Prof. Dr. Armin Bernhard | Universität Duisburg-Essen
Am 12. Mai 1990 fand in Frankfurt am Main eine Demonstration unter dem Titel “Nie wieder Deutschland” statt. Das Motiv, das dem Bündnis der Demonstration zugrunde lag, war die Angst vor einem ökonomisch und militärisch potenten, großen Deutschland, das nach der Wiedervereinigung wieder zu einer Gefährdung des Weltfriedens werden könne. Die geschichtlichen Erfahrungen mit dem wilhelminischen und dem faschistischen Deutschland steckten noch in den Knochen. Und der Triumphalismus der Sieger verhieß nichts Gutes. Die in der geschichtlichen Erfahrung des Faschismus begründete Angst erwies sich im Nachhinein als allzu berechtigt. Schon die im Siegesrausch der kapitalistischen BRD erfolgte Abwicklung der DDR, in deren Verlauf das Volkseinkommen des anderen Deutschland an westdeutsche Finanz-, Immobilien- und Industriemagnaten verschleudert wurde, war ein Indiz dafür, dass diese Befürchtungen einen realen Hintergrund hatten.
Seismographisch äußerte sich nach der so genannten Wiedervereinigung ein diffuses Unwohlsein in einer immer öfter sich einstellenden Gänsehaut, keiner Gänsehaut der Freude, sondern einer der Angst. Zwar war dieses Unbehagen schon in Zeiten des Kalten Krieges vorhanden. Doch wurde es nach 1989, nach der so genannten friedlichen „Revolution“, durch verschiedene Ereignisse zur Angst und Wut gleichermaßen gesteigert. Nach der Enteignung der DDR-Bevölkerung durch die Treuhand und der Wiedervereinigung wurden im Verlauf der 1990er Jahre die Out-of-Aerea-Einsätze der „Verteidungsarmee“ Bundeswehr, firmierend unter dem Wohlfühlwort der Verantwortungsübernahme, hoffähig gemacht. Schon zu Beginn der 1990er Jahre kursierten Überlegungen innerhalb der Bundeswehr, auf welche Weise man die Ukraine aus dem Einflussbereich Russlands herauslösen könne. Gegen alle geschichtliche Erfahrung beteiligte sich die BRD 1999 unter Mobilisierung des Feindbildes „Serbien“ am völkerrechtswidrigen Krieg der NATO gegen die Volksrepublik Jugoslawien. Geführt wurde ein Krieg in einer Region, in der schon deutsche Wehrmacht, Sicherheitspolizei und SS gewütet hatten.
Beständig wurde, verstärkt nach der Wiedervereinigung, emsig an der Normalisierung des Verhältnisses zu unserer faschistischen Vergangenheit gebastelt, um mögliche Bedenken gegen Kriegseinsätze des deutschen Militärs zu zerstreuen. 2005 wurde durch die von der Bertelsmann Stiftung geführte Kampagne „Du bist Deutschland“ versucht, nationale Identität und nationales Selbstvertrauen wiederzubeleben und während des Sommermärchens der Fußball-WM 2006 wurden die Deutschen mit schwarzrotgoldenen Fahnen überschüttet, um endlich – endlich!!! – ihre verkrampfte Haltung aufgeben und wieder wie alle anderen Völker stolz auf ihre Nation sein zu können. Und Altbundespräsident Gauck kürte die heutige BRD gar zum „besten Deutschland, das wir jemals hatten“!
Immer öfter arbeiteten sich Erinnerungen an den Schulunterricht in den 1970er Jahren hervor. Immerhin hatten wir gelernt, dass es zwei Pläne der USA für das nachfaschistische Deutschland gegeben hatte – den Morgenthau-Plan und den Marshall-Plan. Wäre es nicht besser gewesen, den Morgenthau-Plan umzusetzen, um Europa vor diesem Koloss in seiner Mitte zu schützen, der nicht zum ersten Mal die Welt in Schutt und Asche gelegt hatte? Der US-amerikanische Finanzminister Morgenthau hatte 1944 die Demilitarisierung und Deindustrialisierung Deutschlands vorgeschlagen. Neben einer Dezentralisierung sollte der Großgrundbesitz zerschlagen und die Kontrolle über die deutsche Volkswirtschaft übernommen werden. Deutschland sollte nie wieder in die Lage versetzt sein, einen Angriffskrieg zu führen, ein allzu verständlicher Wunsch. Es kam anders, da die Interessen des US-amerikanischen Kapitals an guten Kapitalanlagen in Westdeutschland dominierten und zudem die Angst kursierte, Armut und Hunger könnten revolutionäre Bestrebungen in diesem Land fördern und es in die Arme der bösen Kommunisten treiben. Diesen Interessen fielen bald auch Entnazifizierung und Reeducation zum Opfer, da alle Energien darauf gerichtet werden mussten, auch geistig gegen den Bolschewismus zu rüsten.
