Schon wieder stehen wir ratlos vor einer Statistik. Das Ergebnis glauben wir nicht. Statistiken mögen wir eigentlich nicht, aber gleichzeitig geht eine merkwürdige Faszination davon aus. Sind es doch vermeintlich „harte Fakten“ oder die „ungeschminkte Wahrheit“. In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen wie leicht aber wirkungsvoll mit Statistiken falsche Bilder erzeugt werden. Und trotzdem, wir brauchen Statistiken um die Welt besser zu verstehen.
Die Beispiele sind aus dem Bereich der Überheblichkeit deutscher Nationalisten gewählt. Ich bin überzeugt, dass man sie auch in vielen anderen großen Ländern bei deren Nationalisten finden kann. Die dabei analysierten Tricks finden sie ähnlich in vielen weiteren Bereichen von Politik und Wirtschaft, wie Jens Korff und ich in unseren Büchern „Lügen mit Zahlen“ und „Echt gelogen“ dargestellt haben.
Beginnen wir mit zwei Beispielen deutscher Überheblichkeit
Lüge 1: Deutschland tut am meisten für den Euro
»Armes Deutschland! Wir plagen uns ab, schaffen und schaffen jeden Tag, und dann kommen die neidischen Nachbarn an und nehmen uns die Hälfte unseres Wohlstands weg.« Diese Klage ist uralt. Bereits im 19. Jahrhundert fühlte sich der deutsche Michel erniedrigt und beleidigt, weil er keinen »Platz an der Sonne«, sprich keine fetten Kolonien in Afrika, Asien oder Amerika abbekommen hatte. In zeitgenössisches Deutsch übersetzt, lautet die Klage: »Deutschland ist der Zahlmeister Europas.« Wir zahlen angeblich immer nur ein, und die anderen heben ab. Aber stimmt das eigentlich? Wenn die Zahlmeister-Parole überhaupt einmal mit Fakten belegt wird, ist eine Tabelle nicht weit. Sie zeigt zum Beispiel die Euro-Länder, die in den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM (etwas irreführend auch »Euro-Rettungsschirm« genannt) einzahlen. In der Tabelle nimmt Deutschland seinen Lieblingsplatz als Meister der Eurozone ein.
Einzahler in den »Euro-Rettungsschirm« ESM (absolut)
Rang | Land | Eingezahlt in Mrd. Euro |
1 | Deutschland | 21,7 |
2 | Frankreich | 16,3 |
3 | Italien | 14,3 |
4 | Spanien | 9,5 |
5 | Niederlande | 4,6 |
In absoluten Zahlen gerechnet, zahlt Deutschland am meisten ein.
(Zusätzlich übernimmt jedes Land eine Bürgschaft in Höhe des 7,75 fachen der Einzahlungen.)
Doch die Tabelle hat einen Haken. Dass ein großes Auto einen großen Wohnwagen ziehen kann, ein kleines Auto aber nur einen kleinen, leuchtet jedem ein. Genauso ist es hier: Ein großes Land kann viel mehr einzahlen als ein kleines, ohne dadurch stärker belastet zu werden. Um ein realistisches Bild von der Lastenverteilung zu bekommen, schauen wir uns die Zahlungen pro Einwohner an. Und schon sieht die Tabelle ganz anders aus.
Einzahler in den »Euro-Rettungsschirm« ESM (relativ pro Kopf)
Rang | Land | Eingezahlt in Euro pro Kopf |
1 | Luxemburg | 364 |
2 | Irland | 277 |
3 | Niederlande | 272 |
4 | Deutschland | 269 |
5 | Finnland | 264 |
Pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, liegt Deutschland auf Platz 4 (Bevölkerungstand 31. 12. 2014).
Deutschland steht diesmal, sportlich ausgedrückt, knapp neben dem Siegertreppchen. Aber warum haben wir als Maßstab die Bevölkerungsgröße genommen? Nehmen wir für Einzahlungen – als Maßstab gut geeignet – die Wirtschaftskraft (gemessen im Bruttoinlandsprodukt) so verbleibt Deutschland nur noch ein Platz im hinteren Mittelfeld. Von den 19 Eurostaaten belegt Deutschland dann Platz 12. Deutschlands Scheinrolle als »Zahlmeister Europas« kommt also vor allem durch die schiere Größe des Staates zustande. Betrachten wir jedoch das, was der einzelne Bürger an Belastung mitträgt, sind Luxemburg, Irland und die Niederlande die wahren »Zahlmeister«.
Lüge 2: Deutschland nimmt die meisten Flüchtlinge auf
Wenn schon nicht Zahlmeister, so hat Deutschland zumindest, das weiß in Deutschland fast jedes Kind, die meisten Flüchtlinge in der Fluchtwelle 2015/16 aufgenommen. Wirklich? Die absoluten Zahlen sprechen in der Tat dafür, dass das deutsche Boot in Europa die meisten Schiffbrüchigen trägt. Hier die Zahlen der Asylbewerber, die in 2015 und im 1. Halbjahr 2016 in Deutschland und anderen europäischen Ländern Asylanträge gestellt haben.
