Prof. Dr. Michael Fingerle | Universität Frankfurt Goethe
Beitrag zur Reihe „Typisch deutsch –
Was “Migranten” über die deutsche Gesellschaft wissen sollten“
Völker definieren sich ja gerne durch ihre Kulturleistungen. Die Griechen zum Beispiel, erfanden (mit ein paar Anleihen bei anderen Kulturen) die Kosmologie, die Römer übernahmen sie, die Araber verbesserten sie, und die Chinesen erfanden den Buchdruck, was aber niemand westlich von ihnen mitbekam. Die Deutschen hingegen sahen erst mit gehöriger Verspätung zu den Sternen, was jedoch damit entschuldigt werden kann, dass es sie in der Antike noch gar nicht gab (die Deutschen, nicht die Sterne), und obwohl sie mit Kopernikus und Kepler ihr Scherflein zur Astronomie beitrugen, ist der kosmologische Bezug, der Eingang in ihre Selbstwahrnehmung fand, nicht die Wissenschaftlichkeit, sondern die Pünktlichkeit. Die Deutschen, so sagt man in der Welt, seien pünktlich und wir selbst sagen es auch gerne und oft von uns. Auf Pünktlichkeit legen zwar beispielsweise auch Engländer, Skandinavier und Japaner Wert, doch keiner dieser Nationen und Kulturen kam es in den Sinn, einen industriegesellschaftlich nötig gewordenen Fetisch zu einem symbolischen Eckstein ihrer kollektiven Identität aufzublasen.
Versucht man zu rekonstruieren, wie wir Deutschen auf jene abseitige Vorstellung kamen, steht man einem kleinen Mysterium gegenüber. Für gewöhnlich fällt in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die preußischen Tugenden, die mehr oder weniger auf den Alten Fritz und seine Ideen zurückgehen, wie das Militär und das Beamtentum seines Königreichs auf Vordermann gebracht werden könnten. Ein frühes ziviles Spiegelbild fanden die preußischen Tugenden im 18. Jahrhundert in Ludwig Höltys Gedicht „Der alte Landmann an seinen Sohn“, in dem der bewusste alte Landmann seinem Sohnemann ein paar Ratschläge für’s tugendhafte Leben mit auf den Weg gibt. Dort ist die Rede von Treue, Redlichkeit und Frömmigkeit, doch die Pünktlichkeit wird noch an keiner Stelle erwähnt. Vielleicht sah es von außen betrachtet anders aus. Ich kann hier (da ich diesen Artikel mit enormer Verspätung schreibe) leider keine umfassende Literaturstudie bieten, sondern nur ein paar Schlaglichter aus meinem Bücherschrank zitieren. Darunter zunächst einmal Edgar Allan Poe, ein literarisch einflussreicher Protagonist der amerikanischen Romantik, vielen vielleicht nur als Horrorschriftsteller bekannt. Doch Poe war auch ein begabter Satiriker und schrieb 1839 eine Groteske mit dem Titel „Der Teufel im Glockenturm“. Darin ist die Rede vom einem Dörfchen, dessen treudoofe, plattdeutsch sprechenden und ansonsten phlegmatischen Bewohner zwanghaft auf ihre Uhren und ihren festgefügten Tagesablauf fixiert sind. Das klingt vielversprechend, ganz nach dem vertrauten Klischee. Ein paar Jahrzehnte später schrieb ein anderer prominenter US-Literat auch ein paar humorvolle Seiten über die Deutschen, hatte jedoch im Unterschied zu Poe den Vorteil, sich die teure Überseereise leisten zu können, die damals nötig war, um tatsächlich in personam hierzulande vorbeizuschauen. Mark Twains „Bummel durch Europa“ von 1879 enthält mehrere Kapitel über Deutschland, die etliche Seitenhiebe enthalten (z.B. über Wagner oder Baden-Baden), ansonsten aber uns deutschen Lesern heutzutage geradezu die Brust schwellen lassen (er hatte es einfach drauf, der alte Flunkerer). Seine Deutschen sind hilfsbereit, respektvoll, gewissenhaft, höflich, gefühlvoll, gelegentlich sogar auf eine schrullige Art nachsichtig und tolerant, sie lassen es sich gerne gutgehen und sie mögen Opern. Im Großen und Ganzen war das Bizarrste, das er an ihnen auszusetzen hatte, ihre absurd komplizierte Sprache. Nur selten irrlichtert in jenen Kapiteln die Pünktlichkeit auf: Professoren und Studenten erscheinen und verschwinden zum festgesetzten Zeitpunkt in und aus den Hörsälen, Operngäste strömen pünktlich in den Saal – wer zu spät kommt, muss draußen blieben. Marotte oder Nationaltugend? So wie Tacitus die wilden, aber von Sittlichkeit erfüllten Germanen konstruierte, um seinen Mitrömern die Leviten zu lesen, hat man auch bei diesen Twainschen Passagen das Gefühl, dass sie eigentlich als leiser Vorwurf an seine heimatliche Leserschaft gedacht waren. Zum Vergleich: Der großartige britische Humorist Jerome K. Jerome, der um 1900 in „Three Man on the Bummel“ mehr als nur ein paar spöttische Seitenhiebe auf das ordnungsverliebte, regelfixierte und zunehmend militaristisch werdende deutsche Wesen der späteren Kaiserzeit auszuteilen hatte, mokierte sich über die berühmte Pünktlichkeit kein einziges Mal.
