. 102). Dass Deutschland „bunt“ ist, merkt man bereits an Flughäfen oder Bahnhöfen. Wenn man einen Blick auf die mitreisenden Menschen wirft, sind andere Sprachen, Hautfarben oder Herkunftsländer wahrzunehmen. Diese Vielfalt kann man auch im Sport, besonders im Fußball, sehen. Diese Vielfalt, die in Deutschland unsere alltägliche Realität ist, spiegelt sich nicht in Institutionen, in Unternehmen, in der Verwaltung, in der Polizei, in der Regierung und im Parlament – also in allen Bereichen der Macht und Entscheidungsbefugnis – wider (vgl. Ahyoud/Aikin/Bartsch/Bechert/Gyamerah/Wagner 2018).
Diese Pandemie bietet die Möglichkeit, institutionellen Rassismus noch deutlicher zu erkennen, um tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft einzuführen, die dauerhafte Auswirkungen für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in Deutschland haben. Es müssen positive Entscheidungen auf politischer Ebene getroffen werden, die die Vielfalt in Deutschland in allen Bereichen des Lebens sichtbar machen. Verpasst aber Deutschland die Gelegenheit, sich zur Vielfalt zu bekennen, die Leistung der Minderheiten anzuerkennen und sich gegen soziale und rassistische Ungerechtigkeit zu positionieren, werden Konflikte entstehen: Die Ungerechtigkeiten können nicht länger ignoriert und ertragen werden.
Literaturverzeichnis
ADS (2019): Diskriminierung an Schulen erkennen und vermeiden. Unter: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Leitfaeden/leitfaden_diskriminierung_an_schulen_erkennen_u_vermeiden.pdf?__blob=publicationFile&v=4 Stand 10.02.2021
ADS (2020): Zwischenbilanz der Pandemie: Anti-Schwarzer Rassismus verschärft! Unter: https://www.antidiskriminierung.org/pressemitteilungen/2020/7/14/pm-zwischenbilanz-der-pandemie-anti-schwarzer-rassismus-verschrft Stand 15.02.2021
OECD (2020): Die Coronakrise darf nicht zur Integrationskrise werden. Unter: https://www.oecd.org/berlin/presse/die-coronakrise-darf-nicht-zur-integrationskrise-werden.htm Stand 15.02.2021
Attia, Iman / Keskinkilic, Ozan Z. (2017): Rassismus und Rassismuserfahrung: Entwicklung – Formen – Ebenen. Unter: https://www.idz-jena.de/wsddet/wsd2-11/ Stand 27.07.2020
Ahyoud, Nasiha / Aikins, Joshua Kwesi / Bartsch, Sameria / Bechert, Naomi / Gyamerah, Daniel / Wagner, Lucienne (2018): Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Unter: https://www.kiwit.org/media/material-downloads/antidiskriminierungs_-_gleichstellungsdaten_-_einfuehrung.pdf Stand 20.07.2020
Daimagüler, Mehmet Gürcan (2018): Es gibt viele Menschen unter uns, die institutionellen Rassismus tagtäglich am eigenen Leibe erfahren. Unter: https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/PDFS_WsD3/Text_Daimagüler.pdf Stand 27.07.2020
El-Mafaalani, Aladin (2018): Von Ali und Andreas. Ursachen und Formen von Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und Lösungsansätze. Unter: https://www.kiwit.org/media/material-downloads/2018_01_iq_konkret.pdf Stand 20.07.2020
Gomolla, Mechtild / Radtke, Frank-Olaf (2009): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. 3. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Hasters, Alice (2019): Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten. München: Carl Hanser Verlag.
ICERD Parallelbericht (2015): Rassistische Diskriminierung in Deutschland. Erscheinungsformen und menschenrechtliche Verpflichtungen zum Schutz vor rassistischer Diskriminierung. Unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ICERD/icerd_state_report_germany_19-22_2013_parallel_FMR_Diakonie_2015_de.pdf Stand 20.07.2020
Iser, Gaspar Jurik / Roth, Johanna (2020): Der Rassismus ist allgegenwärtig. Unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/rassismus-usa-schwarze-menschen Stand 10.02.2021
Salihi, Nadine (2020): Zugewanderte sind in besonderem Maße von der Corona-Pandemie betroffen. Unter: https://www.jugendhilfeportal.de/fokus/coronavirus/artikel/zugewanderte-sind-in-besonderem-masse-von-der-corona-pandemie-betroffen/ Stand 10.02.2021