Siebo M. H. Janssen
Universität zu Köln
Der 23. Juni 2016 und der 08. November 2016 haben politische Schockwellen bisher unbekannten Ausmaßes unter den Anhängern der liberalen und offenen Gesellschaften ausgelöst. Die äußerst knappe Entscheidung der Briten die EU zu verlassen und die Entscheidung der US-Amerikaner Donald Trump zum Präsidenten der USA zu wählen hat das politische Establishment ebenso erschüttert wie die wirtschaftlichen Eliten und Intellektuellen. Was bedeuten diese Entscheidungen im europäischen und internationalen Kontext und welche Zukunft hat die liberale politische Ordnung des Westens noch im Angesicht eines neuen-alten Nationalismus?
Die EU befindet sich unzweifelhaft in einer elementaren Krise. Weder wurde die Wirtschafts- und Finanzkrise zufriedenstellend gelöst, noch ist die Flüchtlingsfrage geklärt und auch im Bezug auf die zahlreichen, die EU umringenden, Krisenherde gibt es keine erfolgversprechenden Lösungsansätze.
Die für die meisten völlig überraschende Entscheidung der Briten hat die Krisensituation noch einmal deutlich zugespitzt und es stellt sich nach dem Brexit die Frage ob die EU in der jetzigen Konstellation noch eine (politische) Zukunft hat. Erschwert wird die Debatte über die Folgen des Brexit aufgrund der bevorstehenden Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland im Laufe des Jahres 2017. Hier besteht die ernsthafte Gefahr, dass rechtsradikale Parteien wie die PVV von Geert Wilders in den Niederlanden oder der Front National von Marine Le Pen in Frankreich nicht nur stärkste politische Formation werden, sondern auch die Ämter des Premierministers (Wilders) oder der Staatspräsidentin (Le Pen) bekleiden. Auch in Deutschland steht ein Durchbruch der sogenannten Alternative für Deutschland (AfD) bei den Bundestagswahlen im September zu befürchten.
Was sind nun die Konsequenzen von Brexit, Aufstieg des Rechtspopulismus und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA? Einerseits zeigen die Entwicklungen und Entscheidungen deutlich den Vertrauensverlust in die politischen Eliten, generell in politische Institutionen in Europa und den USA. Die klassischen politischen Institutionen und Eliten schaffen es in Zeiten von Globalisierung und Entgrenzung offensichtlich nicht mehr Teile der Bevölkerung von den positiven Aspekten der Globalisierung zu überzeugen bzw. ein Gefühl der kulturellen und ökonomischen Sicherheit zu vermitteln. Die Brexit-Kampagne hat nicht in erster Linie mit nüchternen Fakten über die Konsequenzen des möglichen Brexit informiert, sondern wesentlich eine Angst geprägte Lügenkampagne gestartet, die gerade bei jenen verfing die in den klassischen Arbeitergebieten und Labourhochburgen im Nordwesten und Nordosten Englands leben.
Die seit den 1980er Jahren durchgeführte Deindustrialisierung unter der konservativen Regierung Margaret Thatchers führte zu einer ganzen Generation „Verlorener“ und ihrer Kinder – und diese rächten sich nun im Brexitreferndum offensichtlich an den ihnen verhassten „Eliten“. Ganz ähnliches lässt sich im sogenannten „rust belt“ der USA beobachten, dort wo einst die Wiege der US-amerikanischen Stahl- und Automobilindustrie stand und die Arbeiter dieser Regionen traditionell „blue“ (demokratisch) wählten, wurde bei den Wahlen 2016 Donald Trump mit teilweise klaren Mehrheiten gewählt. Auch dort scheint das Gefühl vorherrschend gewesen zu sein, von den klassischen politischen Parteien, ihren Repräsentanten und Programmen nicht mehr angemessen vertreten zu werden. Die Reaktion war in Großbritannien wie in den USA eine „Wutwahl“. Diese „Wutwahlen“ haben allerdings tatsächlich demokratiegefährdenden Charakter. Sie können Politiker an die Macht bringen, die die Ängste und die Wut der Bevölkerungen für ihre eigenen, häufig antidemokratischen und autoritären Zwecke missbrauchen. „Wutwahlen“ sind somit nicht nur ein Zeichen des Protestes gegen die politischen Eliten und ihre Positionen, sondern können auch eine akute Gefährdung des demokratischen Systems, der Rechtsstaatlichkeit, der ökonomischen Stabilität, von Minderheitenrechten und letztendlich auch der internationalen Politik bedeuten.
Im Falle des Brexits kommt aber neben dieser „Wutwahl“ noch ein weiterer problematischer Aspekt hinzu: die Brexitbefürworter mit ihrer relativ knappen Mehrheit setzen ihre Interessen eines „harten Brexit“ gegen die Befürworter eines „remain“ durch – ohne diesen knapp 50% in irgendeiner Form entgegenzukommen. Zwar kann man sich bei den „Brexiters“ auf eine Mehrheit berufen, doch bedeutet Demokratie auch immer die Einbeziehung von (demokratischen) Mindermeinungen.