Anzahl der Asylbewerber in EU-Ländern 2015/16 (absolut)
Rang | EU-Land | Asylbewerber 2015 |
und 1. Hj. 2016 | ||
1 | Deutschland | 846.955 |
2 | Ungarn | 199.625 |
3 | Schweden | 177.895 |
4 | Österreich | 113.760 |
5 | Italien | 134.100 |
6 | Frankreich | 115.570 |
Deutschland auf Platz 1 bei der Aufnahme von Asylbewerbern in der EU. (Gezählt wurden Antragssteller inklusive Angehörige) Datenquelle: Eurostat
Doch Moment, wo sind denn die 1,1 Millionen Flüchtlinge geblieben, von denen 2015 immer die Rede war? Tatsächlich verzeichnete das Erfassungssystem EASY für 2015 in Deutschland 1,09 Millionen »registrierte Asylbewerber«. Zu diesen Zahlen schrieb das Bundesinnenministerium selber im Januar 2016: »Bei den EASY-Zahlen sind Fehl- und Doppelerfassungen wegen der zu diesem Zeitpunkt noch fehlenden erkennungsdienstlichen Behandlung und der fehlenden Erfassung der persönlichen Daten nicht ausgeschlossen.« Mit klareren Worten: Deutschlands Innenministerium wollte eine möglichst hohe Zahl ausweisen. Wohl wissend, dass viele Flüchtlinge im krisenbedingten Durcheinander doppelt erfasst wurden, zum Beispiel zunächst an den bayerischen Grenzen und dann noch einmal bei der Erstaufnahme in Köln, Berlin oder Hamburg. Viele sind aus Deutschland weitergereist nach Schweden, Großbritannien und in andere Länder, ohne dass sie aus dem System gestrichen wurden. Deshalb kann erst aus den in Deutschland gestellten Asylanträgen definitiv geschlossen werden, dass die betreffenden Flüchtlinge wirklich im Lande sind.
Andererseits konnte wegen des großen Andrangs 2015 und des begrenzten Personals der Aufnahmestellen nur etwa die Hälfte der eingetroffenen Flüchtlinge überhaupt Asylanträge stellen. Deshalb haben wir die Asylanträge des ersten Halbjahrs 2016 mit hinzugerechnet, um in etwa die Fluchtwelle des Jahres 2015 abzubilden. Die EU-Zahl von knapp 847 000 (nach neueren deutschen Angaben 894 000) liegt deutlich unter der so häufig publizierten Zahl von 1,1 Millionen Auch hier gilt: Ein großes Schiff kann mehr Schiffbrüchige aufnehmen als ein kleines. Deshalb müssen wir uns wieder eine relative Zahl anschauen: Wie viele Flüchtlinge wurden pro 1000 Einwohner aufgenommen?
Anzahl der Asylbewerber in EU-Ländern (relativ pro 1000 Einwohner)
Rang | EU-Land | Asylbewerber |
pro 1000 Einwohner | ||
(2015 + 1. Hj. 2016) | ||
1 | Ungarn | 19,9 |
2 | Schweden | 17,3 |
3 | Österreich | 12,8 |
4 | Deutschland | 9,9 |
5 | Finnland | 6,5 |
6 | Luxemburg | 5,8 |
7 | Malta | 5,8 |
8 | Dänemark | 4,4 |
EU-Durchschnitt | 3,6 |
Pro 1000 Einwohner gerechnet, liegt Deutschland auf Platz 4 in der EU Datenquellen: Eurostat, Pro Asyl
Deutschland steht also auch in dieser Reihe knapp neben dem Siegertreppchen – genau wie beim Rennen um den Zahlmeistertitel. Und bezogen auf die Wirtschaftskraft ist Deutschland sogar wieder unterdurchschnittlich.
Sicherlich haben Sie schon die Einschränkung auf Flüchtlinge in die EU bemerkt. Dazu gleich; aber zuerst einmal zur Rolle Ungarns als angeblichem Flüchtlingsretter. Dabei haben wir doch alle die Bilder von Stacheldraht und bewaffneten Kräften zur Abwehr der Flüchtlinge vor Augen. In Ungarn hat man die Fluchtwelle perfide benutzt, um die dort lebenden Sintis und Roma zu diskriminieren und bei einer Einigung auf EU-weite Verteilung der Flüchtlinge sogar abschieben zu können. Der Zahl ist also nicht zu glauben.
In manchen Ländern außerhalb Europas sieht es ganz anders aus. Nach groben Schätzungen des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR gab es in der Türkei schon 2014 rund 21, in Jordanien 87 und im Libanon sogar 232 Flüchtlinge pro 1000 Einwohner (zum Vergleich Deutschland mit 9,9 in anderthalb Jahren).Heute sind es zumindest in der Türkei noch deutlich mehr. Es ist ein Armutszeugnis für deutsche Medien, dass sie so selten über die Verhältnisse außerhalb der EU berichten und stattdessen die angeblichen Heldentaten Deutschlands loben.
