Wer sich in Deutschland mit dem Thema Bilingualismus befasst, hat es mit einem durch und durch politischen Thema zu tun. Wer dem Thema Zuwanderung offen gegenüber steht, hat ziemlich häufig eine positive Sicht auf bilinguale Konzepte. Einwanderungsskeptiker betonen Studien, die auf gravierende Schulleistungsrückstände von Kindern mit Migrationsgeschichte hinweisen. Die politische Auseinandersetzung über Zuwanderung nach Deutschland steuert also die Wahrnehmung von Forschungsprojekten. Das ist vielleicht nachvollziehbar. Wer aber wirklich versucht, einen einigermaßen klaren Blick auf das Geschehen zu werfen, dürfte ziemlich bald feststellen: Belastbare Antworten auf nahe liegende Fragen sind beim derzeitigen Stand der deutschsprachigen Forschung kaum möglich. Und selbst dann, wenn man die englischsprachige Forschung hinzu nimmt, bleiben vielen Fragen letztlich kaum geklärt oder ungeklärt.
Dass Kinder mit Migrationsgeschichte im Bildungssystem der Einwanderungsländer schlecht abschneiden, ist häufiger Befund auch deutschsprachiger Untersuchungen. Dieser Befund findet sich z. B. regelmäßig in den PISA-Studien. Und so hat sich in der Öffentlichkeit eingeprägt, dass es ein Problem ist, wenn Kinder Eltern haben, die nicht aus Deutschland kommen, dass Bilingualität für schlechte Schulleistungen sorgt. Ein näherer Blick auf die Studienlage zu diesem Thema zeigt allerdings, dass zwar einige Migrantenkinder mit eher schlechten Schulleistungen in deutschen Schulen zu finden sind. Aber es gibt ebenso Kinder mit Migrationsgeschichte, die vergleichbare Leistungen wie monolingual deutschsprachige Schüler zeigen. Und es gibt sogar bilinguale Schülergruppen, die überdurchschnittliche Leistungen entwickeln. Relevant ist dabei weniger der Umstand, ob ein Elternteil oder beide Elternteile nicht in Deutschland geboren wurden, oder ob die Eltern nicht-deutsche Sprachen sprechen. Sondern bedeutsam ist, woher die Eltern kommen und welche Sprache gesprochen wird. Bedeutsam ist, ob die Eltern gebildet sind. Bedeutsam ist, ob die Eltern eher arm oder reich sind. Anders formuliert: Die Lese- /Schreibentwicklung muss als ein komplexes Geschehen verstanden werden, an dem sehr viele Variablen beteiligt sind.
Nun ist eine kleine empirische Studie abgeschlossen worden, die versucht, diese multikausale Sicht auf das Thema Bilingualität näher in den Blick zu nehmen. Das ist kein einfacher Forschungsansatz. Denn wer von einem komplexen Geschehen ausgeht, muss auch viele Einflussfaktoren untersuchen. Wichtig ist darüber hinaus, Kinder über einen längeren Zeitraum zu beobachten, also eine sogenannte Längsschnittstudie durchzuführen. Die Dortmunder Wortschatzstudie versucht genau dies. Sie untersucht mehrere Dimensionen auf einmal. Und sie ist eine Längsschnittstudie. Sie erhebt z. B. die Einschätzungen von Erzieherinnen zu Bildungsvariablen im Elternhaus. Sie basiert auf der Testung von Wortschatz (in der Kindertagesstätte), Rechtschreibung (in der ersten Klasse der Grundschule) und Lesen (in der zweiten Klasse der Grundschule). Die Studie begann 2012 . Die letzten Lesetests wurden 2017 durchgeführt. In zwei Kindertagesstätten des Ruhrgebiets erklärten sich die Eltern von 71 von insgesamt 123 in Frage kommenden Kindern mit einer Testung ihrer Kinder einverstanden. Die Stichprobe reduziert sich bis zum Ende des zweiten Schuljahrs noch einmal deutlich. Zu insgesamt 53 Kindern liegen nun Daten aus allen drei Erhebungen vor. Etwa die Hälfte von ihnen ist russisch-deutschsprachig.
