Prof. Dr. Claus Melter
Fachhochschule Bielefeld
In der afrikanisch-europäischen Geschichte war die Berliner Kongo-Konferenz 1884-1885 ein entscheidendes Ereignis, da dort europäische Regierende unter kompletter Abwesenheit und Beteiligung von Regierungsvertretern afrikanischer Länder den afrikanischen Kontinent zu Unterwerfung, Beherrschung und Ausplünderung unter sich aufteilten (vgl. Reed-Anderson 2004). Das deutsche Kolonialreich umfasste zeitweise etwa eine Millionen Quadratkilometer und 12 Millionen Einwohner_innen, in Teilen oder ganz die heutigen Staaten Namibia, Tansania, Togo, Kamerun, Nigeria, Ghana, Ruanda, Burundi, Papua Neuguinea, die Republik der Marshall-Inseln, die Republik Nauru, die nördlichen Marianneninseln, Palau, die Föderierten Staaten von Mikronesien und West-Samoa (vgl. Dietrich/Strohschein 2011: 116-117). Das Prinzip „Alles über uns ohne uns“ fand seinen grausamen Ausdruck auch in dem 1904 bis 1908 im heutigen Namibia von Deutschen an Herero und Nama verübtem Völkermord (was er nach der UN-Völkermordkonvention zweifellos ist; vgl. Zimmerer 2013), der mit Vernichtungsbefehl, Massenmord, Konzentrationslagern und Landraub einherging. Mehr als 100 Jahre danach hat bisher keine deutsche Regierung offiziell die Tatsache des 1904 bis 1908 verübten Völkermordes anerkannt, sich nicht entschuldigt und keine Reparationszahlungen getätigt. Bereits 1904 bis 1908 handelte es sich um Kriegsverbrechen, da Zivilist_innen (Frauen, Kinder, Alte und Verletze ermordet wurden) getötet wurden, planmäßig und absichtsvoll (vgl. Anderson 2005). Die Herero und Nama standen damals im sogenannten Deutsch-Südwestafrika laut der abgeschlossenen Verträge auf der Berliner Konferenz unter dem „Schutz“ des deutschen Kaiserreiches (Paragraph 6 der Togo-Akte von 1885). In den von Deutschland beherrschten Kolonien galten seit 1907 „Eingeborenenverordnungen“: eine Privilegierung der Europäer_innen, der Deutschen, gegenüber der systematischen Entrechtung der Kolonialisierten.
Moralisch, sozial und materiell wirken Kolonialismus und Völkermord auch in die Gegenwart, durch die nicht ermöglichte Trauer um die Verstorbenen (Schädel und Knochen der ermordeten Herero und Nama wurden aus rassistischen Forschungsinteressen nach Deutschland gebracht und befinden sich zum Teil immer noch in Freiburg und Berlin, wurden immer noch nicht zurück gebracht, um bestattet zu werden; vgl. Riruako 2011; Frederick 2011) und durch die Tatsache, dass etwa 80 Prozentes des damaligen Landes der Herero und Nama aktuell im Besitz der Nachfahren der Kolonialmächte sind (vgl. Kaunatjike 2015). Nach vielen Protesten und Verhandlungsangeboten haben die vielfach unangemessen behandelten Herero und Nama Anfang 2017 Klage in New York eingereicht wo Deutschland wegen des Völkermordes und der Landenteignung angeklagt wird (Riruako/ Frederiks u.a. 2017). Da Nachfahren der Herero und Nama in den USA leben, ist dort eine Klageerhebung möglich (vgl. Junge Welt 06.01.2017).
