Verfolgt man die medialen, politischen und wissenschaftlichen Reaktionen auf die verschiedenen Gewaltexzesse der letzten Zeit, so könnte man fast auf den Gedanken kommen, dass Gewalt alleine von der Sprache sowie vom Internet, aber vor allen Dingen von den gesellschaftlichen Rändern herkommt und nicht bereits in sozialen Strukturen verankert ist. Wie Bertolt Brecht einmal geschrieben hat, kommt die Barbarei jedoch nicht von der Barbarei: „Die Rohheit kommt nicht von der Rohheit, sondern von den Geschäften, die ohne sie nicht mehr gemacht werden können.“ (1935). Dies soll im Folgenden am Beispiel einiger berühmter Intellektueller aus der sog. gesellschaftlichen, bürgerlichen Mitte illustriert werden.
Der große Vordenker von Soziologie und Politikwissenschaft, Max Weber sagte in seiner 1894 an der Freiburger Universität gehaltenen und 1895 gedruckten Antrittsvorlesung: »Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art«[1]. Ganz im Sinne des deutschen Imperialismus forderte Weber Ende des 19. Jahrhunderts, das internationale Klassenregime durch den nationalistischen Griff nach der Weltmacht zu verschärfen. Vorgeblich im Namen bzw. im Interesse zukünftiger Generationen mahnte er: »Nicht in erster Linie für die Art der volkswirtschaftlichen Organisation, die wir ihnen überliefern, werden unsere Nachfahren uns vor der Geschichte verantwortlich machen, sondern für das Maß des Ellenbogenraums, den wir ihnen in der Welt erringen und hinterlassen«[2].
Im Jahr der Drucklegung von Webers Antrittsvorlesung wurde der deutsche Schriftsteller Ernst Jünger geboren (1895-1998). Den leidenschaftlichen Kriegsverherrlicher konnten weder die Niederlage des Ersten Weltkrieges, noch die bedingungslose Kapitulation Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg von seinem nationalistischen Militarismus abbringen. Nach dem Ersten Weltkrieg schrieb das Idol der heutigen neuen und extremen Rechten zum Beispiel ganz deutlich: »Der wirkliche Kern unseres Volkes wird die Hoffnung nicht fahrenlassen, dass es um eine Welt nur gut stehen kann, in der wir die ersten sind.«[3] Im Geiste dieser imperialistischen Hybris wurde Jünger dann auch zum Wegbereiter des Faschismus. Zu dessen revanchistischer Vorbereitung formulierte er: »Der behördlich wohlgeregelte Patriotismus ebenso wie die Kräfte, die sich ihm entgegenstellen, müssen von einem dämonisch aus allen Schichten auflodernden Glauben an Volk und Vaterland verschlungen, jeder Andersfühlende muss mit dem Brandmal des Ketzers behaftet und ausgerottet werden. Wir können gar nicht national, ja nationalistisch genug sein. Eine Revolution, die das auf ihre Fahnen schreibt, soll uns stets in ihren Reihen finden.«[4] Damit waren bereits zum Zeitpunkt der Weimarer Republik elementare Grundlagen der Ideologien des selbst ernannten »Nationalsozialismus« und seiner Ausrottungsforderungen und Vernichtungspraxen verherrlichend in Worte gefasst.
Neokolonialismus und Krieg
Fast genau 100 Jahre nach Webers Antrittsvorlesung (nämlich 1992) äußerte sich der große Vertreter des sogenannten kritischen Rationalismus, des Neo-Positivismus und der Werturteilsfreiheit, Karl Raimund Popper, zwar scheinbar weltoffener und progressiver, doch nicht wesentlich weniger Gewalt verherrlichend. Nach dem Ende des Kalten Krieges und ein Jahr nach dem ersten Golfkrieg zeigte er seine neo-koloniale Sicht der weltpolitischen Dinge. Demnach habe der »liberale Westen« seine früheren Kolonien »zu schnell und zu primitiv befreit«, und man habe diese Staaten wie »einen Kindergarten sich selbst« überlassen[5]. Hier ist aus kindheitswissenschaftlicher Sicht zu fragen, welche Bilder von Kindern, Kitas, Staaten und ganzen Völkern damit transportiert werden. Jedenfalls ergibt sich aus alldem für Popper nur: »Wir dürfen hier nicht davor zurückschrecken, für den Frieden Krieg zu führen«[6]. An die Folgen bombardierter »Kindergärten« darf sich die Menschheit zwischen Westafrika und Mittlerem Osten seitdem unaufhörlich gewöhnen. Und nach Betrachtung einer begrenzten Zeit der »Kriege gegen den Terror« von 2001 bis 2015 in einer begrenzten Region (Afghanistan, Irak, Pakistan) konnten Forschungsberichte internationaler Ärzteorganisationen zum zwischenzeitlichen »Body Count« ermitteln, dass bereits weit mehr als eine Million Kriegsopfer festzustellen seien (ohne die Millionen Kinder mitgezählt zu haben, die nur in Folge der Bombardements durch die »Anti-Terror-Allianz« des »freien Westens« und deren uranabgereicherter Munition Nahrungs- und Wasserverseuchung, zerstörte Krankenhäuser, Krankheiten, Hunger und frühzeitigen Tod zu erleiden haben[7]).