Die BRD, die sich immer als legitime Nachfolgerin des Deutschen Reiches und damit des faschistischen Deutschland verstand, hatte einige Geburtsfehler. Schon der Umstand, dass der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation und damit der Befreiung vom Faschismus den politisch Verantwortlichen keinen Feiertag wert war (während die Wiedervereinigung gefeiert wird!), lässt tief blicken. Die strukturellen Geburtsfehler sind hinlänglich bekannt: die personelle und die institutionelle Restauration, die Beteiligung von Nazi-Größen am Wiederaufbau, die Einrichtung der Bundeswehr durch tatkräftige Wehrmachtsoffiziere, die Rehabilitation fast der gesamten Wirtschaftselite, die den Aufstieg des Faschismus mit befördert und die Degradierung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung mitgetragen hatte. Weil große Teile der deutschen Industrie und Banken die Nazis an die Macht gebracht hatten, hatte selbst die US-amerikanische Militärverwaltung (Office of Military Government for Germany; OMGUS) unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Auflösung der I.G. Farben, der Deutschen Bank, der Dresdner Bank und der Commerzbank empfohlen. Die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien fand sich als politische Forderung sogar im ersten Parteiprogramm der CDU. Im Gegensatz zu diesen Forderungen stand die faktische Kontinuität beim Wiederaufbau Westdeutschlands, die Vertreter der Vernichtungsindustrie gelangten klammheimlich wieder in Führungspositionen, führten ihre Geschäfte weiter, so als wäre nichts geschehen. Die westdeutsche Rüstungsindustrie, nach dem Potsdamer Abkommen von 1945 eigentlich verboten[1], kam zu neuer hässlicher Blüte, der Tod war auch im Frieden, der nur ein kalter Frieden war, nun wieder „ein Meister aus Deutschland“ (Paul Celan). Heute exportiert die BRD als drittgrößter Rüstungsexporteur der Welt Rüstungsgüter in Milliardenhöhe an Diktaturen wie die Türkei und Saudi-Arabien.
Adornos Prognose Ende der 1950er Jahre, dass der Nationalsozialismus nie zum Tode kam, sondern, wenn auch in veränderter Form, sich in den gesellschaftlichen Strukturen und in der Mentalität der Menschen eingenistet hatte, wurde nicht nur durch diese „äußeren“ Erscheinungen bestätigt. Verschiedene Gründe, die an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden können, waren dafür verantwortlich, dass eine wirkliche „Aufarbeitung der Vergangenheit“ zu keinem Zeitpunkt konsequent durchgeführt werden konnte. Die symbolische Politik der ritualisierten Vergangenheits’bewältigung‘, die sich nur auf den Holocaust bezieht, die gesellschaftlichen Strukuren aber, die ihn möglich machten, verschleiert, verhindert eine wirkliche Aufarbeitung. Die Namen von Nazi-Größen sind uns vertraut: durch den Geschichtsunterricht und durch Filme und Fernsehsendungen, in denen die faschistische Vergangenheit kulturindustriell ausgeschlachtet und vermarktet wurde. Aus guten Gründen aber wurden die Namen führender Industrieller, die den Faschismus an die Macht gebracht und ihn aktiv unterstützt haben, unterschlagen. Wer kennt schon die Repräsentanten der ökonomisch relevanten Kräfte wie Gustav Krupp von Bohlen und Halbach (Friedrich Krupp AG), Fritz Thyssen (Vereinigte Stahlwerke), Hugo Stinnes (RWE; Deutsch-Luxemburgische Bergwerks und Hütten-AG), Carl Bosch. Carl Duisberg (IG Farben), Günther Quandt[2] (Berlin-Karlsruher Industriewerke; Accumulatoren Fabrik Aktiengesellschaft), die Bankiers Kurt Freiherr von Schröder (Privatbankier Köln; jungkonservativer Deutscher Herrenklub), Paul Mankiewitz, Hermann Josef Abs (Deutsche Bank), den Medienkonzern Alfred Hugenbergs[3] und den Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI), Personen und Organisationen, welche eine unrühmliche Rolle beim Aufstieg und bei der Unterstützung des Faschismus spielten?
Selbstverständlich ist das periodische Auftauchen von rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien wie der NPD, den Republikanern oder der AfD keine erbauliche Erscheinung. Gleichsam sind sie aber untrügerische Symptome einer misslingenden Gestaltung insbesondere der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse. Was jedoch in verschiedenen Entwicklungsetappen der BRD zu berechtigter Angst immer wieder Anlass gab, war die von Adorno befürchtete Weiterexistenz faschistoider Momente in der Struktur der Gesellschaft selbst. Jene Annahme war insofern plausibel, als sämtliche elementaren Ansatzpunkte gesellschaftlicher Veränderungen nicht umgesetzt wurden, die sich aus der faschistischen Erfahrung aufgedrängt hatten, z. B. die Vergesellschaftung der Banken und Schlüsselindustrien, das Verbot der Rüstungsindustrie und die konsequente Entnazifizierung sowie ein umfassendes Programm der Reeducation.
