In der Bundesrepublik sind die Bildungschancen ähnlich ungleich verteilt wie die Infektionsrisiken bei Covid-19. In beiden Fällen spielen die Klassenlage bzw. die soziale Herkunft und der familiäre Hintergrund von (Schul-)Kindern eine Hauptrolle. Zu fragen ist deshalb, ob ein Grund für die sozioökonomische Polarisierung in einer parallel dazu wachsenden Bildungsungleichheit und kulturellen Defiziten der Unterschichtangehörigen liegt, anders gesagt: ob sich die Klassenspaltung der Gesellschaft durch mehr oder eine bessere (Schul-)Bildung für alle überwinden bzw. bewältigen lässt, wie verschiedentlich zu hören ist.
„Bildungsarmut“ – ein zweifelhafter Begriff
Obwohl es zum Problem der Bildungsungleichheit immer mehr Veröffentlichungen gibt, rücken sie eher das Thema „Bildungsarmut“ ins Zentrum. Dieser missverständliche und zumindest mehrdeutige Begriff wurde von Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, kurz vor der Jahrtausendwende in die deutsche Fachdebatte eingeführt. Er verweist zwar auf die soziale Determiniertheit von Bildungsdefiziten und markiert diese auch in einem bestimmten Maß als gesellschaftlich inakzeptabel, trägt aber – vermutlich ungewollt – zur Reduktion des Armutsproblems auf seine kulturelle Dimension bei.
Zweifellos verhindern Bildungsdefizite vielfach, dass junge Menschen auf einem flexibilisierten Arbeitsmarkt sofort Fuß fassen. Auch führt die Armut von Familien häufig dazu, dass deren Kinder keine weiterführende Schule besuchen oder sie ohne Abschlusszeugnis wieder verlassen. Armut in der Herkunftsfamilie zieht bereits in der Sekundarstufe oftmals Bildungsdefizite der davon betroffenen Kinder nach sich. Der umgekehrte Effekt ist hingegen kaum signifikant: Ein schlechter oder fehlender Schulabschluss verringert zwar die Erwerbschancen und erhöht das Arbeitslosigkeitsrisiko, wirkt sich aber kaum nachteilig auf den Wohlstand einer Person aus, wenn diese vermögend ist oder Kapital besitzt. Armut macht zwar auf die Dauer dumm, Dummheit deshalb jedoch noch lange nicht arm.
Obwohl die Kinder aus ökonomisch und sozial benachteiligten Familien zu den größten Bildungsverlierer(inne)n gehören, basiert ihre Armut selten auf falschen oder fehlenden Schulabschlüssen, sind Letztere doch höchstens Auslöser und Verstärker, aber nicht die eigentlichen Verursacher materieller Not. Bildungsdefizite führen allerdings oft zu einer Verfestigung der Armut, weil die Chancen eines Menschen auf dem Arbeitsmarkt und Berufskarrieren heute immer stärker an Kompetenzen gebunden sind, die man an weiterführenden und Hochschulen erwirbt. Armut, die in einer kapitalistischen Wohlstands- und Konsumgesellschaft wie der unseren vornehmlich einen Mangel an Geld, gesichertem Einkommen und Vermögen bedeutet, zieht neben finanziellen Schwierigkeiten (Überschuldung) fast zwangsläufig Unterversorgungsprobleme in fast allen Lebensbereichen der davon Betroffenen nach sich, etwa im Gesundheitsbereich, im Wohnen und Wohnumfeld, im Kultur- und Freizeitbereich sowie auch und gerade im Bildungsbereich.
Selbst die Bildungsexpansion der 1960er- und 1970er-Jahre hat an der sozialen Selektivität des Schulwesens nichts geändert. War das Hochschulstudium zuvor beinahe ausschließlich jungen Männern aus dem (Bildungs-)Bürgertum vorbehalten gewesen, so erfolgte nunmehr eine Akademisierung der Gesellschaft. Nicht bloß hinsichtlich der Stellung im Arbeits- bzw. Produktionsprozess, sondern auch in Bezug auf die gesellschaftliche Positionierung einer Person gewann der Bildungsgrad an Bedeutung, wenngleich der Kapitalbesitz entscheidend und die Klassenspaltung erhalten blieb.
Durch den „PISA-Schock“ erfuhr die Bildung kurz nach der Jahrtausendwende unter dem wachsenden Einfluss des Neoliberalismus eine neuerliche Aufwertung. Zugleich wurde das Soziale spürbar ab- bzw. entwertet, galt es doch als Standortnachteil. Armut wurde in der (Medien-)Öffentlichkeit fortan noch häufiger auf die „Bildungsferne“ oder einen fehlenden Schulabschluss der von ihr Betroffenen zurückgeführt. Problematisch ist der Begriff „Bildungsarmut“ aber nicht bloß, weil er das Armutsproblem auf eine mangelnde Schul- und/oder Ausbildung verkürzt, d.h. eine wichtige, aber eben nicht ausschlaggebende Lebenslagendimension verabsolutiert. Einkommens- bzw. finanzschwachen Familien wird auf diese Weise das sie sozial ausgrenzende und stigmatisierende Etikett der „Bildungsferne“ angeheftet.
