Zwei Erinnerungen
Im Rahmen meiner unterschiedlichen Funktionen in NGOs und Gewerkschaften habe ich an zahlreichen Diskussionen mit Politker:innen teilgenommen. Wenn diese von der „nicht gelungenen Integration“ (was immer auch „Integration“ bedeuten mag) redeten sagte ich: „Das Leben Türkeistämmiger in der Bundesrepublik ist eine Erfolgsgeschichte!“ Natürlich haben alle mich erstaunt angeschaut. Aber die Zahlen zeigen, dass Menschen mit Türkeihintergrung in allen Bereichen der Gesellschaft präsent sind: in allen Berufsgruppen, in der Verwaltung, im Unternehmertum, in der Wissenschaft, in der Politik etc.
Und in Diskussionen über Bildung fragte ich immer: „Wurden Sonderschulen, Hauptschulen erst nach der Arbeitskräfteanwerbung eingerichtet? Früher waren die Kinder an diesen Schulen blond, heute haben sie schwarze Haare.“ Denn, ob deutscher oder migrantischer Herkunft entscheidet in der Regel die Klassenherkunft dieser Kinder über ihre Bildungskarriere (Kinder akademischer Eltern an diesen Schulen dürften große Ausnahme sein).
Erfolg trotz der Politik
Der Grund für die Erfolge ist natürlich nicht die (Bildungs-)Politik der Bundesländer! Im Gegenteil, nicht die Politik, die über 40 Jahre die Realität der Einwanderung geleugnet hat, die 1974 den Kindernachzug erlaubt und anstatt Maßnahmen für ihre Eingliederung in das Bildungssystem zu entwickeln „Rückkehrerklassen“ eingerichtet hat, sondern die Bemühungen der Eltern und ihrer Kinder, das Engagement eines Teil der Lehrkräfte und der NGOs haben diese Erfolge ermöglicht.
Zwei aktuelle Beispiele:
Die Firma Biontech, die kurz davorsteht, einen Corona-Impfstoff fertigzustellen, wurde von den Einwanderer:innenkindern Özlem Türeci und Uğur Şahin gegründet.
Im Jahre 2019 wurden in der Bundesrepublik 160.000 neue Arbeitsplätze (25% aller) von Menschen mit Migrationshintergrund eingerichtet.
In der Mehrheitspolitik wird immer so getan, als ob alle Menschen mit Migrationshintergrund gute Schul- und Bildungsabschlüsse erreichen/in der Gesellschaft erfolgreich sein müssten. Natürlich wird das von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft nicht verlangt! Zumal so etwas in einer Klassengesellschaft (insbesondere im Bildungssytem) wie die Bundesrepublik auch gar nicht möglich wäre.
Aktuell: Die (allgemeine) Einstellung der Mehrheitsgesellschaft
Sicher, in den letzten 10 Jahren hat es Veränderungen in den Einstellungen (und auch in der Praxis) gegeben. Sogar konservative Politiker:innen reden von Migration bzw. Migrant:innen. Im Bildungssystem wächst die Erkenntnis, dass neben den um in der Gesellschaft einen Platz zu erringen selbstverständlich notwendigen guten Deutschkenntnissen auch die Muttersprachen gefördert müssen. Aber, auch die Ausgrenzungen dauern an. Als neuer „Ausgrenzungsfaktor“ wurden der Islam und das Interesse an der Türkei „entdeckt.“
Dass in einem Staat, in dessen Verfassung (GG) das 6. Wort „Gott“ ist, mit dem Glauben so umgegangen wird, ist schon interessant. Ganz zu schweigen von der absurden Diskussion „Gehört der Islam zu Deutschland?“ Obwohl im Grundsatz ein positiver Schritt zeigt die Platzierung der „Islamkonferenz“ im Bundesinnenministerium, dass es hier mehr um „Sicherheit“ geht, als um Gleichstellung.