Angst vor Deutschland – das ist zwar vordergründig auch die Angst vor rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien wie PEGIDA und AfD, die Angst vor neonazistischen Organisationen wie dem Nationalsozialistischen Untergrund oder der Gruppe Freital. Doch führt die Fixierung auf Rechtspopulismus und Rechtsextremismus auf die falsche Fährte, wenn ihr sozioökonomischer Nährboden nicht thematisiert wird. Das Grundproblem ist in der Konstruktion und in den Leitgedanken einer kapitalistischen Gesellschaft begründet, die in Deutschland aufgrund konkreter gesellschaftlich-historischer Bedingungen eine spezifisch aggressive Ausprägung erhalten haben. Angst vor Deutschland rührt primär aus der Art und Weise, wie seit mehreren Jahrzehnten neoliberale Verhältnisse von der so genannten politischen Mitte gestaltet werden, Verhältnisse, in denen die Verschärfung sozialer Ungleichheiten, Deklassierung, Armut und Verrohung gedeihen können. Die Angst vor Deutschland rührt aus einer Wirtschaftspolitik, die über systematisches Lohndumping und Exportorientierung die Dominanz deutscher Unternehmen über die Völker Europas herstellt und soziale Verwerfungen in den verarmten Ländern produziert.
Angst vor Deutschland provoziert das Bestreben deutscher Politikerinnen und Politikern, der gewachsenen ökonomischen Potenz Deutschlands möge doch eine stärkere militärische Macht entsprechen, die Handelswege und Absatzmärkte in der ganzen Welt, also „vitale deutsche Interessen“ (so das Weißbuch der Bundeswehr) zu sichern in der Lage sei. Die 1958 von der Adenauer-Regierung beschlossene „nukleare Teilhabe“ der BRD, an sich schon bedrohlich, wird durch periodisch auftauchende Forderungen nach Atombomben in deutscher Hand noch getoppt. Angst vor Deutschland resultiert auch nicht zuletzt aus dem verantwortungslosen Umgang unserer Politikerinnen und Politiker mit Russland, dem Deutschland im letzten Jahrhundert unermessliches Leid zugefügt hat. Im neu konstruierten Feindbild Russland lebt der im Kalten Krieg verordnete Antikommunismus weiter – eine Sozialpathologie der herrschenden politischen Klasse, von der man sich nicht genug distanzieren kann. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen treibt einem die skandalöse deutsche Außenpolitik die Schamesröte ins Gesicht. Deutsche Friedenspolitik? Völlige Fehlanzeige!
Angst aber flößt auch die Mentalität ein, mit der politische Ereignisse in diesem Lande widerspruchslos hingenommen werden. Schon Marx geißelte den weit verbreiteten „passiven Gehorsam“ der Deutschen. Vielleicht ist dies das einzig typisch ‚Deutsche‘, das diese Nation kennzeichnet, ihr serviler Gehorsam, ihre freiwillige Unterwerfung, aber auch die Selbstgerechtigkeit, mit der die ökonomische Potenz Deutschlands hartnäckig unter Ignoranz ihrer innergesellschaftlichen wie internationalen Opfer (man denke nur an Griechenland) verteidigt wird. Können in einem solchen Land emanzipatorische Impulse entstehen?
„Verhaltet Euch ruhig!“ Immer wenn ich diese an Bahnschildern verewigte Graffiti erblicke, frage ich mich, wie wird diese Aufforderung wohl in den Katakomben des deutschen Sozialcharakters aufgenommen: als Befehl, als Karikatur deutscher Lebensauffassung oder (wenn der Optimismus mit mir durchgeht) gar als Provokation, das Gesetz des Handelns endlich in die eigenen Hände zu nehmen?
[1]Dieses vom Postdamer Abkommen auferlegte Verbot wurde bekannterweise zu keinem Zeitpunkt eingehalten. Im Gegenteil, hohe NS-Rüstungsfunktionäre kamen in Lohn und Brot, um den Westen gegen den ‚Feind‘ im Osten aufzurüsten.
[2]Der Quandt-Familienclan ist Anteilseigner bei verschiedenen Großunternehmen (z. B. BMW) und Banken und verfügt über ein obszön exorbitantes Vermögen.
[3]Unser Buch für den Geschichtsunterricht muss ich hier ein wenig in Schutz nehmen, denn es verwies zumindest auf die grundlegende Bedeutung des Hugenberg-Konzerns beim Aufstieg des Faschismus.