Das Prinzip der durch Deutsche ausgeübten Verletzung des demokratischen Selbst- und Mitbestimmungs-Prinzipien gegenüber den Herero und Nama findet seinen aktuellen Niederschlag darin, dass die demokratisch gewählten politischen Vertreter_innen der Herero und Nama nicht an den Verhandlungen der namibischen und deutschen Regierung über Anerkennung des Völkermordes, Entschuldigung und Reparationen beteiligt sind. Das Prinzip des „Nicht(s) über uns ohne uns!“ wird in Fragen von Kolonialismus, Rassismus und Migration vielfältig missachtet. So wird im Deutschen Historischen Museum in Berlin von Oktober 206 bis Mai 2017 eine Sonderausstellung zu deutschem Kolonialismus ausgestellt. Diese interessante Ausstellung, die gegenüber den Herero und Nama klar von Völkermord spricht und auch die genozidalen Praxen gegenüber den Maji Maji im heutigen Tanzania anspricht (Politik der verbrannten Erde, der etwa 200.000 Menschen aus Tanzania zum Opfer fielen) benennt, enthält keine Augenzeugenberichte von Herero und Nama oder von Maji Maji zu den Völkermorden. Diese sind jedoch vorhanden und auch veröffentlicht (vgl. u.a. Witbooi 1996; Drechlser 1985; Bridgman/ Woerley 2004).
Die Forderung „Nichts über uns ohne uns!“ ist eine Gegenwehr angesichts der Tatsache, dass historisch und aktuell bestimmte Gruppen systematisch in ihren Erfahrungen, Rechten und Positionen übergangen werden. Symptomatisch ist aktuell der Nicht-Einbezug von geflüchteten Personen in Konferenzen, Sitzungen und „Flüchtlingsgipfeln“ in Belangen, in denen es um die Lebenssituation und (Aufenthalts-)Rechte dieser Personen geht (kritisch dazu: Rex Osa 2015). „Weiße“ Deutsche entscheiden über Menschen afrikanischer Herkunft ohne Berücksichtigung von Selbst- und Mitbestimmungs-Rechten – seit der Berliner Kongo-Konferenz bis heute. Gerahmt ist dies durch „Rasse“-Konstruktionen, die Ideologie zivilisatorischer Überlegenheit und eine angeblich „natürliche Hierarchie“ konstruierter Menschengruppen. Diese wurden verwandt, um Ausbeutung, Vertreibung und Morde vermeintlich zu rechtfertigen. Befürwortet und verwirklicht wurden die Vorstellungen europäischer Überlegenheit und Bevorrechtigung im Kolonialismus durch Politiker_innen, Händler_innen, Missionierenden und rassistisch argumentierenden Philosophen wie Kant und Hegel (vgl. Hund 2007; Brumlik 2015). Historisch wurde die rassistische Konstruktion von Menschengruppen stets auch von entsprechenden Gesetzgebungen gerahmt (vgl. Melter 2016). Gemäß dem antiken Teile- und Herrsche-Prinzip wurden und werden Gruppen konstruiert, zueinander in Konkurrenz gesetzt und einige Gruppen sollten zum Schweigen gebracht werden, da sie als nicht mitspracheberechtigt angesehen wurden. Wie Paul Gilroy (1993) in seinem Buch „The Black Atlantic“ beschreibt, gab es jedoch immer auch antikolonialen Widerstand in Form von Fluchtversuchen, Meutereien, offenen Aufständen, Sabotage oder Widerworten und widerständigen Erzählungen des Überlebens und Widerstehens gegen rassistische Unterwerfungspraxen, Arbeitszwang und Demütigung. Auch im heutigen Namibia gab es individuelle und kollektive Widerstandspraxen, u.a. von Samuel Maherero, Hendrik Witbooi und Jakob Morenga angeführt (vgl. Witbooi 1996, Drechsler 1985). Somit zeigt sich die Notwendigkeit, Erinnerungs-, sowie Selbst- und Mitbestimmungsfragen als Konfliktverhältnis zwischen diskriminierten und dominanten Gruppen zu verstehen und gleiche Mitbestimmungsrechte für alle einzufordern. Es bedarf historischer und aktueller Analysen, um die Wurzeln aktueller (auch pädagogischer) Logiken und Praxen der Entrechtung, Gewalt, pädagogischen Anpassung gegenüber den als „anders“ hergestellten Personengruppen beschreiben, kritisieren und verändern zu können. “Nichts über uns ohne uns!” Dieses demokratische Prinzip muss für alle gelten.