Und beschämend ist, wenn sogar weltweit behauptet wird: „Fluchtziel Deutschland – Kein Industriestaat nimmt mehr Menschen auf“, wie es t-online.de im Juni 2017 getan hat. Damit werden die türkischen Flüchtlingszahlen nicht berücksichtigt oder der Türkei der Status des Industriestaates aberkannt. Hier werden scheinbar objektive Flüchtlingszahlen zu plumper nationalistischer Überheblichkeit missbraucht.
Lüge 3: Die Deutschen sind von kriminellen Ausländern bedroht
Wenn man nicht so genau hinguckt glaubt man, dass es nur unwesentlich mehr deutsche Tatverdächtige als türkische gibt. Und so ist es mir tatsächlich ergangen, da die Grafik klein und das Zeitungspapier gräulich war. Ein kurzer Blick auf die ebenfalls undeutlichen Zahlen über den Balken schien den geringen Unterschied zu bestätigen. Bei Deutschland stand 3…, bei Türkei 2…, also nur knapp mehr. Da ich wusste, dass das so nicht stimmen konnte, habe ich genauer geguckt und den Riss im deutschen Balken erkannt, wusste jetzt, dass grafisch bei den Deutschen irgendetwas fehlte. Und es war nicht irgendetwas. Etwa 90 Prozent der deutschen Tatverdächtigen hat der Balken in der Grafik verschluckt. Eine Frechheit.
Wenn Deutsche also Angst vor Kriminalität haben, müssen sie sich zuerst vor Ihren Landsleuten fürchten. Diese bilden mit ca. 80 Prozent die deutliche Mehrheit. Das besagt natürlich nicht, dass der Anteil der kriminellen Deutschen größer als der der anderen ist. Dazu bedarf es genauerer Betrachtungen, die wir in „Lügen mit Zahlen“ auf den Seiten 63 bis 66 dargestellt haben. Dort haben wir auch erläutert, warum wir nur die Statistik der Tatverdächtigen und nicht der Täter betrachtet haben.
Auf diesen „ausländerfreundlichen“ Text haben wir böse Zuschriften von Nationalisten erhalten. Deshalb zum Schluss dieses Abschnittes eine nette und vieles erklärende Episode zur AfD im saarländischen Parlament. Wissend, dass die allgemeine Kriminalitätsstatistik nicht für Hetze gegen Ausländer genutzt werden kann, hat sich die AfD auf die Zahlen zu Messerdelikten gestürzt. Dumm nur, dass auch da die Mehrheit der Tatverdächtigen Deutsche waren. Aber jetzt kam die scheinbar rettende Idee. Da waren doch bestimmt viele Migranten mit deutschem Pass dabei. Also wurde von der AfD nach den häufigsten Vornamen der deutschen Verdächtigen gefragt, um deren Wurzel zu „enttarnen“. Gerne hätte ich die Gesichter der AfDler beim Studium des Ergebnisses gesehen. Platz 1: Michael (24 Fälle), Platz 2: Daniel (22 Fälle), gefolgt von Andreas (20), Sascha (15), Thomas (14), Christian, Kevin, Manuel, Patrick (je 13), David, Jens (je zwölf), Justin und Sven (je elf). Von einer Meinungsänderung bei den AfDlern aufgrund der Fakten konnte nicht berichtet werden. Peinlich für die Ausländerfeinde, ein Journalist bekam Wind davon und berichtete darüber in der Saarbrücker Zeitung.
Lüge 4: Corona wütet in den USA am schlimmsten
Geübt durch die obigen Beispiele erkennen Sie den Fehler dieser Überschrift wahrscheinlich sofort. Es werden schon wieder die unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen der Länder unterschlagen. So wird die absolute Zahl der Fälle (positiv getestet oder gestorben) der USA mit denen von Luxemburg verglichen, bei gut 500 mal größerer Bevölkerung. Ein oft vorgetragener Blödsinn. Bei den Toten ist die USA in der wirklichen Weltrangliste auf Rang 10, bei den positiv Getesteten sogar nur auf Platz 16, was allerdings auch an den vergleichsweise wenigen Tests liegt. Weltmeister unter den größeren Ländern sind bei den Toten die Vereinigten Arabischen Emirate und bei den Getesteten Bahrain, aber auch europäische Länder wie Luxemburg und Belgien liegen vor dem angeblichen Weltmeister USA.
(Datenquelle: www.worldometers.info/coronavirus/)
Natürlich brauchen wir Statistiken. Beispielsweise ganz simpel die Geburtenzahlen für die Planung von KiTas, Schulen und Lehrerbedarf. Genauso zur Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft. In diesem Artikel wollte ich nur vor blindem „Glauben“ an Statistiken warnen. Auch mit Zahlen lässt sich trefflich lügen. Fragen Sie deshalb immer, welche Interessen hinter den Zahlen stehen können und Sie werden vieles selber aufdecken können.