Prof. Dr. Heinz Sünker | Universität Wuppertal
Das, was gegenwärtig weltweit sich ereignet, ist in dem, wie es sich ereignet und wie es aufgenommen, verarbeitet und politisch zu verstehen und zu gestalten versucht wird, in Bezug auf –zumindest – Europa und vielleicht noch als Besonderung auf die Bundesrepublik Deutschland zu beziehen, in Bezug auf das, was deren besondere gesellschafts- wie sozialpolitische Strukturen und Prozesse bestimmt.
Auszugehen ist dabei in einer allgemeinen Weise von dem, was sich als Zustand dieser Gesellschaftsformation heute – historisch gewachsen nach dem Ende des Faschismus – benennen lässt. Adorno hat dazu vor ca. 60 Jahren in seinem Essay „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, einer Beckett-Analyse, (in Noten zur Literatur II, Suhrkamp Verlag) in einer auch heute noch für die Strukturen unserer Gesellschaft treffenden Weise festgestellt: „Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm. Denn sie hat diese mittlerweile zum alten Eisen geworfen und virtuell durch unmittelbare Verfügung ersetzt“ (Seite 192).
Nach den Erfahrungen der letzten Wochen scheint es sinnvoll zu sein, sich einen Reim auf Ereignisse zu machen und das Geschehene kontextualisieren. Mir ist es wichtig, dabei einen Bezug auf das herzustellen, was mit der letzten „Finanzkrise“ und deren Bearbeitung sich darstellen und analysieren lässt.
Einen wesentlichen Ausgangspunkt finden wir, wenn wir eine Beschreibung dessen heranziehen, was in diesen Zeiten vor sich gegangen ist. Eine neue Studie mit dem Titel „The New Power Elite. Inequality, Politics and Greed“ (von A. Shipman/J. Edmunds & B. Turner, London 2018) führt dazu einleitend aus, dass es darum gehe zu fragen, wie es dazu kommen konnte, dass wenige außerordentlich reiche Banker und Fund Manager, deren magischer Geldbaum 2008 sich in Sägespäne verwandelte, mit öffentlichen Geldern beglückt wurden, von denen andere im Bereich von Sozialem und Gesundheit nur träumen konnten. Und die Autoren fragen (sich), warum demokratisch gewählte Regierungen dem 1% – oder diejenigen, die noch exquisitere Plätze im Ranking, etwa 0,1 %, belegen – erlaubt haben, dem Niedergang der Märkte, was traditionellerweise ihr Kapital gekillt haben würde, zu entkommen? Und warum haben sich danach Wählerinnen und Wähler in Amerika, Europa und Asien hinter Mitgliedern der Elite und nicht hinter traditionellen Anti-Eliten-Parteien zusammengerottet? Was ermöglichte die Beherrschung von Politik und Business durch die nicht gewählten Wenigen, so dass alle zwischendurch erreichten Fortschritte in Sachen Demokratisierung, Arbeit an sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Mobilität ins Gegenteil verkehrt worden sind? (Seite IX).
Die Antwort liegt klarerweise in der These von der Etablierung von Neoliberalismus in allen gesellschaftlichen und staatlichen Bereichen – mit den entsprechend bekannten Folgen für Gesellschaft- und Sozialpolitik. Diese bestanden und bestehen bis heute – für die BRD gesprochen – in der Ab-bzw. Auflösung sozialstaatlicher Prinzipien, wie sie – mit allen Widersprüchlichkeiten behaftet – seit dem Ende des Faschismus in Westdeutschland erkämpft worden waren. Wichtig ist also, den Staat auch in der Form von Sozialstaat als umkämpftes Terrain zu betrachten. Dieser Prozess nahm bereits mit der Ablösung der SPD/FDP-Regierung (H. Schmidt) und der Übernahme der Regierung durch die CDU/FDP Koalition (H. Kohl) zu Beginn der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts seinen Anfang; im Kern handelt es sich bekanntermaßen um die Umverteilung gesellschaftlich produzierten Reichtums von unten nach oben mithilfe von Sozial- und Steuerpolitiken. Es bedurfte allerdings, um diesen Prozess zu intensivieren, der pseudorot/pseudogrünen Regierung der potentiellen Lumpenproletarier Schröder und Fischer, die diesem Habitus entsprechend agierten, um unter Missbrauch des Reformbegriffs – denn in Wirklichkeit handelte es sich um Restauration und Reaktion – mit der so genannten Unternehmenssteuerreform (Ende der Neunzigerjahre) und den so genannten Hartz IV-Reformen eine neoliberale Politik im extenso zu realisieren. Wie Analysen des Düsseldorfer „Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung“ der Hans-Böckler-Stiftung gezeigt haben, brachte diese Unternehmenssteuerreform allein seit ihrer Verabschiedung jedes Jahr bis heute 75 Milliarden € in die Kassen von Unternehmen und Vermögenden. – Wenn man das mit 20 multipliziert, kommt zu einer interessanten Summe, mit der angesichts des bekannten Verfalls unserer Infrastruktur auf vielen Gebieten (s. Anfangszitat!) seitdem viel Vernünftiges hätte gemacht werden können! – Dies stellt allerdings nur ein Element in den Umverteilungspolitiken, die in den letzten Jahrzehnten betrieben worden sind, dar und letztlich lässt sich auch mit Bezug auf internationale Entwicklungen darstellen (es geht dann immer und überall um Veränderungen in der Steuerpolitik, etwa um die Abschaffung von Vermögenssteuer und die Senkung von Einkommenssteuersätzen, die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes). Das bedeutet, dass der bekannte „Kuchen“ wieder immer ungleicher verteilt wird, so dass wir inzwischen Ungleichheitsrelationen wie vor 120 Jahren zu konstatieren haben.
