Bis zu der von einem drastischen Anstieg des Rohölpreises ausgelösten, aber nicht verursachten Weltwirtschaftskrise 1974/75 waren die meisten Westdeutschen stolz auf „ihren“ hochentwickelten Sozialstaat. Nun begann sein „Um-“ bzw. Abbau, welcher sich nach der Vereinigung von BRD und DDR unter dem wachsenden Einfluss des Neoliberalismus beschleunigte. Als die soziale Pflegeversicherung zum 1. Januar 1995 eingeführt wurde, deckte man das Risiko der Pflegebedürftigkeit bloß teilweise ab und durchbrach hiermit erstmals im sozialen Sicherungssystem der Bundesrepublik das Prinzip der Bedarfsdeckung. Kurz nach der Jahrtausendwende erfolgte mit Einführung der Riester-Rente eine Teilprivatisierung der Altersvorsorge, bei welcher das Prinzip der Lebensstandardsicherung und das Prinzip der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer/innen auf der Strecke blieben. Das im Volksmund „Hartz IV“ genannte Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt bedeutete einen weiteren Tabubruch durch die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, weil mit der Arbeitslosenhilfe eine den Lebensstandard von Langzeiterwerbslosen noch halbwegs sichernde Lohnersatzleistung durch eine reine Fürsorge- bzw. Lohnergänzungsleistung, das Arbeitslosengeld II, ersetzt wurde.
Die soziale Schlagseite der Schutzmaßnahmen gegen Covid-19
„Vor einem Virus sind alle gleich“, glauben viele Menschen. Tatsächlich haben Seuchen, ohne dass man sie „demokratisch“ nennen könnte, oft zur Eindämmung der sozioökonomischen Ungleichheit beigetragen. Dies geschah für eine gewisse Zeit etwa bei den mittelalterlichen Pestepidemien, die nicht bloß in Europa unzählige Menschen dahinrafften. Verantwortlich dafür waren ein Verfall der Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise (aufgrund leerstehender Häuser) einerseits sowie ein Anstieg der Löhne (aufgrund fehlender Arbeitskräfte und deren gestärkter Verhandlungsposition gegenüber den Arbeitgebern) andererseits.
Mit den bakteriell ausgelösten Epidemien, die Deutschland im 19. Jahrhundert heimsuchten, Cholera und Typhus, hat die von dem als SARS-CoV-2[1] bezeichneten Virus[2] hervorgerufene Covid-19-Erkrankung gemeinsam, die Immun- und Einkommensschwächsten am stärksten zu treffen. Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Asthma erhöhen das Infektionsrisiko. Die zwei Bevölkerungsgruppen, zu denen hauptsächlich Obdach- und Wohnungslose (in Not- bzw. Gemeinschaftsunterkünften), Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Flüchtlinge und Migrant(inn)en ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Prostituierte, Erwerbslose und Geringverdiener/innen (Hartz-IV-Bezieher/innen), Kleinstrentner/innen (Bezieher/innen der Grundsicherung im Alter) und Studierende gehören, deren Nebenjob wegfiel, überschneiden sich zum Teil personell.
Studierende verloren ihren Nebenjob (z.B. in der Gastronomie), Mütter blieben zuhause bei ihren Kindern, deren Bildungs- und Betreuungseinrichtungen wochenlang geschlossen hatten, obwohl sie ihren Jahresurlaub opfern mussten, die psychischen Belastungen enorm waren und die Wohnungen der Alleinerziehenden im Durchschnitt sehr viel kleiner sind als die anderer Personengruppen. Bund, Länder und Gemeinden haben in der Corona-Krise nach kurzem Zögern fast über Nacht mehr als eine Billion Euro für Hilfsmaßnahmen, Kredite und Bürgschaften mobilisiert. Während zahlreiche Wirtschaftsunternehmen, darunter auch solche mit einer robusten Kapitalausstattung, von der Bereitschaft des Staates zu einer hohen Neuverschuldung (Abschied von der „schwarzen Null“ und Restriktionen der Schuldenbremse) profitierten, gingen die Finanzschwachen bei den Rettungspaketen weitgehend leer aus. Unterstützt werden nämlich gerade jene Menschen nicht, die als Hauptleidtragende der Pandemie mit den größten Problemen zu kämpfen haben.
Mit dem am 15. März 2020 in Kraft getretenen Gesetz zur befristeten krisenbedingten Verbesserung der Regelungen für das Kurzarbeitergeld ermächtigte das Parlament die Bundesregierung, bis zum 31. Dezember 2021 befristet per Rechtsverordnung festzulegen, dass die gesamten Lohnkosten von Unternehmen (einschließlich der gesamten Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung) getragen wurden, wenn mindestens 10 Prozent der in einem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer/innen zu mindestens 10 Prozent vom Entgeltausfall betroffen waren. Zwar konnten fortan auch Leiharbeitnehmer/innen das Kurzarbeitergeld beziehen; dieses betrug aber höchstens 60 Prozent des pauschalierten Nettoentgelts für Kinderlose und 67 Prozent des pauschalierten Nettoentgelts, sofern unterhaltsberechtigte Kinder vorhanden waren. Überstundenzuschläge, Einmalzahlungen (z.B. Gewinnbeteiligungen oder Jahresprämien) sowie steuer- und beitragsfreie Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit blieben bei der Berechnung unberücksichtigt, was im Falle der „Kurzarbeit Null“ nicht bloß für Geringverdiener/innen drastische Einbußen gegenüber ihrem früheren Lohn und gravierende Einschränkungen ihres gewohnten Lebensstandards mit sich brachte.