Aber sei’s drum: Möglicherweise hatte sich ja in deutschen Landen seit den Zeiten Friedrichs des Ersten irgendetwas getan, das die Leute, den Alltag und die Zeit betraf, aber es scheint sich auf einer nachgeordneten Ebene abgespielt zu haben, hatte in den selbstbezogenen, großen Erzählungen noch keine Priorität. Das Lied „Die Wacht am Rhein“, bereits 1840 geschrieben, aber erst ab 1870 zu einer Art inoffiziellen Nationalhymne geworden, beschwört à la Hölty Treue und Frömmigkeit, nun ergänzt um Stärke, Donner, Blitz und Fahnen – für die Erwähnung der Pünktlichkeit scheint der Dichter jedoch beim Sturm zum Rheine keine Zeit mehr gehabt zu haben. Karl May schließlich, der von seinen Landsleuten immer noch gern geschmähte Nationalschriftsteller der Wilhelminischen Ära, beschrieb seine deutschen Helden, seien es Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, zuvörderst als Präzisionsschützen mit für ihre Gegner überraschender Körperstärke, dabei auch noch christlich und irgendwie ritterlich; pünktlich waren sie nur im Nebenberuf. Die ebenfalls unfehlbar treffsichere Wikipedia raunt im Zusammenhang mit Pünktlichkeit und deutschen Tugenden etwas von Industrialisierung, dem Beginn des Kaiserreichs oder kulturellen Differenzen zu kolonisierten Völkern, erklärt aber auch nicht zufriedenstellend, wie die Pünktlichkeit auf die oberen Plätze in den teutonischen Tugendcharts vorrückte, denn die übrigen Industrienationen waren in puncto punctuality nicht viel anders gestrickt, ohne groß darauf herumzureiten.
Vielleicht war, wie so oft, der Zweite Weltkrieg daran nicht unschuldig. Nach 1945 kamen die in der Wacht am Rhein besungenen Tugenden selbst bei uns Deutschen nicht mehr ganz so gut an, das Wirtschaftswunder tat sein Übriges. Das kriegerische Selbstbild wurde krämerisch, Einhaltung von Lieferfristen und redliches Geschäftsgebaren gingen nun Hand in Hand wie früher Nibelungentreue und Dolchstoßlegende, so dass die Pünktlichkeit bei der Suche nach einem neuen Nationalimage ganz zwanglos zum Tüpfelchen auf dem i wurde, zumal das Ausland felsenfest davon überzeugt war, dass sie bei uns gleich nach der Sauberkeit käme und weit vor der demokratischen Gesinnung. Eine Identität funktioniert schließlich als soziales Konstrukt erst dann, wenn die Anderen glauben, dass sie essentiell wahr sei.
Pünktlichkeit mauserte sich zu einer deutschen Kardinaltugend und damit zu einem der vielen Lackmustests für die Frage, ob man ein richtiger Deutscher sei, ob man dazugehöre oder nicht. Und da die Beiträge in dieser Rubrik ja davon handeln sollen, was man als Einwanderer über die Deutschen wissen sollte, will ich nun endlich auf jenen Punkt zu sprechen kommen. Wie viele – wenn nicht alle – solcher Zugehörigkeitskriterien tritt einem die Pünktlichkeit dabei mit der Würde der Scheinheiligkeit entgegen. Denn seien wir ehrlich: Jeder, der Land und Leute wirklich kennt, weiß, dass die Pünktlichkeit heutzutage komplett auf den Hund gekommen ist. Die einzige pünktliche deutschsprachige Kultur, die ich noch kenne, ist die der Deutschschweizer, doch das sind wiederum Schweizer (und auch die werden immer laxer). Weshalb die Antwort auf die im Titel nahegelegte Frage lautet: Man muss über die Pünktlichkeit vor allem das wissen, was die Deutschen gar nicht wollen, dass man es weiß. Lassen Sie mich also ein bisschen Hochverrat betreiben.
