Syrien blickt auf eine jahrhundertealte Tradition als Zentrum von Bildung, Kultur und Wissenschaft zurück – von der Antike bis in die Gegenwart. Angefangen damit, dass die Stadt Ugarit im Norden Syriens eine der ältesten bekannten Alphabetschriften entwickelte und damit einen Meilenstein in der Geschichte der Schriftkultur setzte. Während der islamischen Blütezeit im Mittelalter festigte Syrien seinen Ruf als Wissenszentrum: Städte wie Damaskus und Aleppo beherbergten bedeutende Schulen und Universitäten, die Gelehrte aus aller Welt anzogen und zur Bewahrung und Weiterentwicklung von Wissen beitrugen.
Mit der osmanischen Herrschaft ab dem 16. Jahrhundert veränderte sich das Bildungssystem. Religiöse Schulen dominierten, doch gleichzeitig wurden moderne Bildungseinrichtungen eingeführt. Unter dem französischen Mandat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert erfuhr das Bildungssystem eine weitere Modernisierung. Die Kolonialmacht förderte die Verbreitung von Schulen und die Alphabetisierung der Bevölkerung. Zwischen 1920 und 1946 war Syrien unter französischem Völkerbundmandat, was maßgebliche und anhaltende Spuren im Bildungssystem hinterließ (vgl. Frankenfeld 2015/Online).
Seit der Unabhängigkeit Syriens im April 1946 erlebte das Land insbesondere im Bildungswesen einen bedeutenden positiven Aufschwung, woraufhin sich die Regierung dazu entschied, den Bildungssektor weiter zu fördern und sich vor allem auf die Entwicklung einer gebildeten Bevölkerung zu fokussieren. Der damalige Präsident Hafez Al-Assad sah den Bildungssektor als Schlüssel zur Stärkung des Landes, weshalb er im Rahmen seiner Politik das Ziel verfolgte, Bildung in allen Bereichen zu verbessern, den Zugang zur Bildung für alle Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten und eine neue Generation, die sich um das gesellschaftliche Wohl bemüht, heranzubilden (vgl. Chikhou 2025). Trotz der vielen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, die Syrien im Laufe der Jahrhunderte erlebt hat, konnte die Tradition der Bildung bewahrt und weiterentwickelt werden. Auch unter der Herrschaft der Al Asad Diktatorenfamilie spielte Bildung eine bedeutende Rolle, da sie unter anderem selbst auch Hochschulabschlüsse besaßen und viel Wert auf die Bildung ihrer Kinder legten. Die Priorisierung von Bildung spiegelte sich darin wider, dass sie während ihrer Herrschaft den Anteil der Bildungsausgaben im Staatshaushalt auf über 15 Prozent erhöht haben (vgl. Frankenfeld 2015/Online).
Die Verfassung der Arabischen Republik Syrien postuliert das demokratische Prinzip der Bildung (Zugang für alle) sowie die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Gleichheit aller Bürger. Beispielweise besagt Artikel 37: “Bildung ist ein vom Staat garantiertes Recht und in ihrer Grundschulphase obligatorisch und kostenlos in allen Stufen. Der Staat arbeitet daran, Bildung auf höhere Ebenen auszudehnen und sie zu lenken, um eine Verbindung zwischen Bildung und den Bedürfnissen der Gesellschaft und der Produktion herzustellen.” Auch Artikel 32 aus dem Jahr 2002, der die Zusammenlegung der Grund- und Sekundarstufe zu einer einzigen Stufe namens „Grundbildung“ vorsah, welche von der ersten bis zur neunten Klasse reicht, belegt, dass das demokratische Prinzip der Bildung in diesem Kontext eine tragende Rolle einnimmt (Aus dem Arabischen übersetzt ).
Bis kurz vor dem Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011 wurde das Bildungssystem in Syrien als eines der fortschrittlichsten im Nahen Osten angesehen. Es beruhte auf kostenfreier Schulbildung und einer Schulpflicht für Kinder bis zum 15. Lebensjahr bzw. bis zur neunten Klasse. Vor 2011 lag die Einschulungsquote bei etwa 99 Prozent, und die Analphabetenrate unter jungen Syrer:innen betrug nur fünf Prozent. Diese Erfolge waren das Ergebnis jahrzehntelanger Investitionen in den Bildungssektor, die Syrien zu einem Vorbild in der Region machten.