Man sollte an dieser Stelle vielleicht noch darauf hinweisen, dass die Studie Kindertagesstätten mit einem wenig attraktiven Wohnumfeld ausgewählt hatte – Stadtviertel mit viel Beton, mit viel Armut und mit vielen Migranten. Wer die Auswirkungen von Bilingualität und Armut untersuchen will, kann dies besonders einfach in Einrichtungen mit hohen Anteilen solcher Kinder tun. Allerdings heißt dies auch: Das, was die Dortmunder Wortschatzstudie ermittelt, muss keineswegs für alle bilingualen Kinder gelten.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse? Man kann erstens sagen, dass bei den untersuchten Kindern der Wortschatz im Kindergartenalter wirklich gravierende Lücken aufweist. Und dies gilt – zumindest bei den russisch-deutschsprachigen Kindern – für die erste und für die zweite Sprache. Solche Testverfahren werden an vielen Kindern ausprobiert, um einen Vergleichsmaßstab zu haben. Der Fachbegriff hierfür heißt: Normierung. Dies gilt auch für den hier verwendeten Aktiven Wortschatztest für Kinder. Man kann also feststellen, wie die untersuchten Kinder im Vergleich zu der Normierungsstichprobe abschneiden. In der Dortmunder Wortschatzstudie ist das so: Im Durchschnitt werden Werte erreicht, die von 97% der Normierung übertroffen werden. Die untersuchten Kinder schneiden also schlechter ab als die meisten anderen Kinder ihres Alters. In russischer Sprache fallen die Befunde ebenfalls sehr schlecht aus.
Zweiter wichtiger Befund: Die Kinder erwerben offenbar trotz ihrer Wortschatzprobleme zumindest in einer frühen Phase der Schreibentwicklung (Mitte erste Klasse) erstaunlich gute Rechtschreibkenntnisse. Die Lesekompetenzen Ende der zweiten Klasse sind – im Vergleich zu anderen bilingualen Kindern durchschnittlich, im Vergleich zu monolingual-deutschsprachigen Kindern jedoch unterdurchschnittlich.
Dritter wichtiger Befund: Der Wortschatz ist ein wichtiger Prädikator der Leseentwicklung. D.h. Kinder mit schlechtem Wortschatz in Deutsch entwickeln häufig auch schlechte Lesekenntnisse in deutscher Sprache. Kinder mit umfangreichen Wortschatz werden häufig gute Leser. Der Wortschatz spielt also in dem multikausalen Geschehen der Leseentwicklung eine wichtige Rolle. Bemerkenswert an den Wortschatzdaten der Dortmunder Wortschatzstudie ist dabei, dass es auch Hinweise darauf gibt, dass der Wortschatz in der ersten Sprache (untersucht wurde hier: der Wortschatz in Russisch) eine Rolle spielt. Kinder, die über einen guten Wortschatz in ihrer ersten Sprache verfügen, zeigen auch gute Leistungen in der Rechtschreibung der deutschen Sprache.
Vierter wichtiger Befund: Soziale Variablen wie z. B. die Zahl der Bücher im elterlichen Haushalt und die Vorlesehäufigkeit spielen eine bedeutsame Rolle. In dem multikausale Geschehen handelt es sich um Variablen, die etwa genauso wichtig sind wie der Wortschatz. Man kann allerdings leider nicht sagen, wie es zu diesen Befunden kommt. Wäre sicher überzeugend gewesen, wenn man hätte zeigen können, dass in armen Familien weniger häufig Bücher in deutscher Sprache vorgelesen werden, dass deshalb der Wortschatz der betreffenden Kinder gering ausfällt und dass dies wiederum Probleme in der Lese/Schreibentwicklung nach sich zieht. War aber leider nicht möglich.
Was sind die Schlussfolgerungen, die man aus der Dortmunder Wortschatzstudie ziehen kann? Die Dortmunder Wortschatzstudie ist weltweit eine der wenigen Längsschnittstudien der letzten Jahre, die sich auf bilinguale Kinder mit Deutsch als Zweitsprache bezieht. Sie kann als Beleg verstanden werden, dass einige Probleme, die gelegentlich als Folge von Bilingualität verstanden werden, eher als Folge von Armut und Bildungsproblemen gelten müssen. Sie kann als Beleg verstanden werden, dass frühe Angebote in der ersten Sprache durchaus positive Auswirkungen auf die schulische Entwicklung in der zweiten Sprache haben können. Für Eltern und Erzieher zeigt sich ziemlich überzeugend, wie wichtig auch in digitalen Zeiten Bücher und Vorlesen sind. Während sich immer deutlicher abzeichnet, dass der Konsum digitaler Medien die Startchancen von Kindern in der Schule nachhaltig beeinträchtigen kann – kann man sagen: Vorlesen bereitet Eltern, Erziehern und Kindern viel Freude. Vorlesen zeigt Kindern, dass Lesen wichtig ist – wichtig für Eltern und wichtig für Kinder. Und Studien zeigen: Vorlesen verbessert den Wortschatz.