Prof. Dr. Peter Rödler | Universität Koblenz-Landau
Liebe Leserinnen und Leser,
in seinem äußerst fragwürdigen Buch ‚The end of history and the last man‘ (Fukuyama 2006) behauptet dieser mit dem Erreichen der Ebene der liberalen Demokratien sei ein endgültiges Ende des Fortschritts der Gesellschaftsentwicklungen im Sinne Hegels erreicht. Verkürzt: Alle Mythen seien ausgeräumt und das freie Recht des säkularen Individuums habe sich durchgesetzt. Gesellschaftlicher Ausdruck dessen sei die globale Verbindlichkeit des Kapitalismus, als der Organisationsform, die sich jenseits jeglicher Werte und Ideologien alleine durch ihr eigenes ökonomisches funktionieren legitimiert.
So sehr diese These schon – wie er auch selbst zugibt – von den Dynamiken der islamischen Gesellschaften – und nicht nur islamistischen Fundamentalisten – wie auch der fortdauernden und in Bezug auf die Stellungnahmen des Papstes Franziskus zunehmenden Bedeutung der katholischen Kirche konterkariert wird, stellt sich hier auch die Frage nach säkularen Widersprüchen in und gegenüber dieser Position.
Auch die Aussage der EU-Beauftragten der USA (Obama) Victoria Nuland „Fuck the EU!“ im Rahmen amerikanischer Überlegungen der Steuerung des Ukraine Konflikts am 4. Februar 2014 (nur 14 Tage vor der endgültigen Eskalation auf dem Maidan) zeigt deutliche Interessen in der Tradition Rumsfelds (Bush-Regierung), der das ‚alte Europa‘ (Deutschland, Frankreich) von den ‚neuen‘ (osteuropäischen)Staaten‘ unterschied, die sich im Rahmen des 2. Irak-Krieges in die ‚Allianz der Willigen‘ einreihten.
Vor diesem Hintergrund erscheint die These von Fukuyama als offensichtlich absurde Behauptung zur Flankierung der Interessen einer international vernetzten amerikanischen Geldelite: nicht der Rede wert. Bei genauerem Hinsehen beinhaltet diese Behauptung aber dennoch einen diskussions- und reflexionswürdigen Aspekt. Hinweis hierauf ist die Disqualifikation der europäischen Gründungsstaaten Deutschland und Frankreich als ‚alt‘ und verbraucht.
Trotz der deutlich unterschiedlichen Bedeutung des Nationalen in diesen beiden Ländern eint sie aber dennoch – neben der Erfahrung zweier fürchterlicher Kriege und einer bis heute tragfähigen Aussöhnung – eine geschichtliche Basis von gelungenen demokratischen Revolutionen (Frankreich 1789, Deutschland 1989), d.h. der Begriff der Freiheit ist hier ein Begriff der Freiheit ZU bestimmten Werten für die erfolgreich gekämpft wurde. In Rumsfelds Einschätzung, wie der Bemerkung Nulands kommt dagegen eine entfesselte ‚Freiheit VON allen Werten‘ zum Ausdruck, die die amerikanische Politik seit George W. Bush kennzeichnet und heute durch den Stil Trumps nur besonders deutlich offensichtlich wird. Man bedenke hier auch, dass Obama zwar in Bezug auf Klima und Sozialstruktur Fortschrittliches in Amerika leistete, außenpolitisch aber mit dem Drohnenkrieg weiter in dieser, das Völkerrecht missachtenden Kontinuität handelte
Es ist dieser Unterschied Freiheit für demokratische Werte oder Freiheit als totale Forderung, als scheinbar allgemein befreiender Selbstzweck (Fukuyama), der, wie ich meine, in dieser Form geschichtlich erstmalig, die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen weltweit bestimmt.
Was ist das Besondere an dieser Situation? Das entscheidend Neue ist, dass die gesellschaftliche Führung – Politiker*innen, Eliten – nicht als Identifikationsfiguren im Zusammenhang mit irgendeiner Utopie, Wertesystem, Vision, Plan über ihr gelebtes Eigeninteresse – das ja auch den Bürgern zugestanden wird – hinaus zur Verfügung stehen. Diese Politik, in Deutschland von Kohl eingeführt und von Merkel bruchlos weiter geführt, definiert sich alleine über das ‚Weiter-so‘ des Vorhandenen und ist deshalb natürlich gerade in ängstigenden Umbruchzeiten ein sehr starkes Argument sie zu wählen; … zumindest so lange bis die dadurch nicht angegangenen und deshalb ungelösten Probleme so groß werden, dass sie nicht mehr ignoriert werden können.