Literatur
Anderson, Rachel (2005): Redressing Colonial Genocide under International Law: The Hereros’ Cause of Action against Germany. California Law Review Volume 93, S. 1155-1190
Bridgman, Jon/Woerley, Lesley J. (2004): Genocide of the Hereros. In: Totten, Samuel/ Parsons, S. William/ Charny, W. Israel (Hrsg.)): Century of Genocide: Critical Essays and Eyewithness Accounts. New York/ Oxon: Routledge, S. 15-51
Brumlik, Micha (2014): „Normative Grundlagen der Rassismuskritik“. In: Broden, Anne; Mecheril, Paul (Hg.): Solidarität in der Migrationsgesellschaft. Befragung einer normativen Grundlage. Bielefeld S. 23–36
Dietrich, Anette/Strohschein, Juliane (2011): Kolonialismus. In: Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard (Hrsg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache, Münster, S. 114-120.
Drechsler, Horst (1985): Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft : der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus 1884-1915, Berlin : Akademie Verlag
Frederick, David (2011): ADDRESS OF CHIEF FREDERICKS AT HANDOVER OF SKULLS. 30 SEPTEMBER 2011. Berlin
Gilroy, Paul (1993): The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. Cambridge.
Hund, Wulf D. (2007): Rassismus. Bielefeld: transcript
Kaunatjike, Israel (09.07.2015): Herero-Nachfahre Israel Kaunatjike zu den Verbrechen. Deutsche Welle. Berlin. Zu finden unter: http://www.dw.com/de/herero-nachfahre-israel-kaunatjike-zu-den-verbrechen/av-18573416 (recherchedatum 21.01.2017)
Kilomba, Grada (2008): Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism. Münster: Unrast.
Melter, Claus (2016): Koloniale, nationalsozialistische und aktuelle rassistische Kontinuitäten in Gesetzgebung und der Polizei am Beispiel von Schwarzen Deutschen, Roma und Sinti Erscheint in: Fereidooni, Karim/ El, Meral (Hrsg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen. (Inter)national vergleichende Formen von Rassismus und Widerstand, Wiesbaden, S. 589-612
Osa, Rex (2015): Flüchtlinge sind keine Babys”: Es braucht Solidarität und Räume statt alter Kleider. Radio Dreyeckland. Sendung April 2015. Freiburg im Breisgau. 22.10.2015. Zu finden unter: https://rdl.de/beitrag/fl-chtlinge-sind-keine-babys-es-braucht-solidarit-t-und-r-ume-statt-alter-kleider (Recherchedatum 21.01.2017)
Reed-Anderson, Paulette (2004): „’Ein Platz an der afrikanischen Sonne’ – Deutsche Hegemonie auf dem afrikanischen Kontinent“. In: AntiDiskriminierungsBüro Köln/cyberNomads (Hrsg.): The BlackBook. Deutschlands Häutungen. Frankfurt am Main: IKO, S. 41-49.
Riruako, Kuiama (30.09.2011): Statement of Hon. Dr. Kuiamo Riruako. Paramount Chief of the Ovaherero. Berlin
RUKORO, VEKUII Paramount Chief of the Ovaherero People and Representative of the Ovaherero Traditional Authority/ FREDERICK, DAVID Chief and Chairman of the Nama Traditional Authorities Association/ THE ASSOCIATION OF THE OVAHERERO GENOCIDE IN THE USA INC.; and BARNABAS VERAA KATUUO (05.01.2017): CLASS ACTION COMPLAINT against Federal Republic of Germany. Klage eingereicht durch Kanzlei McCALLION & ASSOCIATES LLP. New York
Witbooi, Hendrik (1996): The Hendrik Witbooi Papers. Windhoek. Annotations Brigitte Lau. Nationalarchiv Namibia. 2. Auflage
Zimmerer, Jürgen (2011): Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust. Berlin