Für die gegenwärtige Situation der Corona-Krise ist daher zum einen interessant, dass national wie auch im EU-Kontext mit gewaltigen Summen zwecks Bearbeitung/Behebung von Problemlagen auf unterschiedlichen Ebenen und in Bezug auf unterschiedliche Institutionen gearbeitet wird und zum anderen die „Gewinner“ der vorhergehenden Finanzkrise sich in unverschämter Weise weigern, mit einem 10-20-prozentigen Kreditrisiko zu arbeiten – und dies nachdem sie zuvor mit öffentlichen Geldern überschüttet wurden.
Es stellt sich daher die Frage, wie gegenwärtig in bzw. angesichts der von Adorno festgehaltenen Irrationalität der spätbürgerlichen bzw. spätkapitalistischen Gesellschaft mit Rationalitäten und deren Erscheinungsweisen gearbeitet wird. Eingelassen darin ist die Frage, wie an einer Politisierung des Bewusstseins der Mitglieder dieser Gesellschaft gearbeitet werden kann, um eine solidarische emanzipatorische Perspektive, also weltgesellschaftlich, zu erreichen?
Nötig ist dazu meiner Einschätzung nach zum einen die Arbeit mit Zahlenspielen – etwa in der Gestalt der Multiplikation der angesprochenen 75 Milliarden €, um die Größe der jetzt diskutierten, einzusetzenden Geldmittel in der BRD der Europäischen Union zu relativieren.
Zum anderen ist es nötig, das Agieren der Banken zu skandalisieren; dies vor allem angesichts der ihnen bereits nach geworfenen Geldmittel (hier soll nicht die Rede davon sein, die sich Manager etc. nach wie vor bereichern).
Gesellschaftsanalytisch mit Bezug auf Politiken in unterschiedlichen Bereichen scheint es mir sinnvoll, der Frage nachzugehen, ob man nicht angesichts struktureller Bedingungen die Vergleichbarkeit von Neoliberalismus und Nationalsozialismus – als der deutschen Gestalt von Faschismus – ernsthafter als dies bisher geschehen ist in das Zentrum wissenschaftlicher Interessen und Analysen bringen muss?
Um der angedeuteten solidarischen emanzipatorischen Perspektive willen und in der Abwehr aller möglichen Verschwörungsideologien gilt es meines Erachtens eine weitere Einschätzung aus den Studien Adornos ins Bewusstsein zu rufen, wenn dieser in seiner Vorlesung von 1968, „Einleitung in die Soziologie“ zum Gegenstand soziologischer Analyse davon sprach, dass es dabei wesentlich darauf ankomme, die objektiven Bewegungsgesetze der Gesellschaft, die über das Schicksal der Menschen entschieden zu entschlüsseln, da diese ein Verhängnis darstellten, was zu ändern sei und die andererseits auch die Möglichkeit, das Potenzial enthielten, dass es anders werde, dass die Gesellschaft aufhöre ein Zwangsverband zu sein, indem man nun einmal hineingeraten sei. Dies verband sich mit einer Präzisierung: „Nämlich die Aufgabe einer dialektischen Theorie wäre es, eben diese beiden, doch offensichtlich einander widerstreitenden Momente im Gesellschaftscharakter der Gesellschaft, ihre Unverständlichkeit, ihre Opakheit auf der einen Seite also und auf der anderen Seite ihren schließlich doch auf Menschliches reduziblen und insofern verständlichen Charakter, zusammenzubringen, indem beide Momente aus einem Gemeinsamen abgeleitet werden, nämlich aus dem Lebensprozess der Gesellschaft wie er der gesellschaftlichen Arbeit der Gesamtgesellschaft (entspringt), und insofern also wieder verstehbar“ ist.
Das also, was gegenwärtig geschieht, muss als Ergebnis mannigfacher Praxen und Interessen (samt nicht intendierter Folgen) verstanden wie aufgeschlüsselt werden. Eine besondere Herausforderung – und das macht meiner Einschätzung nach einen wichtigen Unterschied zur „Finanzkrise“ aus – bildet dabei die Aufgabe, eine Vermittlung von Naturwissenschaften, Medizin sowie Kultur- und Sozialwissenschaften herzustellen, damit aus dieser Krise, den Verarbeitungsformen dieser Krise vernünftige Konsequenzen gezogen werden (können).