Die bisherige Forschung zu Bildungsbeteiligung, Bildungserfolg und Berufskarrieren von Schülern mit Zuwanderungsgeschichte ist fokussiert auf die Gründe des Scheiterns und hat deren Potenziale kaum im Blick. Dominant ist eine sozialpädagogisch motiviert fürsorgliche Haltung, die den „armen und benachteiligten Migranten“ helfen will. Doch dass diese Gruppe möglicherweise über außergewöhnliche Fähigkeiten, Kenntnisse und Talente verfügt, ist ein Gedanke, der das pädagogische Glaubenssystem bisweilen strapaziert.
Um welche Potenziale handelt es sich dabei? Diese lassen sich zunächst in nicht-kognitive (psychologische Resilienz- und Erfolgsfaktoren wie hohe Selbstwirksamkeit, Motivation und Ehrgeiz, familiale Bindungen, unterstützendes soziales Umfeld etc.) sowie kognitive (überdurchschnittliche intellektuelle Begabungen, Bilingualität etc.) differenzieren. Im pädagogischen Alltag werden sie selten erkannt bzw. systematisch verkannt; insofern sind sie auch kaum Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse. Dass etwa ein Kind mit türkischen Wurzeln neben dem Deutschen auch seine Muttersprache gut sprechen kann und damit ein deutlich erweitertes sprachliches Lexikon aufweist, wird kaum gewürdigt.
Ziemlich lange Zeit betrug bspw. der Anteil von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte in Hochbegabtenförderprogrammen sowohl in angelsächsischen Ländern als auch in Deutschland zwischen 4 bis 9 Prozent; gleichwohl es einen Konsens darüber gibt, dass Hochbegabung in allen Kulturen und Kontexten vorkommt (Stamm, 2007), und zugleich erdrückende empirische Evidenz dafür, dass der Anteil von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte an der Gesamtbevölkerung deutlich höher – etwa bei zwischen 30 bis 40 % – liegt. Das heißt also, bei einer fairen Zuweisung müsste deren Anteil bei den Förderprogrammen etwa ähnlich sein, also um rund ein Drittel liegen.
Auf diese Unterrepräsentation bestimmter ethnischer Gruppen ist in der US-amerikanischen Forschung mehrfach eingegangen worden (Callahan, 2005; Neumeister et al. 2007); in der deutschsprachigen Forschung hat sich bislang Margit Stamm (2009) dieser Fragestellung intensiv gewidmet, wobei sie sich in ihrer Forschung weitestgehend auf die Schweiz konzentriert.
Die Gründe für diese Verkennung sind in folgenden Aspekten zu sehen, die hier nur skizzenhaft wiedergegeben werden und Gegenstand einer längeren Monographie des Autors sind:
1. Kulturell-gesellschaftliche Konzeptionen von Begabungen und Talenten
2. Testdiagnostische Verzerrungen
3. Verzerrungen in der Lehrerwahrnehmung
4. Verzerrungen in der Selbstwahrnehmung von Zugewanderten
Was ist damit etwas genauer gemeint?
1. Konzepte von psychischen Ressourcen sowie Begabungen und Talente sind nicht kulturfrei, sondern unterliegen einer inexpliziten kulturellen Verzerrung: vielfach führen sie deshalb zu einer Unterrepräsentation von Schülern mit Zuwanderungsgeschichte, weil kulturspezifische Begabungen/Talente zu wenig berücksichtigt oder gewürdigt werden (Tan, 2008). Die Vorstellung, was als besonders gut und wer als begabt gilt, gehorcht spezifischen gesellschaftlichen Vorstellungen; insbesondere spiegeln sich darin die Ideale der herrschenden (Mittel- und Oberschicht) Gruppen wider. Zuwanderer in Deutschland, vor allem jene aus der Türkei, rekrutieren sich jedoch weitestgehend aus unteren Schichten bzw. anderen Milieus. So wird bspw. das außergewöhnliche Talent eines Saz-spielers weniger erkannt als die außergewöhnliche Fähigkeit einer Person, Geige oder Piano zu spielen, einfach weil das erste Musikinstrument in Deutschland noch zu wenig bekannt ist und wir bzw. eine Jury nicht einschätzen kann, ob eine bestimmte Aufführung, durchschnittlich, gut oder außerordentlich gut ist.
2. Bereits bei der Konstruktion und Eichung bzw. der Ermittlung von Eichnormwerten gebräuchlicher Begabungs- und Intelligenztests ist bislang kulturelle Vielfalt zu wenig berücksichtigt worden (Barkan & Bernal, 1991). Darüber hinaus verzerren sprachgebundene bzw. sprachlastige Wissens- und Intelligenztests oft die Ergebnisse, wenn die Person bzw. der Schüler nur geringe Deutschkenntnisse hat und u.a. die Instruktion nicht ganz versteht. Zu bedenken ist auch, dass abgefragte Wissensinhalte in Intelligenz-Tests für Zuwanderer nicht dieselbe Alltagsrelevanz haben bzw. denselben lebensweltlichen Kontexten entstammen wie für Einheimische und deshalb nicht immer angemessen sind.