Damit vertauscht man Ursache und Wirkung, denn Armut zieht in einer zunehmend ökonomischen Imperativen gehorchenden, marktförmig bzw. kapitalistisch organisierten Gesellschaft fast zwangsläufig mangelnde bzw. mangelhafte Bildung nach sich, während eine gute (Aus-)Bildung heutzutage keineswegs mehr die Gewähr dafür bietet, außerhalb des breiten Niedriglohnsektors zu arbeiten. Höherqualifizierte verdienen zwar in der Regel mehr und sind auch seltener arbeitslos als Geringqualifizierte. Zwischen dem Bildungsgrad und dem sozioökonomischen Status einer Person besteht jedoch kein unmittelbarer Zusammenhang: Man kann geistreich und doch bettelarm, aber ebenso gut strohdumm und steinreich sein. Bildung ist also weder ein Patentrezept gegen Armut noch eine Grundvoraussetzung zur Vermögensbildung in großem Stil, denn Firmengründer und -erben benötigen nicht einmal höhere Bildungsabschlüsse für die Mehrung ihres Reichtums. Umgekehrt lässt sich das Vorurteil, die Armen seien ungebildet, empirisch widerlegen, denn viele Betroffene weisen ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau auf.
Fazit und Schlussfolgerungen
Das deutsche Bildungssystem reproduziert schon aufgrund seiner Mehrgliedrigkeit die Klassenstruktur des Gegenwartskapitalismus. Je mehr die Bildung selbst im „Land der Dichter und Denker“ marktförmig organisiert, zu einer Handelsware herabgewürdigt und zu einem weichen Standortfaktor erklärt wird, umso stärker reproduziert das Schulwesen sozioökonomische Ungleichheit und die Klassenspaltung der Gesellschaft. Ein wachsender Anteil der Kinder und Jugendlichen besucht keine öffentlichen, sondern Privatschulen. In der Abkehr eher privilegierter Bevölkerungsgruppen vom öffentlichen Schulwesen drückt sich die Neigung zur sozialen Segregation (Bildung von Parallelgesellschaften durch Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche) aus.
Zu vermuten ist, dass Bildung auch deshalb im Zentrum des neueren Ungleichheits- und Armutsdiskurses der Bundesrepublik stand, weil sie für das deutsche Kleinbürgertum seit jeher die einzige Möglichkeit bietet, sich nach unten abzugrenzen. Bildung fungiert nämlich als probates Mittel der Distinktion gegenüber Angehörigen subalterner Klassen und Schichten. Belege dafür bietet die starke Zunahme privater Kitas, privater Schulen und privater Universitäten, die junge Menschen häufig mit elitärem Bewusstsein verlassen.
Die abgestuften Bildungschancen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft werden durch eine rein formale Gleichbehandlung sozial Ungleicher legitimiert und perpetuiert. Weil die (Schul-)Bildung jedoch nicht als Menschenrecht, sondern in der neoliberalen Standortlogik bloß noch als Erzeugung von Humankapital gilt, dessen Existenz über die Konkurrenzfähigkeit des „eigenen“ Wirtschaftsstandortes auf den Weltmärkten entscheidet, ignoriert man geflissentlich strukturelle Barrieren, die Klassenschranken für Arbeiterkinder und den Nachwuchs aus Familien mit Migrationshintergrund entsprechen. Vereinzelte Bildungsaufsteiger/innen aus unteren Schichten stellen die soziale Selektivität des Schulwesens nicht in Frage, sondern legitimieren es durch ihren Erfolg, den sie überwiegend der eigenen Leistung oder herausragenden individuellen Fähigkeiten zuschreiben.
Bildung wird hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, Ungleichheit zu begrenzen, maßlos überschätzt. Sie ist aber kein Wundermittel, um die materielle Unterprivilegierung (der Kinder) bestimmter Bevölkerungsschichten auszugleichen. Wären alle Kinder und Jugendlichen, nicht bloß die mit einem familiären Migrationshintergrund, besser gebildet, was ihnen sehr zu wünschen ist, würden sie womöglich nur auf einem höheren geistigen Niveau um die immer noch zu wenigen Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze konkurrieren. Dann gäbe es zwar am Ende mehr Taxifahrer mit Hochschulabschluss und mehr Haushaltshilfen mit Abitur, aber weiterhin Armut und sozioökonomische Ungleichheit.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ veröffentlicht.