„Nemesis wacht, die Göttin des Maßes, nicht der
Rache. Alle, die die Grenzen überschreiten,
werden von ihr unerbittlich bestraft.“
Albert Camus, Helenas Exil
Was verbindet die Explosion des Ammoniumnitratlagers im Beiruter Hafen am 4. August 2020 und die Corona-Pandemie? Für beide steht sinnbildlich eine Druckwelle, die Tod, Leid und Armut erzeugt. Im Falle Beiruts ist es in der Tat eine gigantische Druckwelle der Explosion von Ammoniumnitrat, aller Wahrscheinlichkeit ausgelöst durch eine vorherige kleinere Detonation von pyrotechnischen Artikeln. Sie bringt Tod, Verwundung, zerrissene Familien und Obdachlosigkeit für ca. 250 Tausend Menschen. Jahrelang wurde dort ungesichert und wohl illegal eine Substanz gelagert, die zu Düngemittel oder Sprengstoff weiterverarbeitet werden kann. Aufgrund der unübersichtlichen politischen Lage in diesem Land mit einer vorherrschenden Korruption werden die Verantwortlichen und ihre geschmierten Mitwisser in der Bürokratie wohl nie wirklich ausfindig gemacht werden können. Im Falle der Corona-Pandemie handelt es sich um eine Infektionswelle, die sich von ihrem Ausgangspunkt, einem Markt in der Stadt Wuhan in Zentralchina, wie eine Druckwelle über den gesamten Globus wälzt. Neben fast 20 Millionen bestätigt Infizierten und an die 800 Tausend Toten (Stand Mitte August 2020) bringt Corona Verzweiflung, soziale wie gesellschaftliche Spannungen und wirtschaftlich eine verheerende Lage besonders für die Armen in dieser Welt. Ausgangspunkt der Infektion war aller Voraussicht nach eine unverantwortliche Nähe von Mensch und Wildtieren auf dem Markt in Wuhan.
Was verbindet die Themen Beirut und Corona noch über das Sinnbild der Druckwelle hinaus? In beiden Fällen liegt ein völlig unverantwortliches Handeln von Menschen vor. Einmal geht es um den Eigennutz und die Bereicherung durch kriminelle Machenschaften auf Kosten einer bekannten und damit absehbaren Gefahr für Tausende von Menschen. Das andere Mal dringt der Mensch wiederum aus Eigennutz und Bereicherung in die letzten Rückzugsgebiete von Wildtieren vor und beraubt diese zusätzlich ihres Lebens zwecks Verkauf und Verzehr. In einem ersten Schluss könnte in beiden Fällen davon ausgegangen werden, dass sich das unverantwortliche Handeln der Menschen rächt. Als würde Nemesis, die griechische Göttin, eine verallgemeinernde Rache an auch unschuldigen Menschen nehmen. Aber diese Einschätzung hätte etwas Grausames, Rohes und Erbarmungsloses an sich. Vielleicht lässt sich auf anderem Wege daraus lernen: Wenn wir Nemesis nicht als Göttin der Rache verstehen, sondern als die des richtigen Maßes! Beirut und Corona dürfen dann als Anlass für ein Nachdenken über das menschliche Handeln in der gegenwärtigen Zeit verstanden werden. Hierfür sollten wir kurz innehalten mit dem Ziel zu einer Rückkehr zu einem gesunden Maß der Dinge. Denn nur dieses Maß gewährt Frieden mit der Natur und unter den Menschen.
Mit Bezug auf das Denken Albert Camus`, eines besonders herausragenden Literaten und politischen wie philosophischen Essayisten der 1930er bis Ende der 1950er Jahre soll dieses Innehalten über Nemesis formuliert werden. Aber warum könnte es heute überhaupt noch interessant sein, sich mit seinem Denken zu beschäftigen? Zuerst wäre da an seinen Roman Die Pest zu denken, der wie ein Spiegel für das Verhalten der Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie gelesen werden kann. Aber das ist nicht der einzige Grund. Folgt man den Analysen des Umweltwissenschaftlers Ernst Ulrich von Weizsäcker und weiterer Mitglieder des Club of Rome in dem Bericht zu dessen 50-jährigen Bestehen, so begann die rasante Entwicklung der globalen Umweltzerstörung mit einem exponentiellen Schub erst Anfang der 1950er Jahre. Eine weltweite industrielle Entwicklung und die Ausbreitung des Menschen und seiner technisch-instrumentellen Einflusssphäre in die abgelegensten Bereiche der Erde schufen in einer expansiven Weise das, was wir heute das Anthropozän, das Zeitalter der unerbittlichen Regentschaft des Menschen auf der Erde, nennen. Und das Anthropozän ist unmittelbar verbunden mit westlich geprägtem wirtschaftlichen Profitstreben, Bereicherung und Bemächtigung. Die Ausbeutung der Natur geht Hand in Hand mit der Ausbeutung der Menschen. Die Folgen sind Kriege, Bürgerkriege, neue Varianten des Kolonialismus und Rassismus. Die Entwicklung des Anthropozän hängt eng zusammen mit der Geschichte des Öls, der Energie generell und der Chemie. Sie wirkt als eine Ursache der Destabilisierung im Nahen Osten bis in den Libanon mit den Einflussnahmen all jener gewalttätigen Akteure rund um das Öl und die Chemie mit seinen Produktions- und Verwertungswegen. Zur Erinnerung: Ammoniumnitrat ist der Ausgangsstoff für Düngemittel und Sprengstoff!
