Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba | Humboldt Üniversität zu Berlin
Zivilisationsgeschichtlich betrachtet, verkörpert die Stadt jenen Ort, an dem sich soziale Minderheiten überhaupt erst finden, formieren und organisieren. Denn nur hier erreichen sie jene Größe der „kritischen Masse“, die es ihnen ermöglicht, eigene und abweichende Lebensstile öffentlich zu demonstrieren und zu etablieren. Und nur hier können sie auch eigene kulturelle Ausdrucksformen entwickeln, in denen sie sich dann nicht nur „identitär“ wiederfinden, sondern sich auch politisch emanzipieren und ganz praktisch ihre Lebens- und Rechtssituation verbessern können. Insofern gilt, dass die moderne Stadt ebenso der Geburtsort minoritärer Gruppen und Kulturen ist, wie umgekehrt die Minderheiten die Stadtkultur seit Generationen ganz entscheidend mit prägen.
Das gilt in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten für Arbeiterkulturen wie Migrantengruppen, für jüdische Gemeinden wie Freidenker, für die Schwulen- wie die Frauenbewegungen, aber auch für politische Friedens- und Protestbewegungen, für ökologische Initiativen und Milieus, für subkulturelle Musik- und Modeströmungen, für vegetarische Milieus und für Flüchtlingsinitiativen. Ihre Werte und Ideen, ihre Praktiken und Rituale, ihre literarischen und musikalischen Manifestationen, ihre körperpolitischen wie partnerschaftlichen Performanzen prägen die Stadtkultur heute längst mehr und nachhaltiger mit als die einheimischer Stammtischkultur á la America first.
Denn Minoritäres verkörpert in den Augen der Mehrheitsgesellschaft oft auch das Ungewöhnliche, das Exotische. Es scheint als „Indie-Culture“ dem Mainstream entgegenzutreten. Damit steht es in vieler Hinsicht eben auch für Vorstellungen von persönlicher Autonomie und Freiheit, wie sie heutigen Jugendkulturen und Stadtkulturen als Vision vorschweben. Und dies erklärt letztlich auch den Erfolg von Boccia-Bahnen wie Stadtstränden, von Asian Streetfood wie Barbecue-Partys, von World-Music wie CSD-Paraden in fast allen großen europäischen Städten. Oder auch von Megaevents wie dem Notting Hill-Karneval in London oder dem Karneval der Kulturen in Berlin.
Und weil sich diese kulturellen Szenen und Praktiken der Minderheiten oft nur langsam und mühsam etablieren ließen, werden sie heute auch in besonderer Weise fortgeführt und gepflegt. Denn in der kompetitiven Stadtkultur müssen erobertes Terrain und besetzter Raum stets aktiv verteidigt werden. Davon hängen gerade für die Minderheiten existenziell ab, ob und wie sie öffentlich auftreten und privat leben können. Auch deshalb ist ihr kultureller Einfluss in den Städten auch so nachhaltig.
Deshalb wird aber gerade hier auch die Kehrseite dieses neuen „Urban Hype“ besonders gut sichtbar. Was wir nämlich als neue Diversität der Stadtgesellschaft loben und als kosmopolitische Stadtkultur feiern, also die Stadt als Ort der gegenseitigen Toleranz von Mehrheiten und Minderheiten, das scheint für andere ein rotes Tuch zu sein. So wird die soziale Spaltung in den westlichen Gesellschaften von den Rechtspopulisten in Europa ganz unmittelbar mit diesem Aufstieg der Minderheiten nach 1968 verbunden und mit der dadurch verursachten Auflösung der autoritären Nachkriegsgesellschaften.
Sie argumentieren, dass die „völkische Spaltung“ wesentlich durch diesen neuen Pluralismus der 68er-Generation entstanden sei: als Folge der sozialen und politischen Etablierung von Öko- und Friedensinitiativen, von Frauen- und Schwulenbewegungen wie als Folge der politischen Akzeptanz von Migranten und Flüchtlingen. All dies zusammen habe zu einer kulturellen und mentalen „Überfremdung“ unserer Gesellschaften geführt. Deshalb suggerieren sie vor allem den Angehörigen der älteren Generation und den eher ländlichen sozialen Milieus, dass ihre eigenen Lebensstile und ihre Zukunft dadurch bedroht sei. Dass sie von Fremden überrannt würden, nicht mehr Herr im eigenen Hause seien, sondern zu den Vergessenen und Vernachlässigten gehörten. – Freiheit – das wissen wir – kann eben auch anstrengend sein. Und das meine ich hier gar nicht nur ironisch…
Von rechts wird hier jedoch in hysterischem Grundton und provokativer Absicht die Furcht geschürt, dass all diese „Anderen“ nun unsere Gesellschaften übernehmen. Und als Ausweg wird ein „Cultural Backlash“ vorgeschlagenen, der wie eine gesellschaftliche Reset-Taste wieder die sozialen Kulissen und die kulturellen Werte der 1950er Jahre auf die Bühne bringen soll: also die autoritäre Konsensgesellschaft der Nachkriegs-Moderne statt die vielstimmigen Verhandlungsgesellschaft der Postmoderne. In Österreich ist dieses Stück gerade mit einem gescheiterten Studenten in der Kanzlerrolle auf offener Bühne zu bewundern.
Denn einige dieser Positionen sind auch längst in der neuen konservativen Mitte gelandet. So fragte ein Berliner Karikaturist, als die CSU in Deutschland die „konservative Revolution“ verkünden wollte, ob denn dann das Führungspersonal von CDU und CSU auch zu den entsprechenden moralischen Haltungen und Positionen bereit sei. Denn in den 1950ern hätte doch eine Bundeskanzlerin Angela Merkel wieder den Weg in die Frauenrolle und an den heimischen Herd suchen müssen. Ein Innenminister Horst Seehofer wäre wegen seines unehelichen Kindes zurückgetreten. Und ein schwuler Gesundheitsminister Jens Spahn – oft als Angela Merkels „Kronprinz“ genannt – hätte sich von seinem homosexuellen Ehemann wieder scheiden lassen müssen. – Keiner der drei hat bisher geantwortet.