Der Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011 hatte verheerende Auswirkungen auf das syrische Bildungssystem. Millionen von Kindern wurden durch die Gewalt aus ihrem Alltag gerissen, Schulen wurden zerstört oder als Unterkünfte für Geflüchtete genutzt, und viele Lehrkräfte mussten ihre Arbeit unter schwierigsten Bedingungen fortsetzen oder flohen ins Ausland. Die Infrastruktur wurde durch den Krieg stark in Mitleidenschaft gezogen, und eine Vielzahl von Schulen wurde zerstört oder zweckentfremdet. Seitdem steht das Bildungssystem vor noch nie dagewesenen Problemen, die eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen bedrohen. Die Zahl der Menschen mit körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen ist infolge des Krieges in Syrien deutlich gestiegen. Deshalb setzen sich zahlreiche Organisationen und Behörden intensiv dafür ein, die negativen Auswirkungen auf diese Menschen zu mildern und sie durch gezielte Unterstützungsmaßnahmen zu entlasten.
Neben dem Zugang zu Bildung steht die Vermeidung von Diskriminierung und Mobbing im Fokus, da solche Erfahrungen das Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen erheblich einschränken können. Die Umsetzung der schulischen Inklusion in Syrien, die immer schon und auch nach dem Kriegsausbruch weiterhin Thema war, steht vor zahlreichen Hindernissen, die sowohl strukturelle als auch personelle und gesellschaftliche Aspekte betreffen. Während politische Rahmenbedingungen für Inklusion auch weiterhin geschaffen wurden, bleibt die praktische Umsetzung aufgrund der vielfältigen Herausforderungen erschwert. Im Mittelpunkt stehen dabei Gleichberechtigung, soziale Gerechtigkeit und der Schutz vor Diskriminierung, wie es in der syrischen Verfassung verankert ist (vgl. Syriandays 2024). Shahida Salloum, die Vorstandsvorsitzende des Autismus-Zentrums in der Stadt Latakia, betont, dass das Inklusionsgesetz die sozialen, praktischen und pädagogischen Bedürfnisse dieser Zielgruppe umfassend berücksichtigt. Dieses Gesetz garantiert ihnen das Recht auf Bildung, Arbeit, gesellschaftliche Teilhabe und ein würdevolles Leben. Gleichzeitig fördert es soziale und humanitäre Gerechtigkeit, ein besonders wichtiges Anliegen angesichts der steigenden Zahl von Menschen mit Beeinträchtigungen infolge des Terrorkriegs, den Syrien erlitten hat. Auch Fatma Ajam Ugli, Vorsitzende der Raja Organisation für Menschen mit Beeinträchtigungen in der Stadt Homs, hebt die Bedeutung des Inklusionsgesetzes hervor. Sie betont, dass die neuen Verfassungsregelungen dazu beitragen, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Zudem verschärfen sie die Strafen für Missbrauch und Ausbeutung dieser Menschen. In Syrien existiert eine Vielzahl von Gesetzen, die die Förderung der Bildung von Kindern zum Ziel haben. Allerdings konnten nur wenige Entwürfe identifiziert werden, die speziell auf die Bedürfnisse von Kindern mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen eingehen (vgl. sana 2024).
Trotz dieser enormen Herausforderungen gibt es zahlreiche Beispiele für die Widerstandsfähigkeit und den Willen der syrischen Gesellschaft, Bildung auch in Krisenzeiten aufrechtzuerhalten. Heute steht das Bildungssystem in Syrien vor einer doppelten Herausforderung: dem Wiederaufbau der Infrastruktur und der Bewältigung der sozialen und psychologischen Folgen des Krieges sowie den verursachten körperlichen Einschränkungen. Zwar gibt es Bemühungen, Schulen wieder aufzubauen und Lehrer weiterzubilden, doch der Mangel an Ressourcen bleibt weiterhin ein großes Problem. Viele Kinder und Jugendliche, die während des Krieges keinen Zugang zu Bildung hatten, müssen die verlorene Zeit aufholen, was zusätzliche Unterstützung erfordert (vgl. Annasser, 2023). Gleichzeitig spielen syrische Geflüchtete im Ausland eine wichtige Rolle bei der Wahrung und Weiterentwicklung des syrischen Bildungserbes. In vielen Ländern haben Geflüchtete eigene Bildungsinitiativen ins Leben gerufen, um Kinder zu unterrichten und ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Diese Initiativen sind ein Zeichen der Hoffnung und zeigen, dass Bildung auch unter den schwierigsten Bedingungen erfolgen kann. Dennoch bleibt Bildung in Syrien wie auch in der Diaspora ein kostbares Gut und ein Träger von Hoffnungen für die Zukunft.