Das Anthropozän steht also für eine umfassende verheerende, gewalttätige Regentschaft des Menschen auf dieser Erde, genauer genommen der Regentschaft der Menschen mit westlich geprägtem Lebensstil. Dieser egozentrische und auf das stetige Wachstum des eigenen Wohlstands ausgerichtete Lebensstil führte und führt zur Ausbeutung der Natur rund um den Globus und zur Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen. Die Menschen der westlichen Sphäre wurden zu Konsumenten abgerichtet. Der Rest der Welt wurde geknechtet als Erfüllungsgehilfe für den Rausch des Kapitals in den Wohlstandsmärkten der Nationen Nordamerikas und Westeuropas. Im Wettstreit der Systeme während des Kalten Krieges taten die sozialistischen Staatdiktaturen der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten mit ihrer planwirtschaftlichen Ausbeutung das Übrige dazu. Freilich, nach 1990 schien im vermeintlichen Siegeszug der liberalen Demokratie dem Wachstum aufgrund von Ausbeutung keinerlei Grenzen mehr gesetzt.
Auf diesem Wege hat es nur ca. 60 Jahre gebraucht, die Weltgesellschaft in das Desaster eines globalen Weltbürgerkriegs und die Erde an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und eventuellen unumkehrbaren Zerstörung ihres Klimas, der Ozeane und der Landschaften mit ihrer Vielfalt der lebendigen Natur zu führen. Und genau vor dieser Zerstörung der Welt mittels einer technisch-instrumentellen Vernunft und der damit verbundenen Unterwerfung der Natur und der Menschen, ja vor dieser absehbaren Raserei hat Camus schon vor der eintretenden rasanten Entwicklung Mitte des letzten Jahrhunderts gewarnt. Sein mittelmeerisches Denken des Maßes, versinnbildlicht im Mythos der Nemesis, durchstreifte sein Wirken von Beginn an. Es stellte den dritten Zyklus seiner Schaffensperiode im Anschluss an den Mythos des Sisyphos, der für das Absurde steht, und den des Prometheus, der die Revolte – das Aufbegehren – verkörpert, dar. In sich stringent gehören diese Zyklen in einen gemeinsamen Blickpunkt. So notiert Camus 1950 in seinem Tagebuch: „I. Der Mythos von Sisyphos (Absurdes). – II. Der Mythos von Prometheus (Revolte). – III: Der Mythos von Nemesis.“ Die Logik lautet: Das Absurde ruft im Menschen die Revolte hervor, welche ihr Maß finden muss. Zeitlich gesehen arbeitete Camus sie nacheinander ab. Sein Unfalltod am 4. Januar 1960 brachte ihn um die Möglichkeit, den Mythos der Nemesis und das Denken des Maßes entsprechend der beiden anderen Zyklen auszuformulieren.