Ein weiterer stabilisierender Effekt ist die Tatsache, dass in dem so ‚gesteuerten‘ System keine für die vorhandenen gesellschaftlichen Realitäten verantwortliche Person erkennbar ist. Die Gegenwart scheint irgendwie ‚naturwüchsig‘ schicksalhaft gegeben, so dass die Politiker*innen selbst nur noch den behauptet ‚alternativlosen‘ Anforderungen der Realität entsprechen. Es gibt für die Bürger, die die Folgen dieses Systems spüren, so letztlich keinen Gegner und damit keine Handlungsoption. Die eigentlichen steuernden Akteure und ihre Interessen bleiben unerkannt im Hintergrund (‚leading from behind‘) – Finanzwirtschaft (Black Rock, Pricewaterhouse), global agierende Firmen (Auto- und Rüstungsindustrie) oder Medienkonzerne (Bertelsmann, Springer) – oder diese tarnen sich als ‚neutrale‘, unideologisch nur auf Fakten (Ratings, Rankings …) bezogene Teile des Systems (OECD, CHE).
Besonders dramatisch ist diese Situation auch deshalb, weil seit den ‘90er Jahren selbst die Wissenschaft dieser Ideologie eingefügt wurde. Der schrittweise Rückzug des Staates aus der Verantwortung für die Hochschulen durch die Deregulation des Hochschulwesens seit den 1990er Jahren führte nicht zu einer größeren universitären Freiheit sondern zu einer völligen Abhängigkeit der neuen ‚unternehmerischen‘ Universität von Ressourcengebern und deren Bedingungen. Maßgeblicher Player waren hierfür die PISA Vergleichsuntersuchungen der OECD und das Centrum für Hochschulentwicklung CHE, eine Kooperation der Bertelsmann Stiftung mit der Kultusministerkonferenz, mit seinen über die ZEIT veröffentlichten Universitäts-Rankings.
Dass es hierbei gar nicht um die Validität dieser veröffentlichen Ergebnisse, sondern vorrangig um die Unterwerfung unter die diesen zugrundeliegenden Parameter ging, zeigt sich daran, dass z.B. der FB 1 der Universität Koblenz-Landau, der Juli 2009 – zeitgleich mit der Kieler mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät – aus der Mitarbeit am CHE-Ranking ausstieg, d.h. sich weigerte, für dieses Ranking, das als methodisch problematisch, wissenschaftlich einseitig und damit wissenschaftspolitisch schädlich bewertet wurde, weiter Daten zur Verfügung zu stellen, dennoch weiter im Ranking gelistet wurde, z.T. sogar mit besseren Plätzen. Bestätigt wurde diese Entscheidung später durch gleichlautende Begründungen der Deutschen Gesellschaften für Soziologie DGS (Juni 2012) und Erziehungswissenschaft DGfE (Sept. 2012) dafür, Ihren Mitgliedern auch den Boykott dieser Untersuchungen zu empfehlen.
Trotz dieser ja im sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereich hochrangigen Interventionen ging die beschriebene Praxis quantitativ output-orientierter Wissenschaftssteuerung bis heute weiter und hat zu einer völligen Dominanz ‚evidenzbasierter Empirischer Forschung‘ auf allen Ebenen geführt. Sie beherrscht die, selbstverständlich peer-reviewten, Fachzeitschriften ebenso wie die Drittmittel-Vergabe durch BMBF und DFG, was insbesondere bei den jungen Akademikern zu einer völligen Monokultur entkontextualisierter, methoden-orientierter Wissenschaft führt, da die Einwerbung von Drittmitteln in diesem Szenario zu ein wesentlichen Aspekt bei der Bewerbung um eine Hochschulstelle geworden ist.
