Prof. Dr. Heinz Sünker | Universität Wuppertal
I.
Martin Jänicke geht in seinem Buch“ Staatsversagen“ davon aus, dass man gesellschaftsanalytisch „die milden Naivitäten der klassischen Volkswirtschaftslehre hinter sich“ lassen müsse, um realistisch bestimmen zu können, wann der Staat gesellschaftsgestaltend ins Spiel komme: etwa dadurch, „dass der Markt eine zu kurze Zeitperspektive hat und die kurzfristigen Interessen der Marktteilnehmer über die langfristigen Interessen stellt. Staatsversagen bedeutet in diesem Fall, dass auch die Zeitperspektive des Staates zu kurz ist und über Legislaturperioden nicht hinausreicht. Zukunftsinteressen und das Interesse an vorsorglicher Problemvermeidung sind nicht Sache des Marktes“ (Martin Jaenicke 1986: Staatsversagen. Die Ohnmacht der Politik in der Industriegesellschaft. München, S. 51). Daraus folgert Jänicke, dass das staatliche Aufgabenpensum primär problemorientiert als Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen zu bestimmen sei (S. 55). Allerdings bedeutet dies nicht, dass der Staat diese Herausforderungen auch tatsächlich bearbeitet. Denn, so noch mal Jänicke, staatliches Versagen im Gesundheitswesen fange an „in der Form einer unzulänglichen Prävention“ (S. 63).
Die Analyse Jänickes konkretisiert, was in den Gesellschaftsanalysen der klassischen Frankfurter Schule (Horkheimer, Marcuse, Adorno) als grundlegendes Problem der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise herausgestellt wird: die Irrationalität, die kapitalistischen Gesellschaften eigen ist – egal ob privatkapitalistisch oder wie im Falle der Diktaturen Mittel- und Osteuropas staatskapitalistisch. Dies bringt Max Horkheimer bereits vor 70 Jahren in dem Satz zusammen: „Es gibt keine Sicherheit auf den Verkehrsstraßen der Gesellschaft“ (Max Horkheimer o.J.: Kritik der instrumentellen Vernunft. Raubdruck, S. 254).
Damit gelangen wir zu der Diskussion um Corona-Pandemie, Gesundheitspolitik, gesellschaftliche wie individuelle Folgen. Eine Analyse der Situierung von Erfahrungen und Erlebnissen mit der Corona-Situation ist insofern gesellschaftsanalytisch von hohem Interesse, weil sich hier in der Tat klassische Erfahrungen im Umgang mit Naturgefahren und gesellschaftliche Umgangsweisen damit entziffern lassen. Mehrheitlich und über lange Strecken in der Geschichte der Menschheit geht es bei den Naturgefahren um etwas, was der Verfasser von Kriminalromanen Leonardo Padua an der Erfahrung und der Lebensweise seines „Helden“ paradigmatisch anschaulich macht, wenn er schreibt:
“Er (der Detektiv, H. S.) erwachte ohne Angst, aber mit der Gewissheit, dass er das erschreckende Alter von sechsunddreißig Jahren erreicht hatte und dieser Tag sein letzter als Polizist sein würde. Und was er sah, als er die Augen aufschlug, überraschte ihn nicht: ein leeres Aquarium, ein Bett, das nur auf einer Seite eine Kuhle hatte, ein paar mit Staub, aufgeschobenen Plänen und Hoffnungen bedeckte Bücher, eine Flasche Caney, die bis auf den letzten Tropfen ausgewrungen war wie ein Wischlappen, eine ungewisse Zukunft, vor der er sich fürchtete, und, eingerahmt von dem schmalen Fenster, ein Stück Himmel, der wieder unverschämt blau war“ (Leonardo Padura 2006: Das Meer der Illusionen. Das Havanna-Quartett: „Herbst“, S. 166).