Der alltägliche Rassismus, rassistische Übergriffe, die Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sind weiterhin präsent.
Was die von der Mehrheitsgesellschaft oft kritisierte Interesse an der Türkei betrifft, zwei Anmerkungen:
Zum einen ist es im heutigen Kommunikationszeitalter ganz natürlich, dass Menschen an dem Land, aus dem ihre Vorfahren stammen, an den Lebens- und politischen Verhältnissen ihrer Verwandten dort Interesse zeigen/parteiergreifen. Natürlich vergessen die Politiker: innen, die insbesondere die Parteinahme der türkeistämmigen in der Bundesrepublik für die aktuelle Regierung kritisieren, geflissentliche die Millionen Euro an Unterstützung, die sie unkritisch gerade dieser Regierung zukommen lassen.
Zum anderen -und aus meiner Sicht ausschlaggebend- die in/m der Gesellschaft/Alltag fortdauernde Diskriminierung, die laufend erschwerte Möglichkeit der Einbürgerung und nicht einmal die Möglichkeit eines kommunalen Wahlrechts. Auch dies führt dazu, dass das (politische) Interesse für die Ereignisse an dem Land der Vorfahren weiter besteht. (Wird zwar etwas polemisch aber: Wenn bspw. in einem nicht EU-Staat ein Militärputsch stattfindet und Menschen dagegen auf die Straße gehen sagt ja niemand: „Was geht euch das an?“
Aktuell: Gesellschaftliche Verhältnisse und Probleme: Heute und morgen
Wie erwähnt werden die Probleme (in Politik und Gesellschaft) von Millionen Menschen, deren Wurzeln in der Türkei oder anderen Ländern liegen trotz mancher Fortschritte leider weiterhin bestehen. Die migrations-/migrant:innen-/islamfeindliche Politik der AfD genannten Partei hat diese z.T. in starker Zahl in den Bundestag und die Länderparlamente katapultiert. In allen (!) „demokratischen Parteien“ gibt es Politiker:innen, die meinen, durch die (sprachlich) veränderte Übernahme von Positionen dieser Partei Wähler:innen zurückgewinnen zu können. Die Realität ist jedoch, dass dieses Verhalten nicht dazu führt, diese Wähler:innen zurückzuholen, ganz im Gegenteil wird diesen Wähler:innen der Eindruck vermittelt, ihre Partei habe Recht.
Dies alles zeigt, dass der Kampf um gleiche Rechte und ein diskriminierungsfreies Leben noch lange auf der Tagesordnung sein wird.
Hier möchte ich auf einen Zwiespalt eingehen, der in den letzten Jahren immer stärker in den Vordergrund tritt: Wo sollen sich Menschen mit Migrationshintergrund im Kampf um Gleichberechtigung engagagieren – in NGOs der Migrant:innen, in Parteien und Gewerkschaften? Ich denke, hier gibt es nicht DIE Antwort. Es gibt viele, die sich mehrfach engagieren, was aber nicht sehr leicht ist. Ein zusätzliches Problem ist, dass die türkeistämmigen noch immer keine starke Interessenvertretung aufbauen konnten (und wahrscheinlich in absehbarer Zeit auch nicht werden). Letztlich wird dies eine persönliche Entscheidung bleiben.
In diesem Kontext möchte ich noch auf eine oft diskutierte Frage eingehen: Wir sollten mit unseren Ansprüchen an Politiker:innen mit Türkeihintergrund vorsichtig sein. Sie sind ja in den Parteien/Funktionen nicht als Vertreter:innen der Migrant:innen, sondern weil sie die Politik der jeweiligen Partei (im allgemeinen) für erstrebenswert erachtet haben. Dies bedeutet allerdings auch nicht, dass wir das bei Politiker:innen mit Migrationshintergrund manchmal zu beobachten „päpstlicher als der Papst“ Verhalten in der sogenannten Integrationpolitik stillschweigend hinnehmen sollen.