Dafür, dass ich hier der Geschichte keine ‚Verschwörungstheorie‘ unterlege und es sich bei alledem wirklich um auf internationaler Ebene geplante Steuerung politischer Prozesse handelt, steht der folgende Auszug aus einem ‚Policy Brief‘ der OECD: „Nach dieser Beschreibung riskanter Variablen, können wir nun viele Variable aufzeigen, die keine politischen Schwierigkeiten machen. Sehr grundlegende Einschnitte in das öffentliche Investment oder das Beschneiden betrieblicher Aufwendungen, um das Finanzdefizit zu reduzieren, beinhalten kein politisches Risiko. Wenn betriebliche Aufwendungen beschnitten werden, darf der Umfang der damit verbundenen Angebote nicht beschnitten werden, auch wenn die Qualität darunter leidet. So können die Aufwendungen für Schulen und Universitäten zum Beispiel zwar beschnitten werden, es wäre aber gefährlich die Zahl der Studierenden zu senken. Familien werden stürmisch reagieren, wenn ihren Kindern der Zugang verwehrt wird, nicht aber bei einer allmählichen Abnahme der Qualität der angebotenen Erziehung und die Schule kann dann zunehmend und für bestimmte Zwecke einen Beitrag von den Familien verlangen oder eine vorhandene Aktivität beenden. Dies soll nach und nach stattfinden, in der einen Schule aber nicht in deren Nachbarschule, so dass jede generelle Unzufriedenheit in der Bevölkerung vermieden wird.“ (Morrison 1996, S. 28 [Übers.: Rödler])
Diese Entkontextualisierung von Bildung und Wissenschaft wurde allerdings ebenfalls durch die Ablehnung der Wertediskurse der Moderne durch die Postmoderne verstärkend mitbewirkt. Hier wird der (wissenschaftliche) Diskurs um Zwecke, der sich über die Annahme einer prinzipiell erreichbaren Wahrheit angreifbar macht und an Widerspruchsfreiheit bindet, abgelöst durch Erzählungen (Narrative), die den Anspruch an mögliche Wahrheit aufgegeben haben und damit auch nicht mehr angreifbar sind. Der Diskurs um Werte und die Bedeutung von Institutionen wird abgelöst durch Effektivitätsuntersuchungen an der Funktion (outcome) von Organisationen sowie deren strukturellen oder kommunikativen Elemente.
Letztlich kommt es hier zu einer hohen Kohärenz dieser Richtungen mit der oben beschriebenen output-orientierten Empirischen Forschung: der Diskurs um Zwecke wird weitestgehend exkludiert und Forschung kümmert sich fast vollständig nur noch um Funktionen, d.h. produktive Prozesse, ihre Voraussetzungen, Mittel und Methoden.
„Auf dem Gebiet der Wissenschaft entstand durch das dogmatische Beharren auf Rationalismus, Objektivität und methodologischer Einseitigkeit sowie den Glauben an wertfreie, unpolitische Sozialwissenschaften und an die Vorteile universeller Theorien (einhergehend mit der Ablehnung kontextabhängiger Teiltheorien) eine neue Art des Fundamentalismus, der die ‘wissenschaftliche Methode’ zum pseudoreligiösen Grundsatz erhoben hat. Der späte Ernest Gellner brachte das – durchaus positiv gemeint – auf den Begriff ‚Aufklärungsfundamentalismus‘ “. (Elkana und Klöpper 2013, S. 33–34)
Wir sehen, dass sich, so gesehen, weder in den politischen noch in den wissenschaftlichen gesellschaftlichen Gruppen Angebote finden die einen Hintergrund für soziale Beziehungen, GemeinSinn und Verantwortung bieten. Das ‚freie‘ Individuum wird so einsam in der Masse der ebenfalls Isolierten. Die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Gestaltung geht verloren und die oben beschriebenen politischen Kräfte haben freie Bahn:
“Der mathematische Formalismus aber, dessen Medium die Zahl, die abstrakteste Gestalt des Unmittelbaren ist, hält stattdessen den Gedanken bei der bloßen Unmittelbarkeit fest. Das Tatsächliche behält recht, die Erkenntnis beschränkt sich auf seine Wiederholung, der Gedanke macht sich zur bloßen Tautologie. … Denn Mythologie hatte in ihren Gestalten die Essenz des Bestehenden: Kreislauf, Schicksal, Herrschaft der Welt als die Wahrheit zurück gespiegelt und der Hoffnung entsagt. ” (Horkheimer und Adorno 1947, S. 39–40)1
Die Welt heute geht jedoch über diesen Punkt der entkulturierten Vergötterung der Tatsächlichkeit noch hinaus, da sie mit der Finanzwirtschaft einen eigenen quasi-faktischen Marktbereich geschaffen hat, der weitestgehend losgelöst von den tatsächlichen Ressourcen funktioniert. Ein extremes Beispiel ist hierfür der Handel mit Grundnahrungsmitteln an der Börse: „Unbestritten ist, dass an den Agrarbörsen zunehmende Finanzgeschäfte getätigt werden, die mit dem direkten Handel der Nahrungsmittel nichts mehr zu tun haben“ (planet schule), allerdings weltweit (!) deren Preis bestimmen und damit die Lebensgrundlagen in Ländern in Entwicklung zunehmend bedrohen. Diese Entkoppelung der letztlich virtuellen Finanzwelt vom realen Markt ermöglicht es dem neoliberalen Kapitalismus, den zyklischen Krisen realer Märkte mit ihren Sättigungs- und Ressourcenmangel-Problemen zu entgehen.