Wie auch andere deutsche Tugenden ist Pünktlichkeit etwas, das Deutsche in erster Linie von anderen Deutschen erwarten, aber bei sich selbst gerne mal großzügiger auslegen. Da jedoch dabei der Schein gewahrt werden muss, darf man das nicht zu plump machen. Jeder Unmensch kann andauernd zu spät kommen, doch der gute Deutsche macht das mit selbstgerechter Finesse.
Zunächst einmal ist es unabdingbar, dass man einen Termin präzise ausmacht und dabei durchblicken lässt, welchen enormen Wert man auf verlässliche Absprachen lege. Dann kommt man natürlich trotzdem zu spät, denn wer ist schon so spießig, dauernd pünktlich sein zu wollen? Die Deutschen haben hierfür mehrere Kulturtechniken entwickeln, von denen ich die drei wichtigsten kurz vorstellen möchte.
Die sogenannte „Ehrliche“ Methode: Das Zuspätkommen wurde durch höhere Gewalt verschuldet. Eine solche Begründung wird generell akzeptiert, setzt aber ein plausibles critical event voraus, das leider nicht immer zur Hand ist, wenn man es braucht. Zudem ist das Argument der higher forces durch einen inflationären Gebrauch seitens notorischer Verspätungsproduzenten wie der Deutschen Bundesbahn, dem Berliner Flughafenkonsortium und ähnlichen Täterorganisationen arg in Verruf gebracht worden.
Die Methode der Traditionalisten: Sie existiert in einer akademisierten und in einer bildungsfernen Variante. An einer deutschen Universität gibt es für alle Lehrveranstaltungen, aber auch für interne Sitzungen und dergleichen klare Zeitansagen, an die man sich zu halten hat, sowie zwei kleine Buchstaben, die das mit der Pünktlichkeit regeln: Cum tempore (c.t.) und sine tempore (s.t.). Im ersten Fall hat man das verbriefte Recht, eine Viertelstunde später aufzutauchen, im zweiten Fall nicht. Deutsche Akademiker kommen grundsätzlich und überall zu spät, können sich aber immer darauf berufen, dass sie ein Opfer ihres akademischen Habitus seien. Außerhalb der Universität existiert dieses Privileg in der sprichwörtlichen Variante: Wer auf sich hält, kommt zu spät. Aber hier ist Vorsicht geboten, weil die Methode das Risiko beinhaltet, als Arroganz und Größenwahn interpretiert zu werden. Diese Methode funktioniert eigentlich nur in der nun folgenden Variation des Themas.
Die Methode der Sieger: Arbeitsüberlastung. Dieser Trick wirkt immer und hat gegenüber anderen Taktiken sogar den Vorteil, das schäumende Gegenüber trotz des eigenen Zuspätkommens in ein schlechteres Licht zu setzen. Jederzeit kann man unvorhersehbare Telefonate, nicht enden wollende Meetings und dergleichen vorschützen, für die man sich selbstredend entschuldigt, die jedoch – darauf braucht man nicht zu verweisen, das versteht sich vielmehr von selbst – natürlich viel wichtiger waren als diese mediokre Verabredung, zu der man gerade zu spät kam, und wenn besagtes Gegenüber mal in sich ginge, würde es selbst erkennen, dass es von vorneherein überhaupt kein Anrecht darauf hatte, von einer so wichtigen Persönlichkeit pünktliches Erscheinen zu erwarten. Jeder tadelnde Verweis auf das Zuspätkommen ist nun nur noch kleinlich, egomanisch und selbstgerecht. Dabei immer um Verzeihung heischend lächeln – die Spitze wirkt ohnehin, man muss es nicht übertreiben. Richtig präsentiert, schlägt die Überlastungsphrase eine hervorragende Brücke zu so kulturell relevanten Gesprächsthemen wie Work-Life-Balance, Gesundheitstipps, etc. Damit ist dann echte Integration, mehr noch: Inklusion erreicht. Funktioniert besser als zu behaupten, man habe kürzlich mal wieder Bratwurst mit Sauerkraut gegessen. Niemanden schließt der Deutsche schneller ins Herz als jemanden, der ebenso so gut wie er Überlastung simulieren kann.
Ja, sie ist ein gar kompliziert Ding geworden, die Pünktlichkeit. Man könnte auch sagen, dass sie sich internationalen Gepflogenheiten angepasst habe, aber dann wäre es ja keine deutsche Tugend mehr.