Prof. Dr. Claus Melter – Hochschule Bielefeld
Rassismus kann mit Dileta Fernandes Sequeira (2015) verstanden werden als sequentielles Trauma. Traumata können nur sinnvoll bearbeitet werden, wenn die Gewalt beendet wird, wenn sichere Räume geschaffen werden. „Es ist wohlbekannt, dass sowohl djejenige Person, die ein Trauma zufügt, als auch diejenige, die es erfährt, dieses in einer psychischen Gruft begraben und weiter machen kann als sei nichts geschehen. Der/die Traumatisierte betrauert nicht den erlittenen Verlust und der/die Traumatisierende bekennt sich nicht zum vergangenen Verbrechen, denn ein verleugnetes Verbrechen lässt sich nicht betrauern und ein geleugnetes Verbrechen nicht anerkennen. (…) Das bedeutet, es gibt keine wirkliche Verheilung, und die Wunde eitert innerlich weiter, um die Zukunft heimzusuchen.“ (Ngugi wa Thiongo 2015)
Die Traumata von Kolonialismus, Nationalsozialismus und gegenwärtigem Rassismus können nicht verheilen, da die Gewalt des Rassismus fortdauert.
Theodor W. Adorno schreibt in seinem bedeutsamen erziehungswissenschaftlichen Text „Erziehung nach Auschwitz“ von der allerersten Forderung an Erziehung, dass Auschwitz nie wieder sei. Auschwitz ist der Name der stellvertretend für das systematische Morden in den Konzentrationslagern, die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten und den Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden steht sowie für die Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma, Homosexuellen, als „asozial“ kategorisierten Personen und anderen. Eine Gruppe der Verfolgten und Ermordeten im nationalsozialistischen „Deutschen Reich“ waren Menschen, die als „krank“, „behindert“, „lebensschwach“ galten, denen teils das Menschsein abgesprochen wurde. Eine der Mordstätten, wo „Kranke“ und „Behinderte“ getötet wurden, war Hadamar. Die Taten in Hadamar und Auschwitz beruhen auf Ideologien und Handlungsmustern, die in Teilen bereits im Kolonialismus ausgeübt wurden: „Rassen– und „Volks“-Ideologie, Vernichtungspläne, Ideologien der Überlegenheit und gesetzliche Unterschiede für definierte Gruppen.
Eine Erziehung nach Auschwitz sollte daher sinnvollerweise auch die von Deutschen verübten Völkermorde an den Herero und Nama (1904- 1907) im heutigen Namibia und den Völkermord an den Maji Maji (1905-1907) im heutigen Tansania berücksichtigen. Es braucht eine Erziehung nach Windhuk und Songea.
Auch nach 1945 werden Ideologien der Ungleichheit, rechtliche und soziale Ungleichheit, Praxen von racial profiling und das Behindert-Werden von Menschen ausgeübt. Dass die Gewalt weitergeht zeigt der Name Lampedusa als Name für Ideologie und Praxis der „Festung Europa“, ein Name für die europäische Sterben-Lassen-Praxis vor allem Menschen afrikanischer Herkunft im Mittelmeer. Die Praxis der Nicht-Verfolgung rassistischer Morde wird durch den Namen NSU verdeutlicht. Es ist institutioneller Rassismus das nicht die rassistischen Täter verfolgt wurden, sondern ausschließlich Personen „mit Migrationshintergrund“ verdächtigt wurden, während als „weiß“ und „deutsch“ kategorisierte Personen das Privileg gegeben wurde, nicht verdächtigt und verfolgt zu werden.
Wie kann nun eine Bildung und Erziehung nach Windhuk und Songea, eine Bildung und Erziehung nach Auschwitz und Hadamar, eine Bildung und Erziehung nach Lampedusa und NSU zusammen gedacht und umgesetzt werden?
- Als erstes gilt es, die einzelnen Zeiten, Herrschafts-, Gewalt- und Widerstands-Praxen genau kennen zu lernen, zu lesen, zu recherchieren, und zwar besonders die Texte und Perspektiven der Verfolgten im Sinne eines „Nichts über uns ohne uns!“.
- Dann gilt es die Frage zu stellen, welche Lehren und Handlungsideen aus der Auseinandersetzung mit dieser Zeit jeweils gezogen werden.
- Dann können Gemeinsamkeiten, Kontinuitäten und Unterschiede der verschiedenen Herrschafts-, Gewalt- und Widerstands-Praxen analysiert werden.
- Da Geschichte und Gegenwart geteilte Geschichte (shared history_herstory) ist, sollten gemeinsame Interaktionsverhältnisse thematisiert werden, aber auch der getrennte Umgang mit Geschichte(n). Juden und Jüdinnen haben andere Erfahrungen gemacht als die nicht-jüdischen Täter*innen und Privilegierten im Nationalsozialismus. Gleiches gilt für die angegriffenen und widerständigen Gruppen in anderen Herrschaftsverhältnissen gegenüber den Angehörigen der Täter*innen, der Dominanzgesellschaft.