Allerdings gilt dies nur für die, deren Kapital für die Teilnahme an diesem globalen Monopoly ausreicht. Die Menschen aber, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft wie auch ihr Unternehmertum (!!!) auf dem REALEN Markt zu bewähren werden von dem unersättlichen Bedarf an Liquidität der Finanzsphäre erdrosselt: “Die Explosion der Kapitalmärkte: Werte in der Finanzwirtschaft übersteigen die Werte im Bereich der Realen Wirtschaft um etwa das 25-fache“
(Gresh et al. 2009, S. 46–47).
Diese Grafik zeigt die durchschnittlichen Umsätze in Mrd. Dollar die 2007 (!) weltweit pro Tag gehandelt wurden. Der obere Balken zeigt links (dunkel) bis etwa 150 Mrd. den traditionellen börslichen Handel. Dies entspricht in etwa dem Gesamtwert der weltweiten Produktion von Gütern und Dienstleistungen (mittlerer Balken), wobei der eigentliche reale Welthandel (unterer Balken) nur einen Bruchteil davon beträgt. Entscheidend ist aber der weitere obere Balken, der zeigt, dass die Devisenmärkte mit zusätzlich ca. 1.500 Mrd. Dollar und die sonstigen Finanzprodukte mit ca. 4.000 Mrd. Dollar Tagesgeschäft zu Buche schlagen. D.h. die gesamte weltweite Produktivität ist über 30-fach in diesen Werten überschritten. Die Stützung dieser Blase verschlingt denn auch den weitaus größten Teil des neuen Geldes, den die Notenbanken (EZB, FED) den Märkten zur Verfügung stellen. Der normale Markt wird von dieser Geldschwemme nicht nur nicht erreicht, sondern durch die niedrigen Zinsen werden auch noch die Rücklagen der Bürger vernichtet.
Dieser kleine ökonomische Ausflug zeigt, dass die beschriebene Flucht vor den systematischen Krisen des Kapitalismus nur scheinbar gelingt, da dieses ‚Spiel‘ nur so lange funktioniert, wie alle daran glauben oder zumindest mitspielen. Dabei muss allerdings bedacht werden, dass ein Ausstieg aus diesem System nur radikal – wahrscheinlich letztlich nur über eine Art Währungsreform – möglich ist, da ein großer Teil der gesellschaftlichen Ausgaben (Renten …) mit der Weile auf der Basis dieser Blasengelder finanziert sind. Die Tatsache, dass in der Währungskrise nicht die Staaten, sondern deren Banken mit dieser Geldflut gerettet wurden, trieb die Staaten dann in eine immer größere Abhängigkeit von der Finanzindustrie.
Ich hoffe, es ist klar geworden, dass hinter der scheinbar unideologischen ‚freiheitlichen‘ Erscheinungsform der neoliberalen Gesellschaften ‚Player‘ mit massiven Interessen und einer über die Kräfte einzelner Staaten weit hinaus gehenden (Finanz-)Macht stehen, die sich allerdings nicht zeigen und damit keine Angriffsfläche bieten – beispielhaft z.B. die Freihandelsabkommen, die völlig intransparent verhandelt wurden und selbst den hierüber entscheidenden Politikern nur sehr beschränkt Einblick in die Ergebnisse gewährt wurde.
