Erschienen am: 28.04.2020
Im globalen Süden ist es üblich, dass Kinder entweder vormittags oder nachmittags zur Schule gehen: im Turnus A oder Turnus B. Das ist die Lösung überall dort, wo es nicht genügend Räume oder Lehrer*innen gibt, um alle gleichzeitig zu unterrichten. Warum machen wir das nicht hier und jetzt auch, wenn es zu wenig Räume und Lehrer*innen gibt, um die Klassen so klein zu halten, wie es zur Pandemievorsorge ratsam ist? Wobei unter diesen pandemischen Umständen zunächst eher ein wöchentlich changierender Turnus sinnvoll scheint. Industrie und Unternehmen haben längst auf solche Modelle umgestellt: Schicht A ist vor Ort, während Schicht B im Homeoffice ist … und mal so eben, in diversen neuen Paralleljobs, die Kinder betreut und beschult (Neben den üblichen Päckchen und Paketen die jede/r zu stemmen hat, und dem bisschen Haushalt, der sich von selbst erledigt). Auch hier verspräche ein Turnus etwas Entlastung. Stattdessen aber dürfen Einzelne oder manche Klassen- und Altersstufen zur Schule gehen und andere nicht.
Wie man diesen abwechselnden Unterrichts- und Kitaturnus mit etwas reduzierter Stundenzahl nun nach Vormittag/Nachmittag oder – besser – nach gerader/ungerader Woche organisiert, das müsste im Detail diskutiert werden. Ebenso ist eine Offenheit für lokale Varianten bzw. Lösungen notwendig, steht doch jedes Kollegium vor anderen Herausforderungen. Auch andere pandemische Überlegungen, bspw. wer sich wie am besten aus dem Weg gehen kann (und sollte), könnten einbezogen werden, etwa indem man zusätzlich ältere von jüngeren Jahrgängen trennt und verschiedene Pausenzeiten einführt. Bei wieder steigender Infektionsrate ließen sich auch verschiedene Maßnahmen dynamisch kombinieren, um die Gruppenstärke nicht nur zu halbieren, sondern gar zu dritteln oder im Extremfall gar zu sechsteln (Gruppen < 9, bspw. im drei Wochen-Turnus und manche Jahrgangstufen am Vormittag, andere am frühen Nachmittag). Im Kern aber bliebe der bisherige, wöchentliche Stundenplan bestehen. Mit abwechselnden ‚online‘ Aufgaben für zu Hause und deren gemeinsamer Kontrolle in der Schule, oder gar in digital moderierter Form eines Projektunterrichts, würde wohl gar nicht so viel Unterricht ausfallen – aber es würden weit weniger Schüler*innen, wie jetzt, durch dieses soziale Netz fallen. Die Herausforderung nun bei Kindern Abstandsregeln durchzusetzen würde ebenso entspannt werden, wie auch überhastete Entscheidungen darüber entfallen, welche Fächer in dieser langen Phase der Wiedereröffnung und der Übergangsstundenpläne vermeintlich wichtiger sind als andere. Die andere, mittelfristige Alternative wäre, doppelt so viele Lehrer*innen einzustellen und rasch neue Schulen zu errichten – beides scheint mir eher schwierig.
Schule hat zunächst eine sozialisierende Funktion: dort, wo Kinder miteinander spielen und lernen, wo eine Schulkultur gepflegt wird, wo die Schule einen Rhythmus vorgibt und dem Aufwachsen Struktur verleiht. Schule hat auch eine soziale Funktion: dort, wo sie Kinder behütet, wenn die Eltern arbeiten, bemerkt und interveniert, wenn es persönliche oder familiäre Probleme gibt – aber auch, weil es die einzige Institution unserer Gesellschaft ist, an der wirklich alle teilhaben, die wir gemeinsam erfahren und wo wir ein „Wir“ erleben können. Deshalb ist es ja gerade so wichtig, dass Alle in der Schule gleichbehandelt und so eine gerechte Chance erhalten. Schule kann man also von Bildungsprozessen aus denken, aber auch im engeren Sinne vom Lernen und von Inhalten aus – letzteres wird allerdings gerne überbewertet. Tatsächlich hat Schule auch eine wichtige Selektionsfunktion: dort, wo sie Prüfungen abhält, deren Bewertung darüber entscheidet, welchen Weg man biografisch in der Schulkarriere oder im Übergang zur weiteren Ausbildung und dann Beruf einschlägt – mitunter aufgrund von individuellen Leistungsunterschieden, oft aber aufgrund struktureller Aspekte. Diese Selektionsfunktion ist jedoch nicht die wesentlichste Funktion – und in Krisenzeiten stellt sich noch mehr als sonst die Frage, ob man tatsächlich „Leistung“ oder nicht eine strukturelle Ungleichheit bewertet. Eine Ungleichheit, die aktuell krass zunimmt, gerade weil die Schulen für die einen geschlossen sind und für die anderen nicht, wie auch die Einen Schüler*innen und Familien diese Situation besser ausgleichen oder auf digitale Lernangebote eingehen können als andere. Die Wiedereröffnung von Schule in der Coronakrise bzw. die Organisation der zeitweiligen ‚neuen Normalität‘ von der Selektionsfunktion aus zu denken und zu organisieren und die Schule nur für Abschluss- und Übergangsjahrgänge wieder zu öffnen, überzeugt nicht.
So oder so, hoffentlich kommt bald eine Zeit die wieder hinreichend ‚normal‘ ist, um eine Krise als Chance zu begreifen um sich neu zu orientieren oder auf das Wesentliche zu besinnen, auch und gerade im Blick auf Schule und aufgrund der aktuell so einschneidenden Corona-Erfahrung. Welche Funktion hat Schule, und welche Inhalte sind künftig wesentlich? Aber zumindest bei persönlichen Krisen ist es ja mitten in der Krise gerade schwer, den Blick nach vorne zu wenden, und dem Drang zu widerstehen einfach zu alten, vertrauten Mustern zurückzukehren (auch wenn Sie einen in die missliche Lage geführt haben). In der Regel bedarf es einer (pädagogischen) Begleitung, um in solch einer irritierenden Ausnahmesituation auf gute neue Ideen zu kommen oder zu entscheiden, an welchen Ideen sich der weitere Weg orientieren soll – denn, so sehr eine Krise eine Chance zur Veränderung ist, ist diese zugleich auch immer ein Risiko.
Verfasst am: 21.04.2020