Clemens Hermeler | Entschieden gegen Rassismus und Diskriminierung (Verein)
Diesen Satz sagte mir eine Frau, die zu mir in die Sozialberatung kam. Sie war verschuldet, ihre Miete wurde nur zum Teil vom Jobcenter bezahlt und das Geld reichte für sie und ihre Familie hinten und vorne nicht. Von der Vorstellung, sich auf ein letztes sozialstaatliches Netz zur Sicherung verlassen zu können, hatte diese Frau sich schon lange verabschiedet. Diese elf Worte fassen zusammen, wie sich viele Menschen in Deutschland fühlen, die gezwungen sind, Leistungen beim Jobcenter zu beziehen: „Denen ist egal ob wir sterben, die wollen, dass wir verschwinden.“
Hartz IV beansprucht für sich, Armut zu bekämpfen. Tatsächlich jedoch ist das sogenannte Arbeitslosengeld II vor allem eins: ein Instrument zur Bekämpfung und Marginalisierung der von Armut Betroffenen[1]. Belege dafür finden sich in der Fachliteratur zu Genüge. 1. Die Leistungen für den Lebensunterhalt wurden 2018 auf 416,- Euro für Alleinstehende bzw. Alleinerziehende angehoben – Paare oder Kinder bekommen teils deutlich weniger; in den Leistungen eines Grundschulkinds im Alter von 7 Jahren sind hier beispielsweise aktuell 76 cent für Bildung[2] eingerechnet. 2. Die individuellen Berufswünsche oder Karriereverläufe und somit die eigne Vorstellung über die Zukunft interessiert nur bedingt, schließlich ist jede Arbeit zumutbar (vgl. § 10 SGB II). 3. Die Wohnkosten werden in „angemessener Höhe“ übernommen, was beispielsweise in Bielefeld 4,64 Euro pro Quadratmeter für die Kaltmiete sind[3], ein Wert, den die Stadt Bielefeld seit 2005 (!) nicht mehr erhöht hat. 4. Allein die schiere Masse an Bescheiden und komplexen Berechnungen sowie Rechtsgrundlagen machen es vielen Betroffenen beinahe unmöglich, komplett zu verstehen, wie sich ihr Anspruch berechnet; oft ist der bürokratische Aufwand, der mit ihren Sozialleistungen verbunden ist, so hoch, dass er einer Verbesserung der eigenen Lebenslage vielfach massiv im Wege steht. 5. Jobcenter und ihre Mitarbeiter*innen sollen in ihren Entscheidungen Ermessen ausüben; in der Regel geschieht dies in einer mindestens fragwürdigen Weise, wenn mit Textbausteinen über Fragen entschieden wird, die die eigene Existenz und Zukunft betreffen. 6. Wenn die Mitwirkung ausbleibt – was in den Augen der Jobcenter auch bedeuten kann, dass junge Menschen unter 25 Jahren einen Termin mit der*m Sachbearbeiter*in verpassen oder vergessen – wird das Geld gekürzt (bei jungen Menschen unter 25 gibt es dann nur noch die Miete und bei wiederholter „Pflichtverletzung“ nicht mal mehr die). 7. Leistungen für Betroffene, die nicht den deutschen Pass haben, sondern beispielsweise EU-Bürger*innen sind? Diese werden nicht gezahlt. Hierbei beruft sich das Bundesministerium auf ein Urteil des europäischen Gerichtshofs. Auf der Homepage des BMAS hieß es dazu von Andrea Nahles: „Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir wieder Rechtssicherheit.“[4] Mehr Zynismus geht kaum.
Diese Liste ließe sich noch weiter fortführen und es ist unerlässlich jetzt und in Zukunft nicht nur den Finger, sondern eigentlich die ganze Hand in die Wunde zu legen. Doch wieso stellt insbesondere die Soziale Arbeit seit Einführung von Hartz IV immer wieder diese Untragbarkeit des Umgangs mit von Armut und Erwerbslosigkeit Betroffenen fest, ohne, dass eine Änderung geschweige denn Besserung in Aussicht steht? Ich denke, dies liegt einerseits daran, dass der Hass auf Betroffene und die Verachtung ihnen gegenüber tief in der deutschen Gesellschaft verankert sind[5]. Ein Blick in die Berichterstattung über Hartz IV genügt hierzu meist als Beleg, jedoch ist auch die Wortwahl des Ministeriums für Arbeit und diverser Politiker bezeichnend, wenn etwa Erwerbslose mit Parasiten verglichen werden[6] oder Franz Müntefering – heutiger Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes – 2006 sagte: „Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen“[7]. Und dies alles geschieht unter dem Vorzeichen des Abbaus sozialer Sicherungssysteme seit der Jahrtausendwende unter Gerhard Schröder, welcher dies damit zu legitimieren versucht, dass es gelte, die Betroffenen der Armut zu „aktivieren“ und ihre vermeintliche Motivationslosigkeit, ihre Vermittlungshemnisse zu bearbeiten oder sie „aus ihrer Komfort-Zone zu locken“. Und bei dieser „Aktivierung“ – welche im Grunde nichts anderes bedeutet als Betroffene für eine Armut verantwortlich zu machen, welche durch vorgegebene Strukturen der Gesellschaft erst produziert wird – macht Soziale Arbeit dann leider auch viel zu häufig kritiklos mit. Möchte die Profession der Sozialen Arbeit nicht sehenden Auges danebenstehen, wie die Diskriminierungen gegenüber Erwerbslosen, der institutionelle Rassismus, Klassismus und Sexismus, den es in Deutschland zwar gibt, der aber nicht angesprochen wird, immer weiter zunehmen, gäbe es sicher einige Ansätze und viel Arbeit zu verfolgen:
- Klassische Fragen der Verteilungsgerechtigkeit[8] müssen wieder in den Fokus geraten und neben der Anerkennungsgerechtigkeit Objekt des fachlichen Streitens sein.
- Es reicht nicht allein über die eigene Haltung zu reden und zu reflektieren, wenn Sozialarbeiter*innen sich nicht mehr in die kommunale Politik kritisch einmischen.
- Soziale Arbeit darf nicht der Illusion glauben, als Profession unschuldig zu sein, und Probleme unter Ausblendung dieser strukturellen Gewalt behandeln.
- Soziale Arbeit muss unabhängige Wege finden, Missstände, Gewalt und Formen von Rassismus und Diskriminierung in Institutionen öffentlich zu thematisieren, zu skandalisieren und klugen Widerstand zu leisten[9].
Exklusiv für Bielefeld, wo der Autor dieses Artikels als Sozialarbeiter tätig ist bedeutet dies: 4,64 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter und ca. 300.000 Euro[10] ungedeckte Wohnkosten pro Monat sind ein Armutszeugnis, hier muss Soziale Arbeit aufschreien. Während die durchschnittliche Miete in Bielefeld[11] bei rund 6,80 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter liegt, werden 4,64 Euro pro Quadratmeter oft mit folgender Argumentation verteidigt: Wenn man den angemessenen Quadratmeterpreis erhöhe, so würden ja der Wohnungsmarkt und die Vermieter nachziehen, damit sei ja auch niemandem geholfen. Dieses Argument verschleiert, dass die Kommunalpolitik seit Jahren durch die Privatisierung von sozialem Wohnraum die Instrumente aus der Hand gegeben hat, den Wohnungsmarkt öffentlich kontrollieren zu können. Statt also still zu halten sollte der Wohnungsmarkt durch die Rückführung des sozialen Wohnraums in die öffentliche Hand wieder kontrollierbar gemacht werden. Armutsbekämpfung bedeutet nämlich die Bekämpfung von Strukturen, die Armut schaffen, und nicht Bekämpfung von Armen.
[1] Weiter- und einführende Lektüre: Butterwegge, Christoph (2012): Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. 3. Aufl. Frankfurt am Main; Legnaro, Also (2006): „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ – Zur politischen Ratio der Hartz-Gesetze. In: Leviathan: Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Jg. 34 (4), S. 514-532. Darüber hinaus ist auf die Arbeit von Vereinen wie Widerspruch e.V. oder Tacheles e.V. hinzuweisen, welche Probleme seit Jahren benennen, analysieren und kritisieren.
[2] Fairer Weise muss noch auf das Bildungs- und Teilhabepaket hingewiesen werden, in dessen Rahmen Familien dann auf Antrag (!) unter anderem 100 Euro pro Jahr für den Schulbesuch und 10 Euro pro Monat für Vereinsbeiträge o.ä. erhalten. Die Mittel aus diesem Topf wurden seit Einführung jedoch noch nie vollständig an alle leistungsberechtigten Familien verteilt.
[3] Vgl. http://www.widerspruch-sozialberatung.de/PDF/Baustelle/Richtlinien_KdU_Bi_1-1-2018.pdf
[4] Vgl. http://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2016/klarstellung-zugang-sozialleistungen-eu-auslaender.html;jsessionid=28C32BB99028FA2D6587C47AB3900A89
[5] Zur Debatte um die sogenannte „Neue Unterschicht“ empfiehlt sich: Kessl, Fabian/ Reutlinger, Christian/ Ziegler, Holger (Hg.): Erziehung zur Armut?. Soziale Arbeit und die ‚neue Unterschicht‘, 1. Aufl. Wiesbaden. Eine tiefergehende Analyse der Diskurs-Figur der „Neuen Unterschicht“ würde hier sicher den Rahmen sprengen.
[6] Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit 2005, S. 10 zit. n. Wollrad 2008, S. 39
[7] Vgl. http://www.zeit.de/online/2006/20/Schreiner
[8] Vgl. Lamp, Fabian (2007): Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung. Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis. Bielefeld.
[9] Vgl. Melter, Claus (2015): Diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung. Praktische Herausforderungen, Rahmungen und Reflexionen, Weinheim und Basel.
[10] Allein von Januar bis August 2017 blieben monatlich in Bielefeld im Schnitt 328.441,50 Euro Wohnkosten ungedeckt und mussten von Sozialleistungsberechtigten aus dem Geld für Grundbedürfnisse gezahlt werden (vgl. https://statistik.arbeitsagentur.de/nn_1021940/SiteGlobals/Forms/Rubrikensuche/Rubrikensuche_Suchergebnis_Form.html?view=processForm&resourceId=210358&input_=&pageLocale=de&topicId=1023396®ion=Bielefeld&year_month=201709&year_month.GROUP=1&search=Suchen)
[11] Vgl. https://www.bielefeld.de/de/pbw/muw/mumiet/