Es wird zunehmend absehbar, dass die Menschen, vor allem die, denen bei dem vorhandenen Arbeitssteuerungs- (Hartz IV…), Innovations-, Qualitäts-, Konzentrations- und Leistungsdruck Abstieg droht, sich eben doch Bedeutungsfelder und Sinnhaftigkeiten suchen. Solange das privat bleibt und evtl. sogar mit Konsum verbunden ist, ist das ja sogar erwünscht (kleine Fluchten haben reproduktiven Charakter).
Dieser Rückzug der Bürger gegenüber dieser als unkontrollierbar erlebten Bedrohung in das Hier-und-jetzt des Privaten wie auch deren Empfänglichkeit für Populisten mit einfache Sicherheitskonzepte und Problemlösungen wie die Bedeutung von Heimat (Volk), Nation und Fremdenfeindlichkeit – d.h. Angebot von identifizierbaren Gruppenkulturen (WIR) – ist vor diesem Hintergrund mehr als verständlich! Die komplizierte, kulturell anspruchsvolle demokratische ‚Mündigkeit‘ wird nicht mehr als funktional erlebt und die Verantwortung für das eigene Handeln wird an Instanzen abgegeben, die nicht nur Sicherheit zu gewährleisten scheinen, sondern mit dem ‚WIR‘-Gefühl auf Demonstrationen und Kundgebungen dem Einzelnen auch den Eindruck einer Wiedergewinnung gesellschaftlicher Stärke ermöglichen.
Dies ist offensichtlich ein in der westlichen Hemisphäre weit verbreitetes Phänomen wie die entsprechenden Prozesse in Ungarn, Polen, Großbritannien (Brexit), Österreich, den USA, der Türkei und auch Israel, wo solche Positionen mit der Weile staatstragend wurden, zeigen. So verständlich dies allerdings in unserem Zusammenhang ist, so dramatischer sind aber auch die Folgen dieser Entwicklung, da sie die Staaten untereinander und auch die Bevölkerungen in den Staaten selbst spalten. Diese Polarisierungen führen dann aber zu so kleinen Einheiten, dass wiederum verhindert wird, dass gegenüber den beschriebenen neoliberalen Dynamiken eine Gegenkraft entsteht UND die globalen, also nur gemeinsam lösbaren Probleme (KLIMA) gelöst werden können.
Selbst in den USA führt Trumps ‚Amerika first!‘, das scheinbar erst einmal die Interessen der amerikanischen Bürger vertritt, letztlich zu einer Stärkung der neoliberalen Finanzwirtschaft, nicht nur, weil Trump hier auch eigene Interessen vertritt, sondern auch weil sein populistischer Aktionismus amerikanische politische Interessen z.T. massiv verletzt und die globalen Finanzkräfte gleichzeitig zunehmend entfesselt.
Was nützt aber nun diese Analyse einer Endzeit, die eben nicht (Fukuyama) dauerhaft werden wird, sondern durch die Größenordnung der weltweiten Prozesse einen katastrophischen Zusammenbruch, eine Implosion von Werten und Kultur erahnen lässt? Es ist die Klarheit, dass eine Gegenbewegung nur durch eine Rekultivierung der Gesellschaften im Sinne eines vielfältigen Gemeinsinns (Kontexte), einer Freiheit nicht voneinander, sondern mit und wegen aller Verschiedenheit zueinander, möglich werden wird.
„Wo kein echtes Gespräch mehr wäre, wäre auch kein Gedicht mehr, wogegen im Dunkel einer geistig unproduktiv gewordenen Welt noch immer je zwei zuverlässige Anrufer einander helfen könnten, aus dem Bestand der Sprache schöpfend einander das gemeinsame Erleiden zu sagen.“ (Buber 1996, S. 8)
Diese Rekultivierung ist ohne eine gleichzeitige Resozialisierung nicht denkbar. Deshalb müssen die vorhandenen Gesellschaftsinstanzen in Europa insbesondere die Brüsseler aber auch die Deutschen Institutionen transparenter gestaltet werden, so dass ein Mitdenken überhaupt wieder möglich wird. Gleichzeitig müssen Formen gefunden werden, die den Bürgern auch einen für sie vernehmbaren Einfluss auf die staatlichen wie Europäischen Institutionen erlauben. Ein solcher Versuch ist DIEM 25 (Democracy in Europe Movement 2025)[1], eine 2016 gegründete pro Europäische Bewegung, die auch zur Europawahl antritt und die den Zustand der Europäischen Institutionen heftig kritisiert und diesen gegenüber ihre Weiterentwicklung zu einer Verfassung im Sinne einer Gründung der Vereinigten Staaten von Europa mit entsprechenden transparenten und demokratischen Institutionen anstrebt.
