Wohnen, ein Dach über dem Kopf, eine funktionierende Heizung und der Schutz der Privatsphäre durch vier Wände, war schon immer Ware, in den letzten Jahren scheint der Kampf um Wohnraum jedoch wieder schärfer zu werden. Die Mieten in Deutschland – insbesondere in den Großstädten – sind innerhalb der letzten Jahre nahezu ungezügelt in die Höhe gegangen. Der Gesetzgeber hat diese Entwicklung registriert und scheint sie billigend in Kauf zu nehmen. Maßnahmen wie etwa das Baukindergeld oder die Mietpreisbremse, von denen behauptet wird, der Entwicklung entgegenzuwirken, funktionieren nicht. So heißt es im aktuellen Frühjahrsgutachten der ZIA: „Nicht zuletzt dürften Maßnahmen der Bundesregierung im Rahmen der Wohnraumoffensive einen Anteil an weiteren Preissteigerungen haben. Förderprogramme, wie etwa das Baukindergeld, dürften kaum zu mehr Wohnraum führen, sondern vielmehr den Druck auf die Preise weiter verstärken […].“ (ZIA 2019, S. 73)[1] Auch die Interpretation einiger Vertreter*innen von Politik und Wirtschaft von Wohnungsnot als eine Not der Mittelschicht, nicht mehr in der Lage zu sein, sich das gewünschte Eigenheim problemlos zu finanzieren, geht an der tatsächlichen Wohnungsnot in Deutschland vorbei. Wenn von Wohnungsnot die Rede ist, muss Wohnungsnot angesprochen werden als ein Problem von Menschen im Niedriglohnsektor, im Sozialleistungsbezug, in Armut und in Wohnungslosigkeit. Wenn von Wohnungsnot die Rede ist, muss da hingeschaut werden, wo es wirklich weh tut.
Die gravierenden Folgen der Entwicklung am Immobilienmarkt in Deutschland sind steigende Zahlen von Wohnungslosen und eine zunehmende Belastung aller Bürger*innen in Armut. Nach einer Prognose der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. stieg die Zahl der Wohnungslosen von 860.000 im Jahr 2016 auf 1,2 Millionen Ende 2018[2]. Neben der steigenden Zahl an Wohnungslosen ist auch zu beobachten, dass Personen im Sozialleistungsbezug massiv unter steigenden Mieten leiden. So wurden im vergangenen Jahr beispielsweise von insgesamt rund 16,4 Milliarden Euro Miete lediglich rund 15,9 Milliarden Euro übernommen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Summe der Menschen im Hartz IV-Bezug 2018 insgesamt rund 540 Millionen Euro aus den Regelleistungen zahlen mussten, die eigentlich für Nahrungsmittel und Dinge des täglichen Bedarfs gedacht waren[3].
Im Grunde sollte dies jedoch wenig wundern, da es eine logische Folge ist, wenn weite Teile des Immobilienmarkts in Großstädten renditeorientierten Unternehmen überlassen werden und Politik wie Verwaltung keinerlei ernsthafte Bestrebungen an den Tag legen, die Preis- und Miettreiberei am Wohnungsmarkt zu begrenzen[4]. Doch was bedeutet dieser hinlänglich bekannte Befund für eine Gesellschaft, die sich selbst formal verpflichtet, Menschenrechte und Menschenwürde zu achten und zu schützen?
Im Status Quo nimmt die Bundesregierung seit Jahren billigend in Kauf, dass große Teile der Bevölkerung in Folge des Abbaus des Sozialstaats, einer Entrechtung von Arbeitnehmer*innen und Sozialleistungsbezieher*innen sowie einer Deregulierung des Marktes quasi vogelfrei gemacht werden. Wohnungslos zu sein bedeutet, ausgeschlossen zu sein von Bürger- und Menschenrechten[5], sie ist eine der krassesten vorstellbaren Bedrohungen der körperlichen wie psychischen Integrität innerhalb eines reichen Landes wie Deutschland. Personen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, erfahren von vielen Kommunen in Deutschland jedoch kaum Unterstützung. Sie werden kriminalisiert, mit allen Mitteln aus den Innenstädten vertrieben und an den Rand der Gesellschaft, in letzter Konsequenz an den Rand der Existenz gedrängt. Der Einsatz für Wohnungslose sieht dann vielerorts so aus, dass ehrenamtliche Suppenküchen eingerichtet werden und es temporäre Unterkünfte gibt, welche weit entfernt sind von einem Wohnen in Menschenwürde. So ist die Not zwar noch da, aber zumindest nicht mehr allzu sichtbar, sodass kostenintensivere Maßnahmen umgangen werden können. Viel zu groß ist bei vielen Kommunen die Angst, dass eine zu wohlwollende Politik gegenüber Wohnungslosen sogenannte „Sogwirkungen“ mit sich bringt, ein Kalkül, welches an Menschenverachtung kaum zu überbieten ist.
Sich für die Menschenrechte von Wohnungslosen und Menschen in Armut einzusetzen muss jedoch bedeuten, den Willen aufzubringen, dies bedingungslos zu tun ohne Kosten-Nutzen-Kalkulationen und dies auch in einer Art und Weise zu tun, die nicht bloß paternalistische Geste ist, sondern finanziell spürbar Besserung mit sich bringt.