Sowohl der Brexit als auch die Wahl Donald Trumps und die daraus resultierenden bisherigen Konsequenzen erscheinen in diesem Zusammenhang als eine politische Verhöhnung verfassungsmäßiger Rechte von parlamentarischen und/oder gesellschaftlichen Minderheiten. Trump hat seine Verachtung für jegliche Form von Minderheitenschutz im Laufe des Wahlkampfes (und auch schon davor) hinreichend deutlich gemacht und er lässt diesen Worten dramatische Taten folgen, siehe z.B. Einreisestop für Muslime aus sieben Ländern, die Streichung der Gelder für den nationalen Fonds der Geisteswissenschaften, sein brutaler Sexismus, seine Verachtung von Einwanderen – gefördert durch einen Teil der Massenmedien. Zumindest der „muslim-ban“ wird zur Zeit noch von Bundesgerichten gestoppt.
Eine ganz ähnliche Entwicklung zeichnet sich in Großrbritannien ab. Auch hier musste erst der Supreme Court eine Beteiligung des Unterhauses in einer Entscheidung bestätigen um der Opposition gegen den Brexit wieder zu ihrer parlamentarischen Stimme zu verhelfen. Auch hier werden, seit dem Brexitvotum, Minderheiten politisch und gesellschaftlich unter Druck gesetzt um sich anuzpassen oder das Land zu verlassen und auch in Großbritannien betreibt ein Teil der Medien massive Hetze gegen Politiker, Intellektuelle, remainer ganz allgemein, die dem neuen nationalistischen Furor nicht zujubeln.
Die Frage die sich daher für Europa aber auch die USA stellt ist daher: Wie kann die Idee der Demokratie auch in Krisenzeiten gegen populistisch-autoritäre und letztendlich antidemokratische Stimmungen verteidigt und zugleich das Vertrauen in die demokratischen Institutionen wiederhergestellt werden?
Populismus und Autoritarismus leben wesentlich von einer unterkomplexen Analyse komplizierter Sachverhalte: es gibt klare Feindbilder (EU, Flüchtlinge, Migranten, Islam…) und es gibt „klare“ Lösungsansätze wie z. B. Austritt aus der EU, Abwehr von Flüchtlingen, Verbot des Koran und einen ebenso „klaren“ Vertreter der angeblichen Volksinteressen: den Populisten. Gefragt nach der Wünsch- und Machbarkeit seiner Vorschläge kommt der autoritäre Populist schnell in politische und intellektuelle Bedrängnis, da er erwartungsgemäß nur über einen Baukasten an Vorurteilen und zumeist Halbwissen verfügt. Hier muß demokratische Politik ansetzen. Populisten müssen inhaltlich gestellt werden, ihre unwahren Tatsachenbehauptungen durch Tatsachen wiederlegt werden und die harte politische Konfrontation mit ihnen gesucht werden. Zum zweiten dürfen die demokratischen Parteien nicht den Fehler begehen den Forderungen der Populisten nachzugeben. Dies bedeutet ein „rat race“ bzw. eine Spirale nach unten. Die Forderungen der Populisten werden im Zweifel immer radikaler sein als die der demokratischen Parteien, nehmen demokratische Parteien diese Forderungen auch nur partiell auf, so werden sich die Populisten bestätigt fühlen und noch radikalere Forderungen stellen, zudem kommt in der Bevölkerung die Nachricht an, dass die Populisten offensichtlich berechtigte Forderungen stellen, da sie ja von den demokratischen Parteien übernommen werden.
Natürlich gibt es berechtigte Ängste und Sorgen in Teilen der Bevölkerung, die sich auch auf Migration, Flüchtlinge, ökonomischen Wohlstand etc beziehen. Diese Sorgen sollten aber niemals zum Maßstab politischen Handelns werden, sondern durch eine kluge, zumeist sozial-ökonomische Politik abgebaut werden.
Die offene Gesellschaft, der liberale Westen wie wir ihn kennen steht vor einer seiner bedeutensten Herausforderungen seit 1945. Er wird jetzt nicht mehr nur von außen in Frage gestellt, sondern aus seiner Mitte heraus wird er angegriffen, von Parteien und Politikern, die genau diese Form der offenen Gesellschaft, des intellektuellen Austauschs und des Freihandels zerstören wollen und die Gesellschaften des Westens wieder in ethnisch homogenisierte und ökonomisch isolierte und somit, im globalen Kontext, politisch einflusslose Staaten verwandeln wollen. Die Lösung für das 21. Jahrhundert kann aber nicht Rückzug hinter die nationalen Deiche sein, sondern sollte eine offensive Verteidigung der liberalen Gesellschaftsordnung und einer sozial gestalteten Globalisierung sein. Die EU ist dafür – trotz Brexit, Trump und Rechtspopulismus – die geeignete Form und Institution, garantiert sie doch, bei allen Problemen en detail, den Europäern seit fast 70 Jahren Frieden, Rechtsstaatlichkeit, Sicherhiet und Wohlstand. Dies sind Werte die man nicht leichtfertig auf dem Altar der neuen Nationalismen opfern darf.