Prof. Dr. Werner Nell | Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Wer glaubt, dass das Land statisch und die Städte mobil sind, sitzt einem Trugbild auf. Erfahrungen und Verhaltensmuster der Bewegung und der Verfestigung gibt es vielmehr in beiden Bereichen, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen und unterschiedlichen Folgen. Wenn es um die Gestaltung einer Migrationsgesellschaft geht, bieten diese Erfahrungen und Muster einen Ausgangspunkt, schaffen einen Rahmen, auch möglicherweise Grenzen für deren Entwicklung, zugleich aber auch Chancen, an die angeknüpft werden kann, wenn diese Vorgaben in Rechnung gestellt werden. Migrationsgesellschaften entstehen ja nicht erst, wenn immer mehr Migranten kommen oder wenn die Gefahr gesehen wird, dass bestehende Gesellschaft durch Migrationsgeschehen abgeschafft oder unterwandert wird. Vielmehr geht es um die Tatsache, dass es – mit einigen Ausnahmen durch Gewalt, Not oder politischen Terror abgeschlossener bzw. brutal und zwanghaft homogenisierter Gesellschaften, wie dies für Deutschland am Ende der Nazi-Zeit gilt – kaum eine Gesellschaft gibt, die nicht über eine eigene Migrationsgeschichte verfügt, ja durch sie erst zustande gekommen ist und in ihren Traditionen ebenso wie in ihrer Zusammensetzung und in ihrer Geschichte durch Migration geprägt, ja in ihrer möglicherweise besonderen Form sogar geschaffen wurde. Dies gilt nicht nur für die Anfänge Roms, das durch die Nachfahren von Flüchtlingen aus Troja gegründet sein wollte, oder die USA, die sich in ihrem „weißen“ Selbstverständnis auf die Pilgerväter aus England zurückführen. Knapp die Hälfte aller englischen Wörter ist Französisch, das mit den Normannen nach England kam, während der Politologe Christian Graf Krockow sich schon vor vielen Jahren über die in Deutschland zeitweise grassierende Polenverachtung gewundert hat, wo doch große Teile der Bevölkerungen in Nord- und Ostdeutschlands vielfach selbst slawischer Herkunft sind. Kam nicht sogar die weltweit geschätzte französische Küche eigentlich aus Italien?
Nun werden gemeinhin die Städte als die eigentlichen „Schmelztiegel“, mitunter auch Konfliktfelder und sicherlich als Aushandlungsorte von Migrationserfahrungen gesehen und dies mag im Blick auf die Attraktivität der Global Cities für weltweite Migrationsbewegungen auch sicherlich richtig sein. Wer freilich einen Blick auf ländliche Räume wirft, wird erst das ganze Ausmaß erkennen, in dem Migration schon immer Gesellschaften jedweder Art bestimmt, ja in gewissem Maße auch hervorgebracht hat. Dass dies vielfach nicht so gesehen wird, ist zunächst einmal einer mehr oder weniger romantischen, also selbst modernen Verständnis des Ländlichen geschuldet, das sich als populäre Vorstellung erst im 19. Jahrhundert gebildet hat und das dann vor allem über volkskulturelle Orientierungen und Organisationen, zum Beispiel das Vereinswesen, sowie die Ausweitung von Bildungsprofilen („Volksschulen“) Eingang in die Vorstellungswelt weiter Teile der Bevölkerungen gefunden hat. Der in Rumänien geborene, später dann amerikanische Historiker Eugen Weber (1925-2007) hat in einer großen Studie: „Wie aus Bauern Franzosen wurden“ (1976) zum einen die vier Bänder beschrieben, die im Zeitraum zwischen 1870 und 1914 aus Bauern in den verschiedensten Landschaften Frankreichs „Franzosen“ machten: das Steuersystem, die Grundschulen, das Straßen- und Verkehrsnetz und nicht zuletzt die Militärverwaltung. Zum anderen hat er auf die für die älteren ländlichen Gesellschaften typischen Formen der Migration ebenso verwiesen wie auf deren Normalität als Wanderarbeit, Nomadenleben, Saisonarbeit, Auswanderung und Katastrophenflucht (inklusive Kriegs-, Bürgerkriegs-, Armuts- und Repressionserfahrungen), die für die ländliche Welt auch vor der industriellen Revolution bereits bestanden.