Natürlich wird jede solche Bewegung, sobald sie eine Größe erreicht hat, die sie breit wahrnehmbar macht, von den traditionellen Leitmedien ob ihres Anspruchs lächerlich gemacht oder als linke Ideologie gegeißelt werden. Allein welche Alternativen bestehen? Gelingt diese Demokratisierung durch Rekultivierung nicht, wird Europa durch die beschriebenen Polarisierungs- und Spaltungsprozesse zerfallen. Trump ist in der kaum nachahmlichen Offenheit seines Agierens als Menetekel hierfür sogar günstig. Die Frage ist allerdings, ob das noch vor dem drohenden Zusammenbruch zu schaffen ist oder ob es die Destruktion des Zusammenbruchs der vorhandenen Systeme braucht, um dann aus dem Leiden dieser Situation heraus die Bereitschaft für solche neuen Wege zu finden, was angesichts der vorhandenen weltweiten Machtmittel sicher fürchterliche Folgen hätte.
Vor diesem Hintergrund kann man nur hoffen, dass das System des Neoliberalismus ohnehin dabei ist, sich zu überleben, so dass wieder neue Freiräume entstehen, die im Sinne der hier eingeklagten Rekontextualisierung des Gesellschafts- und insbesondere des Wissenschafts- und Bildungssystems genutzt werden könnten. Das mag utopisch klingen, aber haben wir eine humane Alternative?
“Es geht nicht an, das als utopistisch zu bezeichnen, woran wir unsere Kraft noch nicht erprobt haben.” (Buber 1950, S. 18)
[1] https://diem25.org/main-de/
Literaturverzeichnis
Buber, Martin (1950): Pfade in Utopia. 1. Aufl. Heidelberg: Lambert Schneider GmbH.
Buber, Martin (1996): Das Wort, das gesprochen wird. In: Jutta Vierheilig, Willehad Lanwer-Koppelin und Martin Buber (Hg.): Martin Buber – Anachronismus oder neue Chance für die Pädagogik? 1. Aufl. Butzbach-Griedel: AFRA-Verl (Reflexe pädagogischer Studien – Hg.: Peter Rödler, 1), S. 7–16.
Elkana, Yehuda; Klöpper, Hannes (2013): Die Universität im 21. Jahrhundert. Für eine neue Einheit von Lehre, Forschung und Gesellschaft. 1. Aufl. s.l: edition Körber-Stiftung. Online verfügbar unter http://ebooks.ciando.com/book/index.cfm/bok_id/833273.
Fukuyama, Francis (2006): The end of history and the last man. With a new afterword. 1. Free Press trade paperback ed., [Nachdr.]. New York, NY: Free Press.
Gresh, Alain; Rekacewicz, Philippe; Bauer, Barbara (2009): Atlas der Globalisierung. Deutsche Ausg. /. Berlin: Monde Diplomatique/TAZ Verlags- und Vertriebs.
Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente ; [Friedrich Pollock zum 50. Geburtstag]. Unter Mitarbeit von Friedrich Pollock. 1. Aufl. Amsterdam: Querido-Verlag.
1 Internetdokument
Morrison, Christian (1996): The Political Feasibility of Adjustment. Hg. v. OECD (POLICY BRIEF, No. 13). Online verfügbar unter http://www.oecd.org/dev/1919076.pdf, zuletzt geprüft am 05.11.2018.
planet schule: Hintergrund: Börse und Spekulation. Online verfügbar unter https://www.planet-schule.de/wissenspool/mais-eine-pflanze-zwischen-hunger-und-profit/inhalt/hintergrund/boerse-und-spekulation.html, zuletzt geprüft am 26.12.2018.
Anschrift des Verfassers: Prof. Peter Rödler proedler@uni-koblenz.de