Trotz der enormen Herausforderungen werden weiterhin Anstrengungen unternommen, um das Bildungswesen aufrechtzuerhalten und wiederaufzubauen. Bildung wird nicht nur als Schlüssel zur Bewältigung der aktuellen Krise gesehen, sondern auch als Grundlage für den langfristigen Wiederaufbau des Landes und der Schaffung von Perspektiven für die kommenden Generationen (vgl. b&w, Cendrese 2015/Online).
Die Zukunft der Bildung in Syrien hängt von mehreren Faktoren ab: dem politischen Willen zum Wiederaufbau, der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft und dem Engagement der syrischen Gesellschaft selbst. Eine mögliche Vision könnte ein inklusives und modernes Bildungssystem sein, das alle Kinder unabhängig von ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft erreicht. Auch die Digitalisierung könnte eine wichtige Rolle spielen, um den Zugang zu Bildung in entlegenen Gebieten zu erleichtern. Darüber hinaus könnte die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen dabei helfen, Lehrpläne zu modernisieren und Lehrkräfte weiterzubilden. Langfristig besteht die Hoffnung, dass Bildung nicht nur ein Mittel zur Wissensvermittlung bleibt, sondern auch eine Brücke für Versöhnung und Wiederaufbau in einer zerrissenen Gesellschaft bildet. Ein beeindruckendes Beispiel ist die Arbeit von NGOs und lokalen Initiativen, die provisorische Schulen in Geflüchtetenlagern und zerstörten Städten errichtet haben. Eltern und Lehrer setzen alles daran, Kindern weiterhin Zugang zu Bildung zu ermöglichen, oft sogar unter Lebensgefahr. Und trotz der Widrigkeiten haben viele syrische Schüler ihren Bildungsweg fortgesetzt und dabei bemerkenswerte Leistungen erzielt.
Trotz aller Herausforderungen bleibt Bildung in Syrien ein wertgeschätztes Gut, das tief in der Kultur und Geschichte des Landes verwurzelt ist. Der Weg in die Zukunft ist zwar steinig, doch die Widerstandsfähigkeit und der Einsatz der syrischen Gesellschaft geben Anlass zur Hoffnung. Mit einer klaren Vision und ausreichender Unterstützung könnte das Bildungssystem in Syrien nicht nur wiederaufgebaut, sondern auch modernisiert werden, um künftigen Generationen eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
Chirin Chikhou Bonn, 16.03.02025
Literarturverzeichnis:
Annasser, Y. (2023): دمج المعوّقين مع عجلة الحياة في سوريا. مشروع إنساني وصعوبات اجتماعية. Inklusion von Behinderten in das Rad des Lebens in Syrien. Ein humanitäres Projekt und soziale Schwierigkeiten. Online unter: https://www.almayadeen.net/society/دمج–المعوقين–مع–عجلة–الحياة–في–سوريا–مشروع–إنساني–وصعوبات–اج abgerufen am 23.11.2024
Frankenfeld, Th. (2015): BILDUNGSSYSTEM. Darum sind so viele syrische Flüchtlinge gebildet. Online unter: https://www.abendblatt.de/politik/ausland/article205638663/Darum-sind-so-viele-syrische-Fluechtlinge-gebildet.html abgerufen am 17.06.2024
b&w, Cendrese S. (2015): Syrien war das Bildungsland der arabischen Welt, online unter: https://www.gew-bw.de/aktuelles/detailseite/syrien-war-das-bildungsland-der-arabischen-welt abgerufen am 11.12.2024
Saloum, Sh; Ajam Ugli, F. (2024): Vertreter von Nichtregierungsorganisationen an SANA: Der Gesetzentwurf über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist ein qualitativer Sprung zur Gewährleistung ihrer Rechte und zur Förderung ihrer Teilhabe an der Gesellschaft. Soziale Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderungen verwirklichen. Online unter: https://www.sana.sy/?p=2093052 angerufen am 08.11.2024
Syriandays (2024): مشروع قانون الأشخاص ذوي الإعاقة نقلة نوعية لضمان حقوقهم وتعزيز مشاركتهم بالمجتمع. Der Entwurf des Gesetzes über Menschen mit Behinderungen ist ein Quantensprung zur Gewährleistung ihrer Rechte und zur Förderung ihrer Teilhabe an der Gesellschaft. Online unter: https://www.syriandays.com/index.php?page=show_det&select_page=43&id=76158 abgerufen am 22.10.2024
Chikhou, Ch (2025): Inklusion im syrischen Bildungssystem während des Bürgerkriegs: Herausforderungen und Chancen, Masterarbeit. Fachbereich Bildungswissenschaften, Universität Koblenz.