Und auf den Punkt gebracht bedeutet dies: “Eine Natur, die in regelmäßigen Abständen dem Menschen beweisen will, dass er nicht in der Lage ist, sie zu beherrschen, und ihm ihre unendlichen Möglichkeiten, sich zu rächen, in Erinnerung ruft“ (Padura, S. 229).
Dies mit Bezug auf Zyklone und andere Naturereignisse beschriebene verlängert sich auf den ersten Blick in die Pandemie hinein, wird aber noch einmal anders erfahren, da Viren anders als Naturkatastrophen nicht sinnlich erfahrbar sind; dies werden sie erst durch die mit den Infektionen verbundenen Körpererfahrungen.
Nun ist bekanntlich das Virus nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis einer inzwischen global auffindbaren Lebensweise. Und sein Auftreten ist nicht singulär, sondern gehört in eine Kette vergleichbarer Ereignisse in den letzten Jahrzehnten – Ereignissen die mit den Namen Ebola und Sars verbunden sind. Die Diagnose „Staatsversagen“ ist daher deshalb zu stellen, weil offensichtlich eine unzulängliche Präventionspolitik oder besser noch: eine gar nicht vorhandene Präventionspolitik in entscheidendem Maße zum Ausmaß und globalen Umfang dieser Pandemie geführt bzw. dazu beigetragen hat. Es erweist sich, dass Staatsapparate – egal in welcher Form, also kapitalistisch demokratisch oder diktatorisch – es nicht für nötig befunden haben oder auch nicht dazu in der Lage waren, sich auf erwartbare Fortsetzungen vorhergehender, 10-15 Jahre früher sich ereignender Pandemien, vorzubereiten. – Sicherlich stellt sich auch die Frage, wo denn all die heute so öffentlichkeitswirksam auftretenden VirologInnen und EpidemiologInnen gewesen sind, als es um die Erarbeitung von Präventionskonzepten ging; denn wissenschaftlich ist es eindeutig, dass mit dem Auftreten von Ebola und Sars die Erkenntnis einherging, dass diese sich weder zeitlich noch räumlich würden eingrenzen lassen, dass einzig die Chance in der Entwicklung von Impfstoffen liege. –
Die Situation bestimmt sich mithin durch Staatsversagen und Systemversagen, privat-oder staatskapitalistische Rationalität sind wieder einmal an ihre Grenzen gestoßen. Wie üblich wird mehrheitlich über die Arbeit mit Symptom-Kuriererei versucht, dem „Schicksal“ zu entkommen, wird versucht, mehr oder minder einsichtige Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft zur Mitarbeit an der richtigen Haltung und Handlung mit u.a. sozialer Distanzierung, Maskenpflicht, sozialer Vereinzelung zu bewegen – dies durchaus auch in deren eigenem Interesse, sich nicht zu infizieren, an den katastrophalen langfristigen Folgen von Infektionen vorbeizukommen, nicht zu sterben. Systemisch wird dies diskutiert als Überforderung des Gesundheitssystems, der Zahl der Betten im Intensivbereich von Kliniken, der aufscheinenden Möglichkeit von Triage.
II.
Analytisch besonders spannend ist es meines Erachtens in diesem Zusammenhang mit Bezug auf eine Analyse öffentlicher Diskurse, dass die „Durchsetzung“ dieser Politik verbunden wird mit Reden über „Solidarität“ – manches Mal zwischen den Generationen, wenn es um Pflegeheime und Kindergärten wie Schulen geht – sowie über die Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen als SchülerInnen mangels Möglichkeiten von Kindergarten/Schulbesuch. Beides ist deshalb von Interesse, weil plötzlich bei PolitikerInnen Reden bzw. Betonungen von Ungleichheit zu Tage treten, die sonst sehr selten bzw. gar nicht erkennbar sind.