Es sollte im Grunde der Schluss gezogen werden, dass die bisherigen (Nicht-)Entscheidungen und Politiken fundamentale Menschenrechte ausgehöhlt und ignoriert haben[6]. Zunehmende Wohnungslosigkeit und zunehmende Belastungen durch Armut sind mitunter die schärfsten Bedrohungen für eine Demokratie. Sie sind Folge von Politik, die Standortlogiken des Neoliberalismus der Wahrung von Menschenrechten vorziehen und es scheut, notwendige Investitionen zu tätigen. Doch tatsächlich wird in der breiten gesellschaftlichen Debatte um Armut kaum über die Probleme von Wohnungslosen, geschweige denn deren Ursachen gesprochen.
Es ist insbesondere in den Großstädten deutlich zu beobachten, dass zunehmende Privatisierung, der Verkauf von städtischem Wohneigentum und eine abnehmende Zahl von Sozialwohnungen die zentralen Gründe für die Not am Wohnungsmarkt sind. Dem kann nur begegnet werden, indem der Staat anfängt, Wohneigentum zurück in die öffentliche Hand zu führen und so den Einfluss von gewinnorientierten Vermietern einzudämmen. Notwendig hierfür ist selbstverständliche eine neue Priorisierung im Haushalt.
In Berlin läuft derzeit ein Volksbegehren, welches zum Ziel hat, private Wohnungsbaugesellschaften, welche einen Bestand von mehr als 3.000 Wohnungen haben, gemäß Artikel 15 zu enteignen[7]. Die Reaktionen auf diese Forderung waren in weiten Teilen durchschaubar wie vorhersehbar, zu teuer, nicht rechtens und unrealistisch sei das Vorhaben – ungefähr so lässt sich der größte Teil kritischer Reaktionen auf das Volksbegehren zusammenfassen. Gleichzeitig wird jedoch billigend und laufend in Kauf genommen, dass der Staat selbstverständlich private Haus- und Wohnungseigentümer enteignet, wenn es um den Bau von Autobahnen[8], Flughäfen oder Bahnstrecken oder den Braunkohleabbau geht. So ein Handeln kann nur als zynisch betrachtet werden und ist Ausdruck einer Wohnungs- und Sozialpolitik, welche ihre Handlungen längst nicht mehr an dem Wohl von Bürger*innen, sondern in erster Linie nach neoliberalen Kriterien des Wachstums und der Standortsicherung orientiert.
Statt wirtschaftlichen Interessen privater Unternehmen blind zu folgen, gleichzeitig die wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit seit Jahren in Kauf zu nehmen[9] und sich um eine konsequente Umverteilung zu drücken, kann nur ein radikaler Politikwechsel die Lösung sein. Auf die Frage, ob Enteignungen großer privatwirtschaftlicher Wohnungsbaugesellschaften ein Mittel zur Bekämpfung der Wohnungsnot auf Dauer darstellen: Aus meiner Sicht ja. Wohnen ist ein Menschenrecht, welches ich derzeit in Deutschland für viele Menschen gefährdet sehe und welches geschützt werden muss durch entsprechende Maßnahmen. Dies ist keine Frage des Wollens, sondern des Müssens.
[1] https://www.zia-deutschland.de/fileadmin/Redaktion/Meta_Service/PDF/Immoweisen_2019_web.pdf
[2] http://www.bagw.de/de/themen/zahl_der_wohnungslosen/index.html
[3] Es handelt sich hierbei um eine eigene Berechnung mithilfe der Berichttabellen der Bundesagentur für Arbeit, bei der die Differenz zwischen den tatsächlichen und den als Bedarf anerkannten Mieten im gesamten Jahr 2018 berechnet wurde. Die Tabellen sind unter https://statistik.arbeitsagentur.de/nn_1021940/SiteGlobals/Forms/Rubrikensuche/Rubrikensuche_Form.html?view=processForm&resourceId=210368&input_=&pageLocale=de&topicId=1023396&year_month=201901&year_month.GROUP=1&search=Suchen abrufbar.
[4] Vgl. Butterwegge, Christoph (2014): Sozialstaatsentwicklung, Armut und Wohnungslosigkeit. In: Keicher, Rolf/ Gillich, Stefan (Hg.): Wenn Würde zur Ware verkommt. Soziale Ungleichheit, Teilhabe und Verwirklichung eines Rechtes auf Wohnen, Wiesbaden. S. 19-32.
[5] Vgl. Wagner, Thomas (2012): Bürger oder „Bettler“? – Soziale Arbeit zwischen Bürgerrechten und Entbürgerlichung. In: Gillich, Stefan/Keicher, Rolf (Hg.): Bürger oder Bettler. Soziale Rechte von Menschen in Wohnungsnot im Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung, Wiesbaden. S. 171-186.
[6] So ist die Bundesregierung speziell seit der Ratifikation des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gem. Art. 11 Abs. 1 ICESCR verpflichtet, für eine ausreichende Unterkunft für jede*n zu ermöglichen.
[7] https://www.dwenteignen.de/warum-enteignen/forderungen/
[8] Der Bundestagsabgeordnete Sven Kindler stellte im April 2019 eine Anfrage an die Bundesregierung bzgl. laufender Enteignungsverfahren in Deutschland. Die Antwort: aktuell laufen 65 Enteignungsverfahren für den Bau neuer Auto- und Bundesbahnen. https://twitter.com/sven_kindler/status/1123834040044400640
[9] Vgl. Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2017), S. 501 ff. https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/5-arb-langfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=6