Herrschaftskritische Wissenschaft
Bei so viel vorgeblicher Werturteilsfreiheit ist es direkt erholsam, sich mit Wissenschaftlern auseinander zu setzen, die mit ihren gewalt-, herrschafts- und ausbeutungskritischen Prämissen, Vorgehensweisen, Zielen und Interessen nicht lange hinter dem Berg halten. So gilt laut Marx‘ »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« der »kategorische[n] Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«[8], also das ziemlich genaue Gegenteil dessen, was dem (frühen) Weber – geschweige denn Ernst Jünger – und dem (späten) Popper vorschwebte.
Die marxsche Herangehensweise bietet auch die Möglichkeit, Webers, Jüngers und Poppers nationalistische Kriegsträume nicht nur abzulehnen und zu widerlegen, sondern auch aus ihrer sozioökonomischen Formation heraus zu erklären: So analysierte der Sozialdemokrat Rudolf Hilferding gesellschaftliche Grundlagen des Kapitalismus und des imperialistischen Weltsystems seit Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In seinem Buch »Finanzkapital« von 1910 untersuchte er die immer monopolistischer auftretenden Vereinigungen von Industrie- und Bankkapital. Deren gegenseitige Verschmelzung bezeichnete er als »Finanzkapital« und analysierte dessen politische, ökonomische und ideologische Strukturen sowie Begleiterscheinungen. Hilferding verfasste damit eines der ersten Grundlagenwerke über den Wandel des Kapitalismus der freien Konkurrenz zum monopolistischen Kapitalismus des imperialistischen Zeitalters – quasi eine der ersten Imperialismustheorien. So verwies er nicht nur auf die systemischen Kriegsgefahren durch Kolonialexpansion und Aufrüstung, sondern auch auf die finanzkapitalistisch notwendigen Expansionsbestrebungen sowie ideologischen Veränderungen zur Legitimation direkter oder indirekter Gewaltpolitik in den internationalen Beziehungen – womit wir wieder beim frühen Weber, bei Jünger und beim späten Popper wären.
Die alten Freiheitsideale, die Ideologie des Liberalismus seien vom Bürgertum des imperialistischen Zeitalters über Bord geworfen worden, denn »das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft«, konstatierte Hilferding[9]. Kurz: Wer anderen Menschen Menschenwürde und Menschenrechte, ja sogar das Recht auf Leben abstreitet, braucht dazu eine wirksame Begründung. Rassistische Ideologien und nationalistische Konzeptionen bieten sich dafür vorzüglich an. »Als Ideal erscheint es jetzt, der eigenen Nation die Herrschaft über die Welt zu sichern, ein Streben, ebenso unbegrenzt wie das Profitstreben des Kapitals, dem es entsprang. Das Kapital wird zum Eroberer der Welt, und mit jedem neuen Lande erobert es die neue Grenze, die es zu überschreiten gilt. Dieses Streben wird zur ökonomischen Notwendigkeit, da jedes Zurückbleiben den Profit des Finanzkapitals senkt, seine Konkurrenzfähigkeit verringert und schließlich das kleinere Wirtschaftsgebiet zum Tributpflichtigen des größeren machen kann. Ökonomisch begründet, wird es ideologisch gerechtfertigt durch jene merkwürdige Umbiegung des nationalen Gedankens, der nicht mehr das Recht jeder Nation auf politische Selbstbestimmung und Unabhängigkeit anerkennt und der nicht mehr Ausdruck ist des demokratischen Glaubenssatzes von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, auf nationalem Maßstab. Vielmehr spiegelt sich die ökonomische Bevorzugung des Monopols wider in der bevorzugten Stellung, die der eigenen Nation zukommen muß. Diese erscheint als auserwählt vor allen anderen. Da die Unterwerfung fremder Nationen mit Gewalt, also auf sehr natürlichem Wege vor sich geht, scheint die herrschende Nation diese Herrschaft ihren besonderen natürlichen Eigenschaften zu verdanken, also ihren Rasseneigenschaften. In der Rassenideologie ersteht so eine naturwissenschaftlich verkleidete Begründung des Machtstrebens des Finanzkapitals, das so die naturwissenschaftliche Bedingtheit und Notwendigkeit seiner Handlungen nachweist. An Stelle des demokratischen Gleichheitsideals ist ein oligarchisches Herrschaftsideal getreten.