Selbst das am 28. März 2020 in Kraft getretene Sozialschutz-Paket der Bundesregierung wies eine verteilungspolitische Schieflage auf. Während der Arbeitslosengeld-II-Bezug für von der Corona-Krise geschädigte Soloselbstständige erleichtert wurde, indem man die strenge Vermögensprüfung für sie vorübergehend aussetzte und ein halbes Jahr lang die Angemessenheit der Wohnung stillschweigend voraussetzte, erhielten Hartz-IV-Bezieher/innen selbst dann keinen Ernährungszuschlag, wenn sie ihren Nachwuchs aufgrund geschlossener Kindertagesstätten und Schulen wochenlang zuhause verpflegen mussten, anstatt wie sonst kostenfrei die Mittagstische bzw. die Gemeinschaftsverpflegung einer öffentlichen Betreuungseinrichtung nutzen zu können.
Am 22. April 2020 beschloss der Koalitionsausschuss auf Druck von Gewerkschaften und SPD-Führung eine bis zum Jahresende befristete Anhebung des Kurzarbeitergeldes auf 70 bzw. 77 Prozent nach drei Monaten und auf 80 bzw. 87 Prozent nach sechs Monaten für den Fall einer Reduktion der Arbeitszeit um mindestens 50 Prozent. Außerdem wurden die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Kurzarbeiter/innen bis zum Jahresende befristet erweitert. Sinnvoller wäre möglicherweise die Schaffung eines Mindestkurzarbeitergeldes gewesen, wie es den CDU-Sozialausschüssen vorschwebte, weil Geringverdiener/innen davon stärker profitiert hätten als Besserverdienende. Um drei Monate verlängert wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für diejenigen Erwerbslosen, deren Anspruch zwischen dem 1. Mai und 31. Dezember 2020 geendet hätte. Für ältere Erwerbslose stieg die Höchstbezugsdauer des Arbeitslosengeldes in mehreren Schritten auf bis zu 24 Monate, wenn sie 48 Monate oder länger versicherungspflichtig beschäftigt gewesen waren.
Die auf derselben Nachtsitzung des Spitzengremiums von CDU, CSU und SPD verabredete Senkung des Mehrwertsteuersatzes von 19 auf 7 Prozent für Hotellerie und Gastronomie, welche ab 1. Juli 2020 bis zum 30. Juni 2021 befristet gelten soll, ist mit einem erwarteten Steuerausfall in Höhe von über Milliarden Euro für den Staat nicht bloß sehr teuer. Sie (über)kompensiert vielmehr auch Verluste von künftig wieder florierenden Mehrsternerestaurants und noblen Schlosshotels, dürfte akut von der Insolvenz bedrohten Eckkneipiers hingegen wenig helfen.
Je höher die berufliche Position bzw. der soziale Status eines Menschen ist, umso leichter kann er auch zuhause arbeiten, denn es geht in diesem Fall meistenteils um eine Schreibtischtätigkeit. Auf diese Weise ließ sich auch das Betreuungsproblem leichter lösen, welches entstand, als Kitas und Schulen geschlossen wurden. Beschäftigten im Niedriglohnsektor fehlte diese Möglichkeit, sich um ihre Kinder zu kümmern, hingegen fast durchgängig. Zugenommen hat daher auch die Ungleichheit der Geschlechter, waren es doch hauptsächlich Frauen, die beruflich zurückstecken mussten, weil sich Erwerbs- und Familienarbeit nicht länger miteinander vereinbaren ließen.
Bewährungsprobe für den Wohlfahrtsstaat
Obwohl die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie (noch) nicht exakt absehbar sind, ist bereits klar, dass sie den Sozialstaat auf die härteste Bewährungsprobe seit der Vereinigung, vielleicht seit dem Zweiten Weltkrieg stellen wird. Bestätigen dürfte sich, was den politisch Verantwortlichen schon zu Beginn der Reformen, die sie in den vergangenen Jahrzehnten umgesetzt haben, hätte bewusst sein können: Ein teilprivatisiertes, gewinnorientiertes Sozial- und Gesundheitssystem garantiert keine optimale medizinische Behandlung der Kranken und in Krisensituationen wie der gegenwärtigen keine Versorgungssicherheit.
