Nachdem angesichts der Verwerfungen durch die Corona-Pandemie vor allem im Bereich des sogenannten ‚Bildungswesen‘ – das in Wirklichkeit mehrheitlich ein Bildungs- und damit Politisierungsverhinderungswesen und zur Produktion eines notwendigen Qualifikationssystems der Ware ‚Arbeitskraft‘ bestimmt ist – von manchen herrschaftlich Interessierten und vielen einfach als unbedarft Erscheinenden – vor allem im Journalismus – von der Notwendigkeit eines „Digitalisierungsschubes‘ geschwafelt wurde, scheint es an der Zeit, sich darüber klar zu werden, worum es hier und was im Kontext von Digitalisierungsprozessen vor sich geht.
Den Ausgangspunkt aller Analysen bildet die Marxsche Analyse der kapitalistischen Formbestimmtheit technischer Entwicklungen im Kontext der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit in der Maschinerie. Darum geht es auch bei der Analyse der Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien. Es geht mithin um Profite und Profitmaximierung in kapitalistischen Produktions- wie Reproduktionsprozessen und nicht um die Erleichterung menschlicher Nöte und Arbeit (erst einmal vor allem im Feld der Arbeitszeitverkürzung). Das hat Marx nicht daran gehindert, seinen Bezugspunkt technologischer Entwicklungen jenseits des Kapitalismus darin zu sehen, dass der Mensch zum Wächter und Regulator des Produktionsprozesses, also um die Arbeitsnöte erleichtert werden solle – so in den „Grundrissen“ im berühmten „Maschinerie-Fragment“.
Vor diesem Hintergrund gilt es eine politisch-pädagogische Herangehensweise in Bezug auf das Verständnis technischer Entwicklungen in gesellschaftlichen Kontexten zu finden. Anzuschließen ist hier erst einmal an Ian Hutchby und Jo Moran-Ellis, die bereits vor 20 Jahren in dem von ihnen edierten Band „Children, Technology and Culture. The impacts of technologies in children’s everyday lives“ (2001) deutlich herausgestellt haben, um was es beim Thema geht: Gegen eine gesellschaftsferne Analyse technischer Entwicklungen gerichtet steht zunächst die Frage im Vordergrund, wie Kinder und Technologie(n) sich zueinander verhalten, welche Ein- und Ansichten Kinder in Prozessen von Bildung und Erziehung wie in der Auseinandersetzung mit Technologie(n) sich erarbeiten oder sich ausgesetzt sehen. Zudem mag als Devise gelten, was Shirley Steinberg und Joe Kincheloe ebenfalls schon vor 20 Jahren in “Kinderculture. The Corporate Construction of Childhood” (1997) geschreeiben haben: “We cannot protect our children from the knowledge of the world that hyperreality has made available to them …. We must develop education, parenting skills, and social institutions that will address this cultural revolution in a way that teaches our children to make sense of the chaos of information in hyperreality” (1997: 31). Und sie entwerfen als Aufgabenstellung “How do the power dynamics embedded in kinderculture produce pleasure and pain in the daily lives of children? How do critically grounded parents, teachers, child psychologists, and childhood professionals in general gain a view of children that accounts for the effect of popular culture in their self-images and worldviews?” (1997: 19).
Bedenket man, was das heißt, wird insbesondere spannend, wie äußerst vermögende und einsichtsvolle Eltern aus dem Silicon Valley – also dem Ort, wo die Imperien des ‚Bösen‘ sich versammeln – sich die digitale Erziehung ihrer Kinder in aller Klarheit vorstellen:
“Children are tech addicts – and schools are the pushers. When Silicon Valley bosses send their children to screen-free schools, why do we believe the claims of the ‘ed tech’ industry?”, titelte der “Guardian” (26.1.2018), eine der wenigen linksliberalen, der Aufklärungstradition verpflichteten britischen Zeitungen, und begann den Text mit dem Absatz: “As a culture, we are finally waking up to the dark side of new technology. ‘The internet is broken’[*], declares the current issue of Wired, the tech insiders’ bible. Last month Rick Webb, an early digital investor, posted a blog titled ‘My internet mea culpa’[**]. ‘I was wrong,’ he wrote. ‘We all were.’ He called on the architects of the web to admit that new technology had brought more harm than good” (Hervorhebung HS).