«[10] Die aggressiven und antidemokratischen Auswirkungen dieser Entwicklung bis hin zu autoritären Regimebildungen wie dem Faschismus sah Hilferding damit schon lange voraus, bevor sie tatsächlich ihre Machtaufstiege in den 1920er und -30er Jahren feierten. Aus aktuellem Anlass sind diese Analysen leider auch heute noch sehr relevant und berücksichtigenswert für alle diejenigen, denen Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Frieden wichtig sind. Damit könnte das ältere SPD-Mitglied Hilferding nebenbei auch leicht zur Aufklärung über Ideologie und Funktion von Weber, Jünger, Popper sowie des jüngeren SPD-Mitglieds Sarrazin beitragen. Denn wer Europa nach standortnationalistischen Kriterien ordnet, hier und da Kriege führt und mit den EU-Krisenstaaten in wohlstandschauvinistischer Weise umgeht, findet im Sarrazynismus die passende Ideologie.
Darüber hinaus sollten auch die von Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot seit Jahren untersuchten sozioökonomischen Gewaltverhältnisse zwischen Reich und Arm berücksichtigt werden. Die früheren CNRS-Forschungsdirektoren sprechen in ihrer soziologischen „Chronik einer immensen sozialen Zerstörung“ von der „Gewalt der Reichen“ („La violence des riches. Chronique d’une immense casse sociale“, Paris 2013). Die neoliberale Restrukturierung der letzten Jahrzehnte werfe Menschen buchstäblich auf den Müll, zerstöre sie, schreibe die Entwertung und Verachtung in ihre Körper und in ihre Köpfe ein. Derweil wüchsen Resignation und Ressentiment. Fern davon, das Werk eines gesichtslosen Gegners zu sein, habe diese Klassengewalt Akteure, Strategien und Orte – und politische Verantwortliche in der Regierung. Darum halten Pinçon und Pinçon-Charlot es für dringend notwendig, „de faire la critique du ‘bourgeoisisme’“ (Pinçon/Pinçon-Charlot 2013, S. 239f.). Leider fällt diese Kritik am sog. Bourgeoisismus vielen Stimmen aus Politik, Medien und Wissenschaft in den letzten Jahren nicht ein, wenn sie über Gewalt und deren Grundlagen durch die soziale und ideologische Spaltung der Gesellschaft sprechen.
Michael Klundt, Dr. Päd., Professor für Kinderpolitik am Fachbereich für Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal und dort Leiter des Master-Studiengangs „Kindheitswissenschaften und Kinderrechte“:
[1] Weber, Max (1988) [1894/95]: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. In: ders.: Gesammelte Politische Schriften. 5. Aufl. Stuttgart, S. 1-25, S. 14; Herv. i.O.
[2] ebd.
[3] zit. nach Harich, Wolfgang (2018/[1945/46]): Der falsche Frieden. Gegen Innerlichkeit und Kriegsverherrlichung. Frühe Feuilletons aus dem Kurier zeigen Wolfgang Harich als polemisches Talent, in: junge Welt v. 29.10.2018 (Nr. 251), S. 12-13, S. 13.
[4] ebd.
[5] Popper, Karl R. (1992): »Kriege führen für den Frieden«. Interview mit Olaf Ihlau, in: SPIEGEL Nr. 13 v. 23.3. (46. Jg.), S. 202-210, S. 208.
[6] ebd., S. 205f.
[7] vgl. International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW Germany), Physicians for Social Responsibility (PSG Washington DC) & Physicians for Global Survival (PGS Ottawa) (Hg.) (2015): Body Count – Opferzahlen nach 10 Jahren »Krieg gegen den Terror«: Irak – Afghanistan – Pakistan, 1. Auflage, deutsche Version, Berlin 2015; verfügbar unter: http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/BodyCount_internationale_Auflage_deutsch_2015.pdf, S. 17ff.
[8] MEW (1972ff.): Marx-Engels-Werke Bd. 1-42. Berlin, MEW 1, S. 385; Herv. i.O.
[9] Hilferding, Rudolf (1947/1910): Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung de Kapitalismus. Berlin, S. 502.
[10] ebd., S. 504.