Camus war Literat und Philosoph; aber er war auch ein politischer Schriftsteller, der sich stets in die aktuellen politischen Debatten einmischte: vom Kampf in der Résistance gegen Nazideutschland im zweiten Weltkrieg bis hin zum Algerienkrieg. Was könnte er uns heute mit Blick das Anthropozän und unsere Verantwortung mit auf den Weg geben? Wahrscheinlich würde er mit Sisyphos beginnen, und darauf hinweisen, dass auch wir „den Wein des Absurden“ zu trinken und „das Brot der Gleichgültigkeit“ zu essen haben. Doch mit Prometheus könnte er darauf hinweisen, dass unsere Freiheit in der Auflehnung, der Revolte besteht. Und diese Revolte verbindet in Solidarität. „Ich empöre mich, also sind wir!“, schreibt er in Der Mensch in der Revolte. Hier beginnt die Saat der Nemesis, das Denken des Maßes. In der gemeinsamen Empörung über das Anthropozän und die mit ihm verbundenen Träume der instrumentellen Vernunft, der Raserei der Maschinen, der Büros zur Optimierung der wirtschaftlichen Verwertung der Natur und zur Abrichtung der Menschheit als Produktionsgehilfen und Konsumenten. „Retten, was noch zu retten ist, um die Zukunft überhaupt möglich zu machen, das ist das gewaltige Motiv; der glühende Wunsch, das Opfer, das nötig ist“, schreibt Camus schon 1946 vor dem Hintergrund des Schreckens des Zweiten Weltkriegs – aber eben auch schon mit Blick auf weitere Maßlosigkeiten – in seinen Gedanken zu einer neuen Weltordnung in Weder Opfer noch Henker. Und in Der Mensch in der Revolte führt er 1951 aus: „Nemesis, die Göttin des Maßes, verderblich den Maßlosen, war das Symbol der Grenze. Ein Denken, das die heutigen Widersprüche der Revolte einbeziehen will, müsste seine Inspiration bei dieser Göttin holen.“ Nemesis, vom Wortstamm her bedeutet dies die Zuteilung des Gebührenden, versteht Camus als Wächterin des Maßes und des Ausgleichs. Ihre „Methode ist die Aufrichtigkeit“, notiert Camus mit Bezug auf die Haltung und das Handeln zu Beginn des Jahres 1956 in seinem Tagebuch. Mit Nemesis verbindet Camus das mittelmeerische Denken. Dies ist ein Denken des Mittags, der Mitte. Man stelle sich das Mittagslicht an einem Ort am Mittelmeer vor: das Spiegeln des Sonnenlichtes in den Wellen des Meeres, ein Bild für das Gleichgewicht zwischen den Elementen, in welchem der Mensch wohnt. Dieses Wohnen steht für die Beachtung der Grenzen, die die Ordnung des Hauses (Oikos) der Natur setzt, für eine Kultur im Einklang mit diesen Grenzen, der ein zivilisatorischer Fortschritt auf Kosten der Natur und des Menschen fremd ist. Dieses Denken der Mitte sollte seinen Widerhall finden im Lebensstil, in der Lebensweise der Menschen. Schon 1946 in Weder Opfer noch Henker fordert Camus zu einer Haltung und einem Lebensstil auf, die das Zugrunderichten und Ausbeuten der Erde sowie den Krieg zwischen Menschen und Nationen verhindern. Die „industrielle Maßlosigkeit“, so Camus in Der Mensch in der Revolte, bedient sich einer wahnsinnig gewordenen instrumentellen Vernunft, die Zerstörung und Krieg bringt. Die Auswüchse dieser Raserei erkennen wir in den Folgen des Anthropozän: der Klimawandel auch mit seinen verheerenden Folgen für Flucht und Migration, abnehmende Biodiversität und die zahllosen Kriege, vor allem Bürgerkriege weltweit.
Können Beirut und Corona zu einem Innehalten und damit zu einer Rückkehr zu einem gesunden Maß der Dinge führen? Oder ist der Traum einer friedlichen Welt für immer ausgeträumt?
Die Chancen für einen Sinneswandel stehen vielleicht nicht gänzlich schlecht, besonders mit Blick auf das Engagement gerade der jüngeren Generationen. „Wir sind dran. Was wir tun müssen, wenn wir bleiben wollen“, so lautet der Titel des schon genannten, neuen Berichts an den Club of Rome. Der Titel macht etwas süffisant deutlich, worum es heute geht. In dem Bericht lassen sich fundierte Analysen mit entsprechenden Vorschlägen finden. Es ist immer etwas verrückt, gegen den Lauf der Dinge und die Macht der wirklichen Regenten aufzubegehren. Aber unsere Empörung führt zu einer Solidarität in der Widerständigkeit gegen eine komplette Ohnmacht. Das mag närrisch klingen. Doch wie schrieb schon ein Inspirator von Camus, Blaise Pascal, im 17en Jahrhundert: „Es tut den Menschen so sehr Not, närrisch zu sein, dass es hieße, auf eine andere Art von Narrheit närrisch zu sein, wenn sie nicht närrisch wären.“ Wir müssen genau jene Narren sein, die die gewohnten Torheiten durchbrechen. Und mit Camus lässt sich in Weder Opfer noch Henker dem noch weiter folgen: „Aber ich war immer der Ansicht, wenn ein Mensch, der auf menschliche Verhältnisse hofft, ein Verrückter sei, so sei jener, der an den Ereignissen verzweifelt, ein Feigling.“ Narr oder Feigling, wer wollen wir sein?
Und es geht um nichts Geringeres als einen wirklichen Frieden mit unserer Erde und unter den Menschen! Unsere Haltung und unser Handeln beruhen auf der Verantwortung für die Schönheit dieser Erde, diesem in den unendlichen Weiten von 100 Milliarden Galaxien wohl einzigartigen Planeten als Wohnstätte des – auch menschlichen – Lebens und des Glücks.