„Solidarität“ ist in bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaftsformationen gemeinhin nur ein „lip- Service“, mit dem Eindruck geschunden werden soll bei WählerInnen. Denn Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ vor 200 Jahren bereits im § 183 festgehalten, dass die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sich durch die Verfolgung selbstsüchtiger Zwecke und nicht aufgrund einer inneren Verbindung aufeinander beziehen, dass die Realität dieser Gesellschaft bestimmt ist durch Gegensätze wie „ebenso der Ausschweifung, des Elends des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens (1955: § 185). Inhärent ist dieser Darstellung zudem die systemisch bedingte Spaltung in Arme und Reiche, Armut und Reichtum (§§ 241- 246), deren besondere Gestaltung und Gestalten samt den Konsequenzen für Existenzweisen, Selbstverständnisse und Perspektiven Hegel so vorstellt:
„Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert, – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen, – bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt“ (§ 244). Die Regulierung von Armut und Armen findet ihre systemische Bedingung im mit dieser Gesellschaftsformation gesetzten Prinzip, sich durch Arbeit, die zudem grundlegend für die Erhaltung „des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbstständigkeit und Ehre“ ist, zu reproduzieren. Dies endet in der Einschätzung: „Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern“ (§ 245).
Mit der Durchsetzung der neoliberalen Konterrevolution gegen die über einige Jahre währende sozialstaatliche ‚Abfederung‘ dieser systemisch verursachten Spaltung in Arme und Reiche, dem Kampf gegen Sozialstaat, Arbeiterbewegung und Gewerkschaften hat sich diese Situation gegenüber der vor 200 Jahren noch einmal verschärft, sodass die Reden über Solidarität durch diejenigen, die für Hartz IV und eine permanente Umverteilung von unten nach oben als Folge diverser fälschlicherweise „Steuerreformen“ genannten Politiken – in Wirklichkeit handelt es sich um Restaurationen – in der Bundesrepublik seit 1984 verantwortlich sind, nur als Hohn erscheinen kann.
Dies trifft auch auf die Krokodilstränen derer zu, die jetzt angesichts von lockdowns und ihrer Folgen über ‚Benachteiligungen‘ für Schülerinnen schwätzen, in der Realität aber verantwortlich sind für das kontinuierliche Existieren eines Systems der Bildungsapartheid, also einem Verbrechen am „Kindeswohl“, in diesem Lande, das mithilfe des dreigliedrigen Schul-Systems – fälschlicherweise Bildungswesen genannt – operiert. Dieses Einteilen von jungen Menschen im Alter von zehn Jahren in SchülerInnen für Haupt- wie Realschulen einerseits und Gymnasien andererseits entstammt der Begabungsideologie vergangener Jahrhunderte, und ist dem Anspruch einer Demokratie, die auf der Bildung aller aufruht, vollkommen entgegengesetzt (Heinz Sünker 2008: Demokratische Bildungsgesellschaft oder Spätkapitalismus, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 31. Jg. (Heft 57)).
Vielleicht bietet die Corona-Pandemie eine Chance, eine neue gesellschafts- und bildungspolitische Diskussion in einer diskutierenden Öffentlichkeit neu bzw. erneuert zu beginnen, und die hegemonial verfassten Herrschaftsverhältnisse qualitativ gehaltvoll, also in emanzipatorischer Perspektive, d.h. im Interesse eines guten Lebens aller, zu verändern. Sinnvoll ist es daher, sich daran zu erinnern, dass Hellmut Becker im Gespräch mit Theodor W. Adorno bereits 1967 die Forderung nach „sozialer Startgleichheit“ gestellt hat, um eine Bildung, die diese Bezeichnung tatsächlich verdient, zu ermöglichen (Theodor W. Adorno 1970: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Frankfurt/M., S. 110).
Dies würde im weiteren auch allen neo-nazistischen Bestrebungen à la AfD und anderen Populismen, die im Kontext von Sozialpolitik mit völkischer Ideologie operieren, eine entscheidende Grenze setzen.