Weder bürgerschaftliches Engagement noch ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE), die gegenwärtig hoch im Kurs stehen, sind jedoch ein gleichwertiger Ersatz für den bestehenden Sozial(versicherungs)staat. Wäre die Armut in Deutschland ein individuelles, also kein Kollektivschicksal, und ein persönlich zu verantwortendes, d.h. kein gesellschaftlich bedingtes Problem, könnte sie durch karitative Maßnahmen bewältigt werden. Unter der geistig-politischen Dominanz des Neoliberalismus wird dieser Lösungsweg in angloamerikanischen Staaten präferiert. Wenn es sich jedoch um ein strukturelles, dem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem immanentes Phänomen handelt, muss es als gesellschaftliche Herausforderung begriffen und politisch, d.h. sozialstaatlich gelöst werden.
BGE-Befürworter/innen nutzten die Gelegenheit, um für ihr Konzept mit dem Argument zu werben, die außergewöhnlichen Umstände der Pandemie erforderten unkonventionelle Lösungen. In einer von der Berliner Korsettdesignerin Tonia Merz initiierten Petition wurde die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens von monatlich 800 bis 1.200 Euro pro Person für ein halbes Jahr gefordert, was den sozialen Absturz vieler tausender Menschen verhindern und gleichzeitig die Massenkaufkraft erhalten sollte. Nie sei die Zeit günstiger gewesen, das BGE-Konzept zu testen, meinte die Kleinunternehmerin. Von einem Konzept kann jedoch gar nicht die Rede sein, denn es gibt mehrere Dutzend BGE-Modelle. Und testen kann man das Grundeinkommen auch nicht, weil es quer zu den Konstruktionsprinzipien unseres Sozialsystems steht. Ähnlich vage wie die Bezifferung des auszuzahlenden Geldbetrages in der Petition fiel der Vorschlag insgesamt aus.
Schon die alten Griechen wussten, was ihre berühmten Philosophen folgendermaßen ausdrückten und bis heute gilt: Gleiche müssen gleich und Ungleiche ungleich behandelt werden, soll es in einem Land gerecht zugehen. Die soziale Gerechtigkeit bliebe auf der Strecke, wenn der Besitzer einer Villa am Starnberger See denselben Pauschalbetrag in Höhe von 1.000 Euro pro Monat ausgezahlt bekäme wie ein Münchner, der dafür keine geeignete Wohnung in seiner Stadt findet. Reiche brauchen kein Grundeinkommen und für Arme reicht es nicht. Deshalb ist das bedingungslose Grundeinkommen ungerecht, unzureichend und nicht zielgenau.
Das bedingungslose Grundeinkommen sieht von den konkreten Arbeits-, Lebens-, Einkommens- und Vermögensverhältnissen seiner Bezieher/innen ab. Alle werden über einen Leisten geschlagen, was differenzierte Lösungen für soziale Probleme ausschließt. Gerade in einer unübersichtlichen Krisensituation wie der Corona-Pandemie muss der Sozialstaat aufgrund im Konjunkturabschwung begrenzter Ressourcen und zu erwartender Steuerausfälle bei seinen Maßnahmen um Passgenauigkeit bemüht sein. Das bedingungslose Grundeinkommen ist da genauso falsch wie das von Milton Friedman, Begründer der neoliberalen Chicago School, entwickelte Helikoptergeld, zumindest wenn es nicht sozial gestaffelt ist – die Hubschrauber sollten besser am Boden bleiben!
Selbst in einer Ausnahmesituation und für eine kurze Übergangszeit wäre das bedingungslose Grundeinkommen nicht sinnvoll, weil es keine (Verteilungs-)Probleme lösen, vielmehr sogar neue schaffen würde: Wie hoch soll das Grundeinkommen sein? Erhielten alle 83 Millionen Einwohner/innen nur ein halbes Jahr lang 1.000 Euro pro Monat, müsste der Staat dafür rund 500 Milliarden Euro aufbringen. Das ist mehr, als der Bund im Jahr 2020 insgesamt ausgeben will – einschließlich des per Nachtragshaushalt beschlossenen Budgets für die Pandemiebekämpfung und Covid-19-Schutzmaßnahmen. Wer soll das Grundeinkommen erhalten? Doch lieber nur alle Deutschen? Gerade die Allerärmsten hierzulande besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit gar nicht und haben auch meist kein Konto, auf das man es überweisen könnte. Wie soll das Grundeinkommen refinanziert werden?
Darüber einigen konnten sich die BGE-Befürworter/innen nie, weil es unterschiedliche politische Richtungen propagieren, die mit ihm völlig unterschiedliche, teilweise sogar gegensätzliche Zielsetzungen verfolgen. Begreifen die Neoliberalen das Grundeinkommen als einen Kombilohn für alle, der Tarifverträge, den gesetzlichen Kündigungsschutz, Mindestlöhne und die Gewerkschaften überflüssig machen würde, hoffen manche Sozialromantiker/innen umgekehrt, damit den Kommunismus im Kapitalismus einführen zu können, ohne die politische Machtfrage stellen und das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem grundlegend verändern zu müssen.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/SARS-CoV-2
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Viren
Literatur
Butterwegge, Christoph: Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Weinheim/Basel 2020
Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 6. Aufl. Wiesbaden 2018
Butterwegge, Christoph/Rinke, Kuno (Hrsg.): Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozialmodell, Weinheim/Basel 2018
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ veröffentlicht.