War die Idee von den glücklich und naturnah, vor allem Zeit enthoben lebenden „Schäferinnen“ und „Schäfern“ noch eine Projektion der Adelswelt, zu deren Attraktivität auch das Wissen um die Künstlichkeit und den damit ermöglichten Spielcharakter dieses Settings bis hin zum „Schäferstündchen“ gehörte, so stellten malerische Bauernhäuser und -dörfer, Trachten und entsprechende Volksfeste nicht nur Projektionsflächen, sondern auch Handlungsräume bereit, in denen seit dem 18. Jahrhundert vor allem das Bürgertum sowohl seine zeitgenössischen Erfahrungen unter den Bedingungen der aufkommenden Industriegesellschaften zu bearbeiten als auch seine eigenen Wünsche und Hoffnungen zu spiegeln suchte. In dieser Perspektive lässt sich geradezu von einer Erfindung der Landbevölkerungen sprechen, wobei Literatur und Malerei ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Oper und namentlich die Volksschulfibeln. Insbesondere die Farbigkeit der Trachten, aber auch das Bild einer reich entfalteten Landwirtschaft, erst Recht Vorstellungen von Erbhofbauern, tatkräftigen Männern und kindergebärenden starken Frauen, Jahrtausende alten Traditionen oder gar „ethnisch“ bis „rassisch“ reinen Stammeskulturen und Familienstämmen gehören in diesem Zusammenhang freilich ganz ins Reich der Ideologien bzw. Erzählungen, die sich in ihrer Breite erst als Reaktionsbildungen auf die Zumutungen der Industriegesellschaften und deren durch den Kapitalismus angestoßenen bzw. getragenen Umbruchprozesse bilden und verstehen lassen.
Sesshaftigkeit gab es sicherlich auch auf dem Land und wurde zumal in den Prozessen frühneuzeitlicher Territorialherrschaftsbildung auch gefördert, wenn nicht gar in den „großen Einschließungen“ (Michel Foucault) seit dem 17. Jahrhundert erzwungen. Zugleich aber waren große Gruppen ländlicher Bevölkerungen auf die Straße geworfen, waren zu Nomadentum, Wanderarbeit oder auch Räubereien gezwungen, lebten von der Hand in den Mund; vermutlich kaum eine Familienforschung von heute, die ihre an Adelsprädikaten interessierten Auftraggeber nicht mit Stammbäumen frustriert, die beim „fahrenden Volk“ enden. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, so hat es der österreichische Historiker Rüdiger Wischenbart, am Beispiel der Karpaten beschrieben, war die Kleiderfarbe der einfachen Landbevölkerung keineswegs von bunten Bändern, Spitzen oder weißgestärkten Trachtenblusen bestimmt, sondern schwankte europaweit zwischen schmutzig grau und schmutzig braun. Überhaupt sind es die Erfahrungen der Armut und der Unbehaustheit, also auch des Unterwegs- und nirgendwo „fest“ zu Hause Seins, die für große Teil der der europäischen ländlichen Bevölkerungen auch schon vor der Moderne ihren Alltag und ihre Lebenserfahrungen bestimmt haben. Bis weit ins hohe Mittelalter sind selbst Adel und Könige ständig unterwegs, da schon der Mangel an Nahrung und sonstigen Ressourcen, aber auch die Unsicherheit der Verhältnisse immer wieder zum Aufbruch und damit auch zum Wechsel zwingt. Burgen sind dagegen ebenso wie Städte zunächst einmal Verfestigungen auf Zeit, die umkämpft und ähnlich wie auch Dörfer unter vielfältigen Einwirkungen bis zur Neuzeit immer wieder auch aufgegeben werden. Die Gründe hierfür sind vielfältig und können