- Daher braucht es 1) gemeinsame Thematisierungsräume, 2) geschützte Räume für diskriminierungs-/behinderungs-/rassismuserfahrener Personen und 3) Räume für Angehörige der Dominanzgesellschaft.
- Strategien, Methoden und Bündnisse für das Beenden oder Verringern der Gewalt des Rassismus (institutionell, interaktiv, diskursiv, strukturell und auf der Ebene von Subjektivierung) sollten konkretisiert und in Forderungen benannt und umgesetzt werden:
Dekoniale Forderungen sind u.a. die Anerkennung der Tatsache des Völkermords an Herero und Nama im heutigen Namibia und an den Maji Maji im heutigen Tansania durch die deutsche Bundesregierung, verbunden mit Reparationen und Entschuldigung, mit Landreformen/-enteignung des geraubten Landes, mit der Rückgabe der geraubten Gebeine und Schädel sowie der Kunstgegenstände, der deutsche Staatsangehörigkeit für Personen aus den ehemaligen von Deutschland beherrschten Kolonien (falls dies gewollt wird seitens der ehemals kolonisierten und ihren_unseren Nachfahren), keine Abschiebung von Menschen in ehemals kolonisierter Länder, gerechtere Wirtschaftsbeziehungen , Analyse von Kolonialpädagogik und kolonialer Bilder
Forderung der Entnazifizierung sind u.a. die Auseinandersetzung mit Entstehungsbedingungen, Handlungsspielräumen, Handlungspraxen und Widerständen im Nationalsozialismus. Wer war wie an Privilegierung und Diskriminierung, an Entrechtung, Deportation und Mord beteiligt? Welchte Mittäter*inenschaft und welchen Widerstand gab es? Notwendg ist die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), mit 17 Millionen Mitgliedern die größte Massenorganisation und Organisationseinheit der Sozialen Arbeit und ein zentraler Baustein in der Herstellung der Zustimmung zum Nationalismus in der Dominanzgesellschaft. Notwendig ist auch eine Benennung von Logiken und Verantwortlichkeiten der Morde an „Kranken“ und „Behinderten“ sowie der heutige Umgang mit „eugenischen“ Logiken.
Entrassistisierende Forderungen sind u.a. die Einrichtung von unabhängigen Antidiskriminierungs-/Antirassismus-Beratungsstellen mit der Begleitung von diskriminierungserfahrenen Personen, der Dokumentation und Bestandsaufnahme von Situation, Handlungen und Beteiligten aus der Perspektive der Adressat*innen. Später müssen Diskriminierende Stellung beziehen, bei Wunsch der Adressat*in ein gemeinsames Gespräch stattfinden. Und nach der Analyse des Geschehenen kann eine Sanktionierung erfolgen. Es muss eine Analyse von Schulbüchern, Lehrmaterialien und öffentlichen Diskursen in rassismuskritischer Weise erfolgen. ….
Gegenüber Nationalismus muss analysiert werden, ob innerhalb des Landes bestimmte nationale Gruppen bevorzugt oder benachteiligt werden. Haben Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit formal oder/und informell weniger Rechte? Wie wird mit ungleichen Rechten in Bezug auf unterschiedliche Aufenthaltstitel umgegangen? Wie kann eine gerechte Weltwirtschaft aussehen, die nicht auf nationalistischer oder EU-zentrierter Ausbeutung basiert? Die Grenze nationalstaatlicher Diskriminierung müssen die gleichen Rechte und die gleiche Würde aller Menschen sein. Diese Anrechte konkretisieren und dafür streiten.
- Und es stellt sich die Frage wer bildet wie die Lehrenden und Fortbildner*innen für diese Bildungsarbeit? Wer lehrt aktuell an Schulen, Hochschulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen und Projekten und wie kann es geschafft werden, dass auch bei Lehrenden die Vielfalt der Gesellschaft verwirklicht und nicht von „weißen“ Angehörigen der Dominanzgesellschaft dominiert wird? Wie werden Lehrende gebildet und erzogen und wie bilden und erziehen Lehrende sich? Wessen und welches Wissen wird vermittelt?
Literatur:
Adorno, Theodor W. (1950/1973): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a.M.:Suhrkamp.
Fernandes Sequeira, Dileta (2015): Gefangen in der Gesellschaft – Alltagsrassismus in Deutschland. Rassismuskritisches Denken und Handeln in der Psychologie. Marburg: Tectum Verlag
wa Thiong’o, Ngugi (2011): Lehren der Sklaverei. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.) (2011). Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster, Unrast: S. 100-102