3. Lehrkräfte weisen vielfach eine höhere kulturelle Ähnlichkeit im Lebensstil, in ihren Werthaltungen und Weltsichten mit einheimischen (Mittelschicht-)schülern auf, sehen, erkennen und fördern die Potenziale dort eher als bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte, so etwa, wenn diese bspw. eine sehr kreative Sprachverwendung in der Muttersprache haben, aber nur ein rudimentäres Deutsch sprechen. Die Frage jedoch, ob diese eine außergewöhnlich elaborierte Sprachverwendung in ihrer Muttersprache bzw. Erstsprache haben, wird kaum gestellt bzw. überprüft.
4. In einigen Fällen haben Zugewanderte den gesellschaftlichen Blick auf sie und ihre soziale Einschätzung so sehr verinnerlicht, dass dieses zu einem Bestandteil des Selbstbildes geworden ist und sie ihrerseits kaum an eigene besondere Begabungen und Talente glauben oder diese als eine Besonderheit wahrnehmen. Nicht zuletzt verengen in bestimmten Konstellationen auch Eltern die intellektuellen Potenziale ihrer Kinder auf gesellschaftlich akzeptierte und unmittelbar konvertierbare Formen symbolischen Kapitals: so sind Eltern mit Zuwanderungsgeschichte z.B. oft weniger bereit, ästhetische, expressive, poetische Talente ihrer Kinder zu erkennen bzw. diese zu fördern und auszubauen (wie übrigens vor einigen Generationen in Deutschland auch), weil diese mit einem geringeren Prestige in den Herkunftsländern verbunden sind und sie über gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten mit diesen Berufen in Deutschland zu wenig vertraut sind; noch sind sie angemessen mit den vorhandenen Förderprogrammen für besonders talentierte/begabte Kinder in der Bildungslandschaft vertraut. Das Kind soll ein Ingenieur oder Arzt werden, aber kein Literat oder Musiker, weil die erstgenannten Berufe einen sozialen Aufstieg versprechen, Künstlerkarrieren jedoch starke ökonomische Unsicherheiten mit sich bringen, die – verständlicherweise – für Familien mit Zuwanderungsgeschichte das zentrale Motiv der Migration, und zwar ein ökonomisch besseres Leben, in Frage stellen.
Wenn berücksichtigt wird, dass ein großer Teil der Eltern der Zweitgeneration weder das Bildungs-, noch das Schulsystem in Deutschland ausreichend kannte und deshalb die hier groß gewordene zweite Generation nicht, wie ihre deutschen Altersgenossen, sich darauf verlassen konnte, dass ihre Schulkarriere von ihren Eltern mitarrangiert bzw. angeleitet werden wird, dass sie also kaum auf eine familiale Tradition des Universitätsbesuchs zurückgreifen konnte, dann ist rückblickend anzunehmen: Bildungserfolgreiche Zuwanderer verfügen über eine hohe Fähigkeit zur „Selbstplatzierung“. Sie sind also in der Lage gewesen, ihre Schullaufbahn von früh auf selber zu steuern und ihre Interessen gegenüber schulischen und behördlichen Instanzen selber angemessen zu vertreten, was insofern ein Indikator für ausgesprochen starke psychische Ressourcen und Belastbarkeiten darstellt. Dies scheint nicht nur bei der zweiten Generation der 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts, sondern auch bei den gegenwärtig Studierenden der Fall zu sein (Vgl. Lang, Pott & Schneider, 2016).
Diese starken kognitiven wie psychischen Ressourcen gilt es, künftig deutlich stärker in der pädagogischen Arbeit und Forschung in den Blick zu nehmen und selbstkritisch bei der Zuweisung von Schülern mit Zuwanderungsgeschichte auf ihre eventuell unerkannten Potenziale zu achten (Vgl. ausführlich Uslucan, 2015).
Literatur:
Barkan, J. H. & Bernal, E. M. (1991) Gifted education for bilingual and limited English proficient students. Gifted Child Quarterly, 35, 144-147.
Callahan, C. M. (2005). Identifying gifted students from underrepresented populations. Theory into Practice, 44 (2), 98-104.
Lang, C., Pott, A. & Schneider, J. (2016). Unwahrscheinlich erfolgreich: Sozialer Aufstieg in der Einwanderungsgesellschaft (IMIS-Beiträge 49/2016), Osnabrück: IMIS.
Neumeister, K. L. S., Adams, C. M., Pierce, R. L., Cassady, J. C., & Dixon, F. A. (2007). Fourth grade teachers perceptions of giftedness: Implications for identifying and serving diverse students. Journal for the Education of the Gifted, 30,479-499.
Stamm, M. (2007). Begabtenförderung und soziale Herkunft. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 27, 227—242.
Stamm, M. (2009). Begabte Minoritäten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Tan, D. (2008). Migration als Chance. In: M. Adelmann (Hrsg.), Zukunft braucht Begabung – Begabung braucht Zukunft. 30 Jahre Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGHK), S. 243–260. Münster: LIT.
Uslucan, H.- H. (2015). Kulturelle und Curriculare Barrieren der Potenzialentfaltung von Zuwanderern. In S. Keuchel & V. Kelb (Hg.), Diversität in der Kulturellen Bildung (S. 59-73). Bielefeld: transcript.