uns auch aktuell darüber belehren, dass nicht alle Ursachen und Folgen von Migration einfach planbar, gestaltbar oder auch ggf. vermeidbar sind; Klimawandel gehört ebenso dazu wie Kriege und Vertreibungen, die Suche nach Wegen aus Unterdrückung, Hunger, Not und Krankheit (zumal in Zeiten der Pest), nicht zuletzt das Streben nach Glück, von dem das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten weiß: „ …etwas Besseres als den Tod findest du überall“. Erst die Ausbildung der Territorialstaaten, deren Überlagerung durch die nach 1800 sich durchsetzende Vorstellung nationaler Kohäsion und zugleich die Übertragung zunächst bürgerlicher Bildungs- und Gemeinschaftsvorstellungen auf alle, die einer bestimmten Nation angehören sollten – der Hintergrund ist natürlich auch die durch die Kolonialgeschichte Europas im 19. Jahrhundert geforderte und geförderte Differenzsetzung gegenüber außereuropäischen Gesellschaften – schafft dann auch einen Rahmen, in dem die Landbevölkerung ebenso wie das bis dahin „vaterlandslose“, also auch „heimatlose“ Proletariat einen eigenen Ort finden sollten, wenn sie nicht wie Juden, Sinti und Roma, Menschen von außerhalb Europas oder auch weiterhin Flüchtlinge, politische Dissidenten und Migranten dann doch weiterhin außen vor zu bleiben hatten, in ihrem Status zumindest gesichert und jederzeit verfolgbar blieben.
An diese Erfahrung ländlicher Räume und ihrer Bewohner im Umgang mit räumlicher Mobilität und Migration ist auch aktuell wieder zu erinnern. Zum einen geht es dabei um die Erinnerung an eine weitgehend, zumal in Deutschland aus ideologisch-völkischen Motiven, verdrängte Erfahrung von sozialer Unsicherheit, räumlicher Mobilität, Verfolgtheit und auch rechtlicher Ungeschütztheit, die als verdrängte vielleicht die Hartleibigkeit der deutschen Gesellschaft im Blick auf ihre Selbstwahrnehmung als Migrationsgesellschaft etwas erklären kann, zumindest aber auch den Stachel beschreibbar macht, der durch Migranten und Flüchtlinge in diese Verdrängungsgeschichte hineinwirkt (und schmerzhaft sein kann). Zum anderen finden sich hier aber auch Anschlussmöglichkeiten, aus der Erinnerung bzw. Aufarbeitung der im ländlichen vorhandenen Migrationsgeschichten und Unbehaustheitserfahrungen Ansatzpunkte für die Gestaltung eines Zusammenlebens mit Fremden aus der Fremde, Flüchtlingen und Migranten, zu gewinnen. Schon vor mehr als dreißig Jahren hat der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger dazu einen Heimat-Begriff vorgeschlagen, der nicht nur die aktuell wieder heimattümelnden Vorstellungen in Frage stellt, sondern tatsächlich geeignet war/ist, für die aktuelle Migrationsgesellschaft, zumal auch in ihren ländlichen Facetten, einen Ausgangspunkt zu benennen: Nach Bausinger existiert „heute“, er schrieb dies bereits 1986, in unseren Städten und Dörfern ein „recht sicheres Kriterium dafür, ob Heimat immer noch als Arsenal schöner Überlieferung verstanden wird, aus dem man sich bedienen kann, oder als Idee, menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen. Dieses Kriterium ist der Umgang mit ausländischen Mitbürgern. Ein Heimat-Begriff, der ihnen keinen Platz einräumt, greift zu kurz, auch wenn er sich noch so sehr mit historischen Requisiten drapiert.“