Damit erweitert und verlängert diese Zeitung eine Berichterstattung, die bereits Jahre vorher – jenseits von allem, was „Katastrophismus“ zu nennen wäre – Problemlagen für Gesellschaft und – nicht nur – Kinder angesichts von Digitalisierungsprozessen betonte: „How Silicon Valley’s parents keep their children safe online. From porn and bullying to being groomed by strangers, California’s most qualified parents are taking a cautious approach to their kids’ internet access. Even in Silicon Valley[***], parents struggle to navigate the online risks and opportunities for their children. The internet might be the first place to turn for homework and entertainment, but how much should parents intervene to protect their children from adult content, cyberbullying and being contacted by dangerous strangers?” (Guardian v. 2.3.2016).[1]
Wesentlich ist meiner Einschätzung nach für die hier angesprochenen Problemlagen, dass sie jenseits des besonderen Bezuges auf die Lebenslage“ Kindheit“ allgemein – und in vielen Bereichen noch einmal verschärft – für alle Mitglieder bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaftsformationen gelten. Einen übergreifenden Zugriff auf die Thematik gestattet dabei die grundlegende und großformatige Studie von S. Zuboff (2019) – Prof. an der Harvard Business School -, deren Titelgebung bereits analytische Erkenntnisse und politische Positionierungen erkennen lässt, wenn es heißt „The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power“. Leitmotivisch besonders bedeutsam ist die immer wieder besonders herausgestellte heutige Bedeutung einer Verteidigung von „Humanismus“ oder dem „Menschen“ bzw. der ‚dem‘ Menschen zukommenden Eigenschaften wie Besonderungen.
In diese Verteidigungsrichtung zielen auch die Arbeiten von J. Lanier, die ebenso um Fragen der Ermöglichung einer humanen Existenz kreisen (s. auch die Bücher von 2014 + 2015), ihren Ausgang mit biografisch-systematischen Darstellungen zu Grundlegungen wie Hoffnungen im Rahmen der Entwicklung von menschliche Emanzipation ermöglichenden Prozessen in einer Informationsgesellschaft – mit dem Zentrum einer informationellen Selbstbestimmung – nehmen. Reale gesellschaftliche Entwicklungen, die diesen Hoffnungen entgegengesetzt sind, geben den Grund für Selbstreflexion und eine kritische gesellschaftliche Positionierung ab; sie finden miteinander vermittelt einen wichtigen Niederschlag im neuesten Buch Laniers, Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst (2019). Lanier, der zu den 300 wichtigsten Erfindern der menschlichen Geschichte gerechnet wird, der zudem im Silicon Valley arbeitet, ruft zum neusten Angriff auf das neue ‚Böse‘ in der Welt auf: Gegen jene Prozesse der Digitalisierung, deren Folgen wie deren Inkarnation, gegen jene, die sich als die großen Internetkonzerne (also die, die auch für Zuboff das ‚Imperium des Bösen‘ verkörpern) all dies zu Nutze – und damit zu viel Geld – machen.
Die zehn Kapitel des Bandes enthalten meiner Einschätzung nach eines der schärfsten Verdammungsurteile über das, was in der digitalen Welt vor sich geht; allerdings ohne dabei stehenzubleiben, da sie auch die Frage von Alternativen thematisieren. Sie machen in ihren klar gewählten Worten deutlich, worum es Lanier zu tun ist, worum es (nicht nur ihm) in diesem Kampf geht. Ihre Kapitelüberschriften (hier wörtlich wiedergegeben) verdeutlichen das: „Du verlierst deinen freien Willen; Social Media ist BUMMER; Social Media macht dich zum Arschloch; Social Media untergräbt die Wahrheit; Social Media macht das, was du sagst, bedeutungslos; Social Media tötet dein Mitgefühl; Social Media macht dich unglücklich; Social Media fördert prekäre Arbeitsverhältnisse; Social Media macht Politik unmöglich; Social Media haßt deine Seele“.
BUMMER, ein zentrales Wort in Laniers Darstellung, wird als Akronym eingeführt, um auf einen Blick das Problem, um das es auch Zuboff geht, auf den Punkt zu bringen: „Behaviors of Users Modified, and Made into an Empire for Rent“ (Lanier 2019: 43). Ein Beispiel mit Bezug auf den letzten US-Wahlkampf lautet: „BUMMER macht mehr Profit, wenn die Nutzer verärgert und voreingenommen, zerstritten und wütend sind – und das war ganz im Interesse der Russen. BUMMER ist eine Shiterzeugungsmaschine. Es verwandelt ehrliches soziales Engagement in zynischen Nihilismus. Es ist inhärent ein grausames, betrügerisches Spiel“ (Lanier 2019: 173).
Es geht Lanier um eine systematische Argumentation, um das, was von den Internetkonzernen in ihrem Kapital-Interesse inszeniert wie realisiert und in die Nutzer getrieben wird. Es geht um die Konsequenzen für Menschen und deren Befindlichkeit, um die Verfassung der Gesellschaft und die Verunmöglichung von sozialem Leben; es geht um Kapitalismus und darum, die Produktionsbedingungen gewaltiger Extraprofite aufzuschlüsseln. Im Zentrum steht dabei neben dem persönlichen Unglück, das durch die sogenannten sozialen, in Wirklichkeit aber asozialen Medien produziert wird, leitmotivisch das, was den Autor im Interesse eines qualifizierten Überlebens der Menschheit besonders stark interessiert, der Verfall von Demokratie, von demokratischem Leben, gesellschaftlichem Zusammenhalt.
Es geht um Manipulation menschlichen Handelns durch sich ihres Tun sehr bewusste Manipulatoren, um die Produktion negativer Emotionen mit der Folge der „Zersetzung der Menschheit“ (Lanier 2019: 33).[2] Es geht mithin um Manipulation von Bewusstsein, die Herstellung sozialen Drucks, um aus Menschen willenlose Geschöpfe zu machen, denen man auf verschiedenen Ebenen das verkaufen kann, was man verkaufen möchte – von Konsumartikeln bis politischen Einstellungen. Und das Schlimme ist, dass die meisten Menschen das mit sich machen lassen, scheinbar freiwillig.
Die Analyse ergibt: „In unserer BUMMER-Ära sind die Informationen, die bei den Leuten ankommen, das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen manipulativen Werbetreibenden und machtbesoffenen Technologiekonzernen, die irrsinnige, konstruierte Wettbewerbe um sozialen Status fabrizieren. Das führt dazu, dass es im gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess immer weniger Authentizität gibt, die uns helfen kann, zur Wahrheit zu finden“ (Lanier 2019: 89). Eine Konsequenz daraus hat er bereits im Untertitel seines Buches „Wem gehört die Zukunft?“ benannt: „Du bist nicht der Kunde der Internet-Konzerne, du bist ihr Produkt“ (Lanier 2014).
Lanier analysiert en Detail, wie diese Prozesse vor sich gehen, welche Folgen sie haben (sollen/können) und wessen Interessen das dient; er beschreibt auch, wie die Erfinder der für diese Prozesse notwendigen Techniken, die mehrheitlich aus alternativen Lebensformen kamen (Hippies), dort gelandet sind, wo sie sind – und sich de facto in einer „Zauberlehrlingsposition“ befinden.
Seine Lösung besteht in einem praktischen Änderungsinteresse der analysierten Situation, es liegt darin, zum einen alle aufzufordern, ihre Social Media Accounts sofort zu löschen (S. 36), und zum anderen sich darüber klar zu werden, dass man im Kontext digitaler Techniken oder Technologien für Dienste, die man nutzen möchte, zu zahlen hat; denn niemand bekommt etwas umsonst.[3]
All die, die nicht herrschaftlich und profitmäßig, sondern kinder- und bildungsbezogen argumentieren wollen, sollten also erst einmal sich selber bilden und lesen, was einsichtsvolle Menschen, die sich mit der Digitalisierung und deren Folgen für Individuen und Gesellschaften auskennen, schreiben, bevor sie vom notwendigen „Digitalisierungsschub‘ schwafeln.
[*] http://www.wired.co.uk/article/is-the-internet-broken-how-to-fix-it
[**] https://shift.newco.co/my-internet-mea-culpa-f3ba77ac3eed
[***] https://shift.newco.co/my-internet-mea-culpa-f3ba77ac3eed
[1] Empfohlen wird, die ganzen Artikel zu lesen; dazu ist das Internet durchaus brauchbar!Schon J. Weizenbaum, einer der ‚Erfinder‘ von computer science und einer der professoralen Dissidenten vom MIT in Boston (wo mit N. Chomsky ein weiterer Kritiker der herrschenden Gesellschafts- und Machtverhältnisse beheimatet ist), hatte gefordert, Computer aus den Schulen zu werfen, damit Kinder vernünftig Lesen, Schreiben, Rechnen, damit – selbständig – Denken lernen könnten (Computermacht und Gesellschaft 2001: 81-87).
[2] Dies reicht von den bekannten erschreckenden Manipulationen bei Cambridge Analytica über die Verfolgungspolitik der USA (im Übrigen auch unter Herrn Obama) bis zu der in China (bis hin zum social scoring).
[3] Der Text stellt eine Zusammenfassung zweier längerer Texte dar – Jo Moran-Ellis/Heinz Sünker: Kinder und Technik. Aneignungsprozesse, Herrschaftsinteressen und Affordanzen und Heinz Sünker: Digitalisierung, Technik, Gesellschaftsform und Bildung. Zur Produktion von Lemmingen oder einer Bildung von Demokraten -, die im Handbuch Kinder, Technik und das Digitale hg. v. R. Braches-Chyrek/Ch. Röhner/J. Moran-Ellis/H. Sünker im Herbst im Barbra Budrich Verlag erscheinen.