Siebo M. H. Janssen
Die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien, so scheint es, stecken in einer tiefen und grundlegenden Krise. Vergleicht man die Wahlergebnisse der letzten Jahre in verschiedenen Staaten miteinander, so fällt einem nicht nur ein relativer Rückgang der Stimmenanteile auf, wie er sich über die Jahrzehnte immer wieder vollzogen hat, sondern in weiten Teilen der EU und der USA ein radikaler Bruch mit den sozialdemokratischen Parteien auch in ihren einstigen Hochburgen. Woher kommt dieser Verdruß an der Sozialdemokratie und welche Konsequenzen muß diese daraus ziehen?
Als die sozialdemokratischen Parteien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Vertreteung der Interessen der Arbeiter in den meisten (west)europäischen Staaten entstanden, hatten sie ein klares politisches Ziel vor Augen: die Verbesserung der sozialen Lage der, zu diesem Zeitpunkt stark anwachsenden, Industriearbeiterschaft. Diese Verbesserungen sollten einerseits erreicht werden durch unmittelbare Veränderungen der sozialen und materiellen Umstände, andererseits aber auch durch Bildung und Gesundheitsfürsorge. Dieser Einsatz für die Belange der bis dahin Unvertretenen brachte den sozialistischen Parteien in vielerlei Hinsicht Hass und Verfolgung ein. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die Sozialistengesetze Bismarcks im Kaiserreich sowie die Verfolgung und Ermordung sozialdemokratischer Politiker durch die Nationalsozialisten.
Weder die Repression Bismarcks noch die Ermordung tausender sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Aktivisten durch die Nationalsozialisten konnte allerdings den Siegeszug der sozialistischen Idee und Bewegung stoppen. Vielmehr setzte sich nach dem zweiten Weltkrieg in Westeuropa ein mehr oder weniger starkes sozialstaatlich geprägtes Gesellschaftssystem durch, an dessen Wiege Christ- wie Sozialdemokraten gleichermaßen standen. Hier beginnt allerdings auch das eigentliche Problem der europäischen Sozialdemokratie. Konnte diese sich bis 1989 als Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus profilieren und hatte durch die Schaffung des modernen Sozialstaats – Kapitalismus mit hoher sozialer Absicherung – die Lebenssituation der Arbeitnehmer massiv verbessert und zugleich „Bildung für alle“ ermöglicht, so entfiel mit dem Ende der kommunistischen Staatenwelt auch der ideologische Gegensatz zwischen „Freiheit“ und „Gleichheit“. Die Sozialdemokratie hatte zwar ihre wesentlichen politischen und ideologischen Ziele im Rahmen der bestehenden liberalen Demokratien umgesetzt, konnte aber mit der jetzt einsetzenden Idee der ökonomischen und politischen Globalisierung wenig anfangen, da sie, aufgrund historisch gewachsener Prozesse, Sozialstaatlichkeit und Solidarität, weitestgehend im nationalen Zusammenhang begriff. Statt die Globalisierung positiv zu begleiten, sie, zusammen mit den Gewerkschaften sozial zu gestalten, spaltete man sich faktisch in zwei Flügel. Der eine Flügel, repräsentiert durch u. a. Clinton, Schröder und Blair setzte auf eine relativ ungezügelte Übernahme der neoliberalen Agenda von Sozialabbau, Ökonomisierung und Globalisierung, während ein anderer Teil der europäischen Sozialdemokratie sich in der Rolle der Antiglobalisierer gefiel und gefällt und auf Verweigerung statt Gestaltung setzt.
Beide Lager entfremdeten in der Konsequenz allerdings die WählerInnen von den sozialdemokratischen Parteien. Das neoliberale Modernisierungslager verlor seit dem Beginn der 2000er Jahre strukturell die klassische Kernwählerschaft der Sozialdemokratie und trug durch seine Politik mit zum erstarken einer nationalistischen und illiberalen Rechten bei, deren Wählerschaft heute vor allem aus dem Lager der Arbeitnehmer kommt. Die „Antiglobalisierer“ hingegen boten aufgrund ihres Verharrens in der Idee einer nationalen sozialstaatlichen Souverenität ebenfalls keine Alternative und auch hier bedienten sich rechtspopulistische Parteien verstärkt dem Topos der nationalen Solidargemeinschaft.
Während die sozialdemokratischen Parteien also zwischen kritikloser Zustimmung zur Globalisierung und vehementer, teilweise mit nationalistischen Argumenten unterfütterte, Ablehnung mäanderten, zog die politische Konkurrenz weiter.
Zwar war die Weltwirtschaftskrise 2008 und damit verbunden die Eurokrise ab 2011 ein deutlicher Wendepunkt und der globalisierte Neoliberalismus wurde auf einmal auch von bisherigen Anhängern (z. B.: Frank Schirrmacher in der FAZ) in Frage gestellt, aber erneut hatten die sozialdemokratischen Parteien keine Antwort auf die Krise der kapitalistischen Welt. Die in den Jahren zuvor, von sozialdemokratischen Regierungen, durchgeführten Reformen konnte und wollte man, um der eigenen Glaubwürdigkeit willen, nicht rückgängig machen und auf der anderen Seite fehlte es erneut an zukunftsweisenden Ideen. Zwar versuchten sozialdemokratische Politiker verschiedentlich neue Ansätze für eine glaubwürdige und sozial gestaltete Globalisierung zu vermitteln, doch blieben dies meist Ansätze ohne tiefere Wirkung. Hinzu kam, dass die ehemaligen sozialdemokratischen Wähler in hoher Zahl dauerhaft ihre Zuflucht bei linkspopulistischen oder rechtsradikalen Parteien gesucht hatten, weil diese einfache Lösungen im angeblichen Interesse der Betroffenen versprachen, ohne sich aber jemals ernsthaft mit der Komplexität der realen Welt unter globalisierten Bedingungen auseinanderzusetzen. Für alle Probleme wurden wahlweise die „Eliten“, Migranten, Flüchtlinge, „Brüssel“ (als Synonym für die EU) oder „der Islam“ verantwortlich gemacht. Das diese Mischung aus Hasspropaganda und intellektueller Unterkomplexität soviel Anhänger fand und findet hat auch damit zu tun, dass die europäischen Sozialdemokraten keine Antworten auf die Frage liefern konnten und können wie sie sich Globalisierung vorstellen und wie diese gestaltet werden soll.
Zahlreiche Wahlniederlagen in den letzten Jahren (Deutschland, Niederlande, Osteuropa, Dänemark, Frankreich, USA) haben die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Sozialdemokratie als Regierungsparteien weiter eingeschränkt und eine generelle Veränderung ist – trotz eines beachtlichen Erfolgs der Labour Party im Juni 2017 in Großbritannien – nicht in Sicht.
Der kurzfristige Hoffnungsträger der deutschen Sozialdemokratie – Martin Schulz – für die Bundestagswahlen im September 2017 ist mittlerweile wieder im 23% „Ghetto“ der letzten beiden Kanzlerkandidaten angelangt und die französischen und niederländischen Sozialdemokraten wurden bei den Parlamentswahlen im März und Juni 2017 geradezu gedemütigt mit einem Verlust von mehr als 2/3 der ehemaligen Stimmenanteile. Ganz ähnlich ging es dem sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Benoit Hamon in Frankreich – er erzielte nur ca. 7% der Stimmen.
Die Lage der sozialdemokratischen Parteien in Europa und den USA ist also als desaströs zu bezeichnen und eine Besserung ist nicht in Sicht solange man zwischen kritikloser Globalisierungsbegeisterung und engstirnigem Sozialnationalismus chargiert.
Möglicherweise kommt eine Lösung aus dem sozialliberalen Lager. Emmanuel Macron, der sowohl die Präsidentschafts- als auch die Parlamentswahlen in Frankreich deutlich gewann, vertritt in ökonomischen Fragen einen sozialen Kapitalismus, der sich positiv auf die Globalisierung bezieht, zugleich aber versucht im Rahmen der EU soziale und ökologische Standards zu gestalten und der Globalisierung damit ein „menschliches Gesicht“ zu geben. Frankreich hat, ähnlich wie Italien, massiven ökonomischen Reformbedarf um seine Wirtschaft wettbewerbsfähig zu halten.
Macron mit seiner Idee von einer Reform Frankreichs im Rahmen einer sozial gestalteten Globalisierung bei wesentlicher Stärkung der EU könnte tatsächlich ein erfolgversprechendes Zukunftsmodell für eine sozialdemokratische Partei neuen Typs sein.
Falls die Sozialdemokraten eine politische Zukunft, jenseits des 20% „Ghettos“ haben wollen, dann müssen sie sich von der Idee der Globalisierung ohne soziale Perspektiven ebenso deutlich verabschieden wie von einem sozialnationalistischen Denken, dass den Sozialstaat des 20. Jahrhunderts gegen die politischen und ökonomischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts stellt. Notwendig ist vielmehr eine gestaltende Politik die die Gegebenheiten anerkennt ohne sie zu umarmen oder zu verdammen, sondern versucht durch Bildung, Nachhaltigkeit, soziale Absicherung sowie Liberalität im Inneren und Öffnung nach außen zu gestalten. Wenn diese – hier nur andeutungsweise skizzierten – Voraussetzungen und Gestaltungsmöglichkeiten in der Sozialdemokratie im europäischen Kontext diskutiert würden und man gemeinsame Lösungen entwickeln würde, so könnte die sozialdemokratische Idee von Solidarität und Internationalismus doch noch eine ansprechende Perspektive für die WählerInnen des 21. Jahrhunderts werden. Das ausgerechnet ein sozialliberaler Präsident in Frankreich der Stichwortgeber für die notwendige Erneuerung der europäischen Sozialdemokraten werden könnte, sagt hingegen viel über die intellektuelle Krise dieser Parteien aus, die doch eine lange und achtenswerte Tradition der Verbindung von Internationalität und Solidarität haben.
Siebo M. H